Mein Freund, der Traktorist

Als Radfahrer fühle ich mich rundherum vollständig. Die praktischen Fragen (Schlafplatz, Trinkwasser, Essen, Revierkämpfe mit verwilderten Hunden und Maulwürfen) lösen sich irgendwie nebenbei. Verdursten kann ich nicht, mehr als vierzig Kilometer sind es selten von Dorf zu Dorf.
Sehr nützlich war die Erfahrung im Wolga-Don-Becken, als ich mich in der Steppe verfahren hatte und dreißig Kilometer im Kreis gefahren war, nach- dem ich die Warnungen einiger Verkäuferinnen missachtet hatte. Was der Körper, und zwar spielerisch, leisten kann, ist wirklich beeindruckend. Immerhin bin ich keine zwanzig mehr, aber es kommt mir so vor, als ob die Erfahrung tatsächlich eine klügere Einteilung der Kräfte ermöglicht. Dass ich zweihundert Kilometer am Tag fahren kann, ohne nennenswerten Schmerzen, ohne Zwang zur Selbstüberwindung – puh, was soll ich sagen.

Anwandlungen von Verachtung sind mir nicht fremd. Ich verachte mich für die kranke Lebensweise am Schreibtisch: sitzen, auf den Bildschirm gucken … wie Millionen andere Büroarbeiter auch. Neun Monate träges, faules Buchstabenleben, dann innerhalb von zwei Wochen zum Beinahe-Leistungssport, das kostet aber nur etwas innere Überwindung, etwas Wagemut und Selbstvertrauen. (Jack London hat es im Roman „Burning daylight“ beschrieben.)
Hätte ich solch eine Arbeit wie dieser Traktorist, wäre ich kein Langzeit-Radfahrer geworden. Ihn fragt niemand, was er Interessantes erlebt, oder wie er es schafft, Tag für Tag seine dreckige, harte Arbeit zu tun. Glück ist, allein zu sein und keine Pflichten zu haben und sich ganz dem Kino im Kopf hingeben zu können – und dabei manchmal auch noch brauchbare Formulierungen zu hören, also diese Art von Freiheit als Arbeit bezeichnen zu dürfen. Ich bin ein Pilger auf Gummireifen, ich suche die Spitze der Nadel, die auf den Mittelpunkt Europas weist.

Themen: Tour de Wolga

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