Wieder zur Wolga (4)

1.Etappe geschafft, nach 1780 Kilometern und 14 Tagen in Tynivka angekommen. Der Fuss hat sich doch merkwurdig verhalten – so lange ich in gleichmaessiger Bewegung trete, tut er kaum weh; sobald ich ihn aber zur Seite strecke oder gar einige Schritte laufe, schmerzt er wieder. Und immer nur aussen, wo die verdammte Metallschiene sitzt, ich haette sie doch vor der Reise entfernen lassen sollen.
Dabei bin ich diesmal ziemlich vorsichtig gefahren, die meisten steilen Anstiege habe ich das Rad geschoben, was natuerlich entsprechend langweilig ist, vor allem in der zentralen Ukraine, wo ja kaum ebene Strecken zu finden sind, sondern es immer wieder „na goru, pad goru“ geht, bergauf, bergab.

Spass haben mir die Tiere im Wald bereitet, schon in Polen, wo eine Horde Wildschweine ums Zelt tanzte. Wenn ich laut hustete, entfernte sich die Gesellschaft, aber einem Keiler gefiel es, auf das Zelt zuzustuermen und schnaubend davor stehen zu bleiben, wieder zurueck zu laufen etc. Seltsamerweise ist die Gesellschaft dann geflohen, als ein Fuchs auftauchte, obwohl dieses kleine, wendige Tier doch den Schweinen kaum gefaehrllich werden kann.
Wirklich wuetend ueber meine Anwesenheit scheinen immer wieder die Hirsche zu sein, sie bellen und schlagen die Hufe auf den Boden, so dass das Zelt erzittert.
Gluecklicherweise habe ich keine einzige Zecke gesehen, mein eigentliches Angsttier.

Ach ja, und die Menschen. Interessant sind immer wieder die Reaktionen, wenn ich die Leute bitte, Russisch zu sprechen, da ich Ukrainisch kaum verstehe. Ukrainisch, um das den Sprachforschern und Politabenteuerern einmal zu sagen, wird zumeist auf dem Land gesprochen, in den grossen Staedten aber ueberwiegend Russisch. Die ueber Vierzigjaehrigen haben Russisch ja alle in der Schule gelernt, und selbst die Kinder verstehen diese Sprache. Ein zehnjaehriger aserbaidschanischer Junge sprach sogar Polnisch mit mir, weil ihm die Mutter gesagt hatte, dass ich bestimmt ein Pole sei.

Das haeufigste Thema ueber das man mit mir redet, ist natuerlich die miese soziale Lage. Mit hundert Euro Rente und einem Durchschnittslohn von zweihundert Euro kann man eben kaum ueberleben. So werden viele geschaeftliche Aktivitaeten, zum Beispiel der Tauschhandel, gar nicht von staatlichen Kontrollen erfasst, von keiner Statistik.
In einem Interview, um das mich Deutschlandradio Kultur bat, wurde ich gefragt, ob denn die Fussball-EM zu einem wirtschaftlichen Aufschwung fuehren werde. Ja, glaubt man denn wirklich, dass die Schweine schneller wachsen, wenn irgendwo Fussball gespielt wird? Hier in Tynivka (180 km suedlich von Kiev) hat es seit einem Monat nicht geregnet, Wasser vom Himmel also koennte zu besserer Stimmung fuehren.
Die grossen oekonomischen Gewinner der Fussball-EM sind ohnehin die Mafia, die internationale Sportindustrie und die deutschen Rentner. Letztere, weil jeder vierte hier erwirtschaftete / ergaunerte Euro ins marode westliche Finanzsystem fliesst, Kapitalwanderung nennt man das.

Themen: Tour de Wolga

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