Taxifahrer in Kiew

Der Taxifahrer vorm Bahnhof antwortet auf meine Frage nach dem Preis bis zum Sportpalast: „Alles nach dem Gesetz. Alles wird gezählt.“
Und er zeigt auf rote Zahlen hinter dem Lenkrad.
Gut, rattert es durch mein Gehirn, neue Kultur in Kiew, kein Betrug mehr möglich. Außerdem telefoniere ich nebenbei, blien, nur halbe Aufmerksamkeit.
Wir fahren einige Meter, da beginnt der Taxifahrer zu schimpfen: „Sehen Sie die neue Polizei, wie sie dem Abgeordneten helfen?“
Er muss einem Polizeiauto Vorfahrt gewähren. Dahinter fährt ein teurer Jeep, offenbar vermutet er darin den Abgeordneten.
„Niemand arbeitet in diesem Land ehrlich“, schimpft der Fahrer weiter. Er bekomme eine Rente von 1200 Griwen, wie könne man damit überleben? Das kann man natürlich nicht.
„Warum war ich bloß auf dem Maidan, wenn nichts besser geworden ist?“, frage ich.
„Ich war auch auf dem Maidan, wir waren alle auf dem Maidan. Die Bande musste weg!“
Er vermutet aufgrund meines Akzentes, ich sei Bulgare. Als ich ihn aufkläre, stimmt er ein Loblied auf Deutschland an.
„Bei Ihnen wird das Gesetz geachtet, richtig? Gesetz ist Gesetz, immer und überall. Die Deutschen sind ein kultiviertes Volk. Einer meiner Freunde lebt in Deutschland, ein anderer in Polen, einer in Spanien, alle sind zufrieden.“
Sein Telefon klingelt. Er begrüßt einen Kolja, nennt ihn Bruder, also ist er wohl ein Freund. Kolja ruft offenbar aus Moskau an. Der Taxifahrer erklärt, dass er bei früheren Anrufen beschäftigt gewesen sei, er müsse ja arbeiten, wie Kolja wisse. Er bedankt sich für Koljas Einladung, nennt ihn wieder Bruder und Freund.
Nach dem Gespräch erklärt er, er habe vor vierzig Jahren mit Kolja zusammen als Matrose auf einem Schiff gedient. Auch ein Kasache und ein Tatare gehörten noch zu diesem Freundschaftsbund. Niemand habe früher nach der Nationalität gefragt.
„Alles entwickelt sich falsch. Früher kostete der Dollar acht Griwen, jetzt siebenundzwanzig.“
„Das ist nur ein Parameter. Gibt es noch andere Faktoren? Der Krieg kostet auch Geld. Glauben Sie, dass es ohne Maidan heute besser wäre?“
Er schimpft wieder über die Parasiten und Oligarchen. Er sei kein Politologe, doch Betrug können er erkennen.
Nach etwa fünfzehn Minuten sind wir am Ziel, die Hälfte der Zeit haben wir im Stau verbracht.
Ich hatte mehrmals auf alle angezeigten Zahlen gesehen, aber welche den Preis der die Entfernung darstellen sollte, begriff ich nicht. Sechsundzwanzig Komma fünf wäre die größte, sollte das der Grundpreis sein, ein Euro? Bisschen wenig, oder?
Ich halte ihm hundert Griwen hin.
Er sagt, der Preis betrage einhundertachtzig Griwen.
„Einhundertachtzig? Warum?“
Er zeigt auf eine kleine rote Zahl, achtzehn Komma zwei. Wir seien achtzehn Kilometer gefahren, jeder Kilometer koste zehn Griwen. Er zeigt mir eine Tabelle, eingeschweißt in eine Folie, mit den Stadt- und Nachttarifen von Kiew.
Da ich Kiew ja auch als Radfahrer kenne, weiß ich allerdings, dass die Angabe achtzehn Kilometer kompletter Blödsinn ist. Nach achtzehn Kilometern wären wir schon außerhalb der Stadt gewesen.
„Es ist offenbar ein geografisches Phänomen“, sage ich. „Lassen Sie uns einen Passanten oder einen neuen Polizisten fragen, wie viele Kilometer es von hier, vom Sportpalast, bis zum Bahnhof sind.“
Er behauptet weiterhin, wir seien achtzehn Kilometer gefahren und schlägt vor, zum Bahnhof zu fahren und dort nach der Entfernung zu fragen. Er will sich tatsächlich wieder in den Verkehr einreihen.
Ich muss lachen.
„Hier ist mein Ziel, halten Sie! Wissen Sie, ich bin auch ein deutscher Journalist, ich könnte eine interessante Reportage schreiben, Sie helfen mir. Sie sagten doch, niemand arbeite in diesem Land ehrlich.“
Er stoppt, wirft mir die hundert Griwen auf den Schoss und schreit: „Verlassen Sie mein Auto!“
Er öffnet mir sogar die Beifahrertür.
Auch keine schlechte Lösung, denke ich.
Als ich auf Fußweg stehe, schreit er: „Alle Deutschen sind geizig! Aber Sie sind ein Faschist!“
Meinetwegen. Vielleicht hätte ich ihm sogar 180 Griwen gegeben, aber ich fühlte mich in meiner Ehre als Radfahrer gekränkt. Das konnte er natürlich wissen. Außerdem hatte er den Fehler begangen, gleich am Anfang zu behaupten, niemand arbeite ehrlich. Wenn alle Menschen Lügner sind, dann natürlich er auch. Außerdem kenne ich Ukrainer, die ehrlich arbeiten.
Die Entfernung zwischen Bahnhof und Sportpalast beträgt übrigens knapp 4 km.

August 2015

Themen: Russland - Ukraine

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