Wie provinziell ist die russische Provinz?

Stefan Meister, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik in Berlin, sagte in einem Interview bei Spiegel-Online: „Putins Wählerpotential, die Bürger vom Land und aus den Städten der Provinz, lehnen eine vermeintliche ‚Verwestlichung‘ Russlands tendenziell ab“.

Nach dem Lesen dieses Satzes habe ich laut gelacht. Ich dachte an den Prospekt Kirowa in Saratow, wo McDonalds, Mango, Yves Rocher und Dutzende andere westliche Marken ihre Filialen haben; an den Stadtpark, wo man alle paar Meter Coca Cola kaufen kann, aber nach dem Nationalgetränk Kwas lange suchen muss, obwohl es den Durst viel besser löscht.

Ich überlegte: Welche der Menschen, die ich in Saratow kenne, würden eine „weitere Verwestlichung“ nicht wünschen. Wahrscheinlich keiner, obwohl alle wissen, dass diese Frage nur aus einem Märchen stammen kann.

Ich dachte an die Begeisterung, mit der meine Kollegin, die Bibliotheksleiterin, von einer Studienreise nach Amsterdam berichtete, wo sie eine Bibliothek besuchte, die man mit dem Boot erreichen, in der man im Liegen lesen und natürlich mit dem Internet kostenfrei arbeiten kann.
Auch Pensionäre würden sich über griechische Renten freuen. Westliche Preise hat man ja schon.

Meine Künstlerfreunde wären froh über Fahrradwege, von staatlichen Stipendien und Zuschüssen für Ateliers ganz zu schweigen. Die Freunde von der Polizei wären froh über noch mehr westliche Technik und auch über westliches Recht und vor allem darüber, dass sich das Recht nicht jede Saison ändert.

Alle Kranken wären erleichtert, wenn die Krankenhäuser weiter verwestlicht werden könnten. Auch die Medizinstudenten aus afrikanischen und westlichen Ländern wären darüber nicht unglücklich.

Alle Teilnehmer am öffentlichen Verkehr, die Fahrgäste in den Bussen ebenso wie die Autofahrer und die Fußgänger wären überglücklich, wenn alles so wie im Westen funktionieren würde. Viele Bewohner von Mietshäusern träumen von „evro remont“.

Die Blumen- und Obst- und Milchverkäuferinnen auf dem Zirkusplatz würden sich wahrscheinlich über weniger Verwestlichung freuen, seit am Rande des Platzes ein haushoher Bildschirm aufgebaut wurde, der in Sirenen-Lautstärke Reklamefilme abspielt für Produkte wie Joghurt von der Alm oder Feuchtigkeitscreme aus Paris. So laut und dumm waren die Propagandafilme früher nicht, seufzen die Großmütter.

Was ist heute nicht verwestlicht in Russlands Provinzen? Vielleicht die Sitten und Bräuche? Oder die politischen Ansichten der Bürger, wie der Russland-Experte meint?

Themen: Russland - Ukraine

Kommentare

  • Honigdachs-Galerie

  • Themen