Wie Kafka Romancier wurde

siehe auch: http://www.kafkaesk.de/106.html

„Akzente“, München, 5/98:

In seinen Tagebüchern bezeichnet Kafka seine Erzählung „Der Heizer“, gleichzeitig das erste Kapitel seines „Amerika“-Romans, als „glatte Dickens-Nachahmung“. Auf den Roman bezogen notiert er: „Meine Absicht war, wie ich jetzt sehe, einen Dickens-Roman zu schreiben, nur bereichert um die schärferen Lichter, die ich der Zeit entnommen, und die matten, die ich aus mir selbst aufgesteckt hätte.“
Über seinen berühmtesten und in seinem prognostischen Gehalt stärksten Roman, „Der Process“ , ist eine vergleichbare Bemerkung nicht überliefert. Doch das Werk enthält in seiner bekannten Form die Variation eines gänzlich anderen Romans. Kafka hat den „Process“ zweistimmig komponiert. Josef K., der unglückliche Held des Romans, der in seiner Kindlichkeit und in seiner naiven Empörung die harten Regeln des Gerichts verkennt, hat einen heimlichen Doppelgänger, wie Dr. Jekyll den Mr. Hyde.
Jener Unbekannte trägt einen berühmten Namen, den Kafka an keiner Stelle seines Manuskripts erwähnt. Und doch wird Josef K. begleitet von einer literarischen Figur, die oft das gleiche sagt wie K., die oft die gleichen Ängste und die gleichen Hoffnungen hat. Wo Josef K. „das alles bis zum Überdruss bekannte“ nicht mehr hören mag, ruft jene andere Figur: „Ich bin des Ganzen überdrüssig …“ Wo bei Kafka „in der Ecke … bei einem kleinen Tischchen“ der Kanzleidirektor sitzt, sitzt in dem zitierten Roman das Pendant dieses Herrn „in einer Ecke auf einem Stuhle“. Und in beiden Büchern heißt es wörtlich, dass die „Anwesenheit“ dieser Herren die Protagonisten verstört.
Die literarische Folie, auf die Kafka sich bezieht, zählt zu den klassischen Romanen des 19. Jahrhunderts. Kafka hat den „Process“ mit „Schuld und Sühne“ von F.M. Dostojewskij in zahlreichen Details motivisch verknüpft. Im ganzen sind es neun (!) Figuren aus dem „Process“, die mit „Rodion Raskolnikoff“, wie der Titel der 1908 erschienen und von Kafka gelesenen Ausgabe lautet, Übereinstimmungen aufweisen.
Josef K. tritt in einer Raskolnikoff derart verwandten Weise auf, das von keiner zufälligen Überschneidung zweier Gerichtsromane mehr gesprochen werden kann. Kafka hat vielmehr mit den Erlebnissen Josef K.’s das Extrakt der Schuld gestaltet, die Raskolnikoff auf sich gezogen hat. Josef K. durchlebt in aller Unschuld die Geschichte eines Mörders, ohne einen Mord begangen zu haben. Der Anlass für K.’s Verhaftung liegt außerhalb des Romans.
„Der Process“ kann daher sehr zutreffend als „Strafphantasie“ bezeichnet werden. Aber für Kafka bezog sich die Strafphantasie nicht nur auf sein gescheitertes Verlöbnis, das in der Regel als Hintergrundstoff für den Roman genannt wird und bei dessen Auflösung er sich wie vor ein Gericht gestellt fühlte.

„Der Process“ beginnt im Zimmer von Josef K. Der zweite Satz des Romans lautet: „Die Köchin der Frau Grubach, seiner Zimmervermieterin, die ihm jeden Morgen gegen acht Uhr früh das Frühstück brachte, kam diesmal nicht.“
Dostojewskijs Roman beginnt, indem Raskolnikoff sein Zimmer verlässt. Auch Raskolnikoff lebt bei einer Zimmervermieterin, der eine Köchin zu Diensten ist, welche ihm einige Male das Essen bringen wird. Als Raskolnikoff, im Bett liegend, seinen ersten Morgen im Roman erlebt, heißt es: „Die Hauswirtin hatte schon vor zwei Wochen aufgehört, ihm Essen bringen zu lassen, und es war ihm bisher noch nicht eingefallen, hinzugehen und mit ihr darüber zu sprechen, obgleich er ohne Essen dasaß.“
Das ausbleibende Essen zeigt beide Helden in einer Distanz zu ihren vertrauten Gewohnheiten; bei Josef K. ist es die Verhaftung, die diese Distanz bewirkt, bei Raskolnikoff dessen Armut – er kann die Miete nicht bezahlen, infolgedessen erhält er auch kein Frühstück.
Raskolnikoff sucht eine Handvoll Kupfergeld hervor und beauftragt die Köchin und Magd Nastasja, ihm Brötchen und Wurst zu kaufen. Auch K. verlangt, dass ihm Essen gebracht werde: „Anna soll mir das Frühstück bringen“.
Einander entgegengesetzt ist anfangs die Beziehung der Helden zu ihren Zimmervermieterinnen – Raskolnikoff sucht eine Begegnung mit Frau Sarnizyna zu vermeiden, während Frau Grubach K. aus dem Wege geht. Kafka hat die Antipathien einer Rochade unterzogen.
Mit diesem Auftakt ist die motivische Verwandtschaft beider Romane gesetzt: die Reihung der Figuren (Zimmervermieterin / Köchin / Raskolnikoff – Josef K.) ist die gleiche, die Situationen überschneiden oder ähneln sich.
Josef K. wird an jenem Morgen verhaftet, „ohne dass er etwas Böses getan hätte“. Auch zu keinem späteren Zeitpunkt kann das Gericht irgendeine konkrete Schuld K.’s benennen. Zudem wird er nach Verhaftung nicht etwa in ein Gefängnis eingeliefert, er kann seiner Arbeit nachgehen, er wird nicht wirklich bewacht. Selbst zu der ersten Untersuchung seines Falles geht er im Grunde freiwillig, auch wenn es heißt, „dass er bestimmt erscheinen müsse“. Das alles passiert „in einem Rechtsstaat, überall herrschte Friede, alle Gesetze bestanden aufrecht“, sichere Regeln sind dennoch nirgends zu finden. „… man konnte … das ganze als einen Spass ansehn, als einen groben Spass“, versucht sich K. während der Verhaftung zu beruhigen.
Raskolnikoff sucht währenddessen den späteren Ort seines Verbrechens auf, die Wohnung der Wucherin Aljona Iwanowna und deren schwachsinniger Schwester Lisaweta. Am übernächsten Tag wird er die beiden Frauen mit dem Beil erschlagen. Verhaftet wird er deswegen nicht, denn niemandem außer dem Leser und ihm selbst ist die Tat bekannt. Auch Raskolnikoff lebt, folgt man dem Eindruck des Romans und nicht den historisch relevanten Gegebenheiten, wie in einem Rechtsstaat; er wird am Tag nach dem Doppelmord zur Polizei bestellt, einer ordentlich und verläßlich arbeitenden Behörde, die ihn seiner Mietschulden wegen vorlädt. Auf der Polizeiwache setzt der Verdacht ein, dem Raskolnikoff künftig ausgesetzt sein wird. Denn gerade in jenem Augenblick, da von dem Mord die Rede ist, fällt er in Ohnmacht. Er redet im Fieber, er vermag die Schulderklärung nicht zu schreiben, und er gesteht, zur Tatzeit aus dem Haus gegangen zu sein.
Raskolnikoff verhält sich also verdächtig und es geschieht ihm nichts, während der unscheinbar lebende Josef K. gleich verhaftet und einem Gerichtsverfahren unterworfen wird. Man könnte diesen Gegensatz zurückführen auf den Charakter des Kriminalromans, den Dostojewskij bedient, Kafka aber unterläuft. Dostojewskij lässt den Leser teilhaben an der Aufdeckung eines Verbrechens; Kafka parodiert sowohl die Aufdeckung als auch das Verbrechen, indem Josef K. nichts strafrechtlich Relevantes getan hat, sein Fall wie ein solches Vergehen aber behandelt wird.
In „Rodion Raskolnikoff“ jedoch nimmt der Untersuchungsrichter Porphyri den Blick auf Josef K. vorweg oder, anders ausgedrückt, Kafka nutzt dessen Perspektive für den „Process“.
Aus der Sicht Porphyris, der den Doppelmord untersucht, ist Raskolnikoff unschuldig. Alle Verdachtsmomente, die Raskolnikoff erzeugt – die Betroffenheit über den Mord, die Verteidigung des Mordes durch eine Theorie – liessen sich auch mit seiner Krankheit, seinem hohem Fieber erklären, der besonderen Empfänglichkeit für phantastische Eindrücke in einem solche Zustand. Porphyri und Raskolnikoff greifen denn auch immer wieder auf diese Erklärung zurück.
Porphyri aber scheint oft gar nicht wissen zu wollen, ob Raskolnikoff der Mörder ist. Er betreibt die Untersuchung des Mordes wie eine Liebhaberei, wie ein eigentlich zweckfreies Vergnügen. Zudem hat er bis zum Ende des Untersuchungsverfahrens nicht einen einzigen Beweis für Raskolnikoffs Schuld. Er ist auf Spekulationen angewiesen, selbst von Indizien zu sprechen, wäre übertrieben. Diese Konstellation erhöht den Druck des Gewissens auf Raskolnikoff. Mit allgemeinen prozessualen Gepflogenheiten wäre sie nicht zu erklären, denn auch ein russischer Untersuchungsrichter des 19. Jahrhunderts benötigte mehr als Vermutungen, um einen Mörder der Tat zu überführen. Je schwieriger der juristische Nachweis der Schuld, desto stärker bleibt der Täter allein mit ihr.
Im „Process“ ist von einer juristisch verifizierbaren Schuld gleich gar keine Rede. Es bleibt Josef K. überlassen, den Anlass des Verfahrens zu suchen. „Er wollte … eine kurze Lebensbeschreibung vorlegen und bei jedem irgendwie wichtigern Ereignis erklären, aus welchen Gründen er so gehandelt hatte, ob diese Handlungsweise nach seinem gegenwärtigen Urteil zu verwerfen oder zu billigen war und welche Gründe er für dieses oder jenes anführen konnte.“
Raskolnikoff ist zu sehr überzeugt von der Berechtigung seines Handelns, von der Berechtigung, einen Mord begehen zu dürfen, als dass er sich einer solchen Selbstüberprüfung unterziehen würde, doch auch er wird am Ende des Romans von Porphyri aufgefordert, seine Schuld ohne Hilfe des Gerichts zu gestehen. Beide Helden sollen de facto das Versagen der Justiz durch eine Bereitschaft zur Selbstanzeige ausgleichen. Jedoch hat Raskolnikoff eine Tat zu verbergen, während Josef K. nicht weiß, was er verbergen soll.

Porphyri und Raskolnikoff lernen einander privat kennen. Raskolnikoffs Freund Rasumichin ist ein Verwandter des Untersuchungsrichters, er vermittelt die Bekanntschaft zwischen beiden.
Kafka hat im „Process“ die Stellung dieser Figuren mit einer leichten Variation übernommen – eine List, die ihn sehr vergnügt haben muss. Denn Josef K. wird von seinem Onkel dem Advokaten Huld vorgestellt. Der Advokat ist ein Freund des Onkels.
Bei Dostojewskij führt die Linie zwischen dem Delinquenten und dessen wichtigstem Gegenspieler von der Freundschaft zur Verwandtschaft, bei Kafka von der Verwandtschaft zur Freundschaft. Aus Raskolnikoff – Rasumichin (Freund) – Porphyri (Verwandter) sind Josef K. – der Onkel – Advokat (Freund) geworden. Zwar haben Porphyri als Untersuchungsrichter und der Advokat als Verteidiger unterschiedliche Aufgaben, doch erfüllen beide sie in einer merkwürdig verkehrten Weise, womit sie sich eben auch gleichen. Porphyri tritt auch als Verteidiger Raskolnikoffs auf, der Advokat aber, als wäre er Teil der Anklage.
Wichtig ist der Zeitpunkt des Kennenlernens. Raskolnikoff weiß, dass er den Verdacht der Untersuchungsbehörde auf sich gezogen hat, als er Rasumichin bittet, ihn mit Porphyri bekannt zu machen. Rasumichin hat ihm erzählt, dass Porphyri alle Schuldner der ermordeten Pfandleiherin verhören wird, zu denen Raskolnikoff zählt. Raskolnikoff unternimmt ausgerechnet, indem er den Untersuchungsrichter aufsucht, zum ersten Mal etwas für seine Verteidigung. Er geht freiwillig zu dem Mann, der ihn als Mörder überführen soll. Er möchte Porphyri gegenüber auf seine Armut hinweisen, die es ihm nicht einmal erlaubt, die verpfändete Uhr seines verstorbenen Vaters einzulösen; der Mörder und im Besitz der Beute kann er demnach nicht sein.
Auch das Verfahren gegen Josef K. hat schon begonnen, er hat die erste Untersuchung bereits überstanden, als plötzlich der Onkel ihn besucht und zum Advokaten führt. K. ist allein gar nicht auf den Gedanken gekommen, sich einen Verteidiger zu nehmen.
Der Onkel sagt zu Josef K.: „Ich … (sah) die Sache von deiner Gleichgültigkeit gefährdet und (hielt) es für besser, wenn ich statt deiner für dich arbeitete“. Den gleichen Satz könnte Rasumichin äußern. Er hat für Raskolnikoff gearbeitet, indem er dessen Leumund verteidigte, sich sogar für ihn prügelte, als er in Abwesenheit des Mordes verdächtigt wird.
Rasumichin sagt: „Gehen wir gleich; es ist zwei Schritte von hier; wir treffen ihn bestimmt an!“ – Porphyri nämlich. – „… das Wichtigste ist jetzt, keine Zeit zu verlieren“, meint der Onkel, als er mit Josef K. zum Advokaten aufbricht.
Bei Dostojewskij ist es „ein graues Haus“, bei Kafka „ein dunkles Haus“, das die Figurenpaare betreten. Die Begegnungen finden in den Wohnungen des Advokaten bzw. Untersuchungsrichters statt.
Porphyri, Beamter des russischen Staates, empfängt die Besucher „in einem Schlafrock … und in abgetretenen Pantoffeln“. Josef K. und dem Onkel flüstert ein „Herr im Schlafrock“ bei Betreten der Wohnung zu, der Advokat sei krank.
Im Zimmer Porphyris ist gerade der Schriftführer im Polizeirevier, Sametoff, anwesend, was insofern erstaunt, als sich Porphyri und Sametoff bis zum Abend zuvor nicht gekannt haben. Sametoff sitzt „in einer Ecke auf einem Stuhle“. Kafkas Advokat hat „gerade jetzt einen lieben Besuch“, ein „Herr Kanzleidirektor“ sitzt „dort in der Ecke … bei einem kleinen Tischchen“. Der Unterschied zwischen diesem Beruf und dem eines Schriftführers ist nicht allzu groß.
Auch die Reaktionen der beiden ähneln einander, nachdem sie von den Gästen bemerkt werden: Als Sametoff „sich erhob“, „sah er Raskolnikow verwirrt an … er schien ein wenig verlegen zu werden“. „Die unerwartete Anwesenheit Sametoffs überraschte Raskolnikoff unangenehm“.
Als im „Process“ der Kanzleidirektor „umständlich aufstand“, ist er „offenbar unzufrieden damit, dass man auf ihn aufmerksam gemacht hatte. Es war als wolle er mit den Händen … alle Vorstellungen und Begrüssungen abwehren … und als bitte er dringend … um das Vergessen seiner Anwesenheit“. Die Verlegenheit, die Dostojewskij benennt, äußert sich bei Kafka durch eine entsprechende Gestik.
Josef K. und der Onkel haben den Kanzleidirektor anfangs gar nicht bemerkt, da er im Dunkeln saß und vom Advokaten nicht vorgestellt wurde. „Er hatte wohl gar nicht geatmet, dass er so lange unbemerkt geblieben war.“ Raskolnikoff beobachtet, dass Porphyri den Schriftführer „nicht als seinen Gast betrachtet“, er „sitzt mit dem Rücken zu ihm“. Doch Sametoff „benimmt sich wie zu Hause, ist aber zum ersten Male hier“.
Auch der Kanzleidirektor wird, wie Sametoff, zugleich wie ein Vertrauter und wie ein Fremder behandelt. Der eine sitzt im Dunkeln, der andere mit dem Rücken zum Geschehen. Beide wer-den den nachfolgenden Gesprächen zumeist schweigend beiwohnen, in einer quasi protokollierenden Funktion. Die Szenen lassen sich in diesem Abschnitt fast deckungsgleich übereinanderlegen.
Nachdem Raskolnikoff bzw. der Onkel ihre Bitten um Hilfe vorgetragen haben, erklären sowohl Porphyri als auch der Advokat, dass sie längst mit den Fällen der beiden Helden beschäftigt sind.
Josef K., der darüber verwundert ist, überlegt: „Hatte vielleicht der Onkel schon früher dem Advokaten von dem Process erzählt“, um dann zu fragen: „… woher wissen Sie denn etwas über mich und meinen Process?“ Der Advokat antwortet: „Das ist doch nichts merkwürdiges.“ Auffallendere Processe, „besonders wenn es den Neffen eines Freundes betrifft, behält man im Gedächtnis.“
Raskolnikoff denkt über Porphyri: „Er weiß alles! … Sie haben sicher vor unserem Kommen über mich gesprochen!“ Und Porphyri meint: „Ich erwarte Sie schon seit langem“.
Nur konsequent ist, dass die beiden vermittelnden Figuren, Rasumichin und der Onkel, den Gesprächen in vergleichbarer Weise zuhören:
„Rasumichin … verfolgte eifrig und ungeduldig die Darstellung der Sache, wobei er alle Augenblicke und ziemlich auffällig seine Augen von einem zum andern gleiten ließ.“ Der „Onkel … nickte zu allem, was der Advokat sagte … und sah hie und da auf K. mit der Aufforderung zu gleichem Einverständnis hin.“
Kafka löst dann das aus „Rodion Raskolnikoff“ zitierte Tableau auf, doch in raffiniertem Bezug zu diesem: Bei Dostojewskij „ging Porphyri Petrowitsch hinaus, um Tee zu bestellen“. Zurück bleibt der von dem bisherigen Gespräch gänzlich verwirrte Raskolnikoff. „Die Gedanken drehten sich wie im Wirbelwinde in Raskolnikoffs Kopf. Er war aufs äußerste gereizt.“
Verwirrt ist auch Josef K. „Übrigens wusste er kaum wovon die Rede war und dachte bald an die Pflegerin und an die schlechte Behandlung, die sie vom Onkel erfahren hatte, bald daran, ob er den K(anzlei)d(irektor) schon einmal gesehen hatte …“
Und einen Satz später heißt es: „Da liess ein Lärm aus dem Vorzimmer wie von zerbrechendem Porzellan alle aufhorchen. ‚Ich will nachsehen, was geschehen ist‘, sagte K. und ging langsam hinaus …“
Dem Tee bestellenden russischen Untersuchungsrichter folgt Josef K., weil im Vorzimmer ein Lärm wie von zerbrechendem Porzellan ertönt! Die Anspielung könnte kaum deutlicher sein. Es ist, als wäre im „Process“ ein Echo aus „Rodion Raskolnikoff“ zu hören.
„Für den Verdächtigen“, erklärt der Angeklagte Block im „Process“, „ist Bewegung besser als Ruhe, denn der welcher ruht kann immer, ohne es zu wissen auf einer Waagschale sein und mit seinen Sünden gewogen werden.“
Josef K. entzieht sich, nicht nur an dieser Stelle, der Waagschale, indem er das Zimmer ver-lässt und nicht zurückkehrt, während Raskolnikoff durch sein Verbleiben sich ihr aussetzt. Zum Nachteil jedoch gereicht beiden ihr Verhalten.
„Du hast deiner Sache … schrecklich geschadet“, schimpft der Onkel auf K., als beide das Haus des Advokaten verlassen. Der Versuch, K. Gutes zu tun, ist gescheitert; K. hat sich mit dem Dienstmädchen des Advokaten vergnügt, statt sich ernsthaft für seine Verteidigung zu interessieren.
Auch Rasumichin ist verwundert über Raskolnikoffs Verhalten, als beide das Haus Porphyris verlassen. „Ich kann es nicht glauben“, schimpft er, denn der Verdacht gegen Raskolnikoff hat sich erhärtet, und Raskolnikoff selbst hat dazu beigetragen. Statt seine Unschuld darzustellen, erläuterte er freimütig seine Theorie des Verbrechens, seinen Gedanken der Auslese, der einzelne – wie etwa Lykurg, Mohammed oder Napoleon – berechtige, zum Erreichen ihrer Ziele selbst Morde zu begehen. Anlaß dieses Gesprächs ist sein Aufsatz „Über das Verbrechen“, den Porphyri gelesen hat und von dessen Veröffentlichung der Autor nichts ahnte.
Raskolnikoff ist kein einfacher Mörder, der etwa zum Zwecke der Bereicherung mordete, er folgt „höheren“ Zielen und einer moralischen Legitimation, er tritt als Gesinnungstäter auf. Josef K., der nichts begründen kann, weil er nichts Böses getan hat, ist demgegenüber der Sinnlosigkeit einer unverständlichen Mechanik ausgeliefert, der kalten Amoral des Gerichts, für das er stets ein Fremder bleibt, einer unter vielen. Bei Dostojewskij gelangt der Mörder noch in den Genuss des Verständnisses.
Von Porphyri wird das Gespräch geführt, als hätte es mit dem Mord nichts zu tun, aber am Ende möchte er dann doch wissen, ob Raskolnikoff sich während des Schreibens „ein bißchen vielleicht“ zu den „ungewöhnlichen Menschen“ gezählt habe, auf die seine Theorie zutreffe.
„Also“, lautet Raskolnikoffs Schlussfolgerung, „wollen sie nicht mal verbergen, daß sie wie eine Koppel Hunde mich verfolgen.“ Porphyri jedoch behauptet: „… ich bin nicht dazu hergekommen, um Sie zu hetzen …“
Im „Process“ sagt Leni, die Pflegerin des Advokaten, zu K.: „Sie hetzen Dich.“ „Ja“, antwortet K., „sie hetzen mich.“
Offiziell jedoch hat Porphyri den Verdacht gegen Raskolnikoff nicht ausgesprochen. Auf Raskolnikoffs Frage, „Sie wollen mich offiziell, mit allem Zubehör befragen?“, antwortet er: „Warum denn? Sie haben das falsch verstanden.“ „Etwas unterhalten“ möchte er sich mit Raskolnikoff weiterhin, mehr allerdings nicht. Raskolnikoff selbst gibt die Erklärung dafür: „Wenn sie Tatsachen, das heißt wirkliche Tatsachen oder einen einigermaßen begründeten Verdacht hätten, dann würden sie wirklich versuchen, ihr Spiel zu verbergen.“
Dieses Argument gilt auch für Josef K. Oft genug fühlt er sich durch die Vertreter des Gerichts in einer unverschämten Weise bedrängt, zumal gegen ihn ein überprüfbarer Vorwurf gar nicht vorliegt.

Josef K. sucht nach dem Verlassen des Zimmers Leni auf, „das Sumpfgeschöpf“, wie Walter Benjamin sie wegen der Schwimmhäute zwischen ihren Fingern genannt hat.
Leni „(findet) die meisten Angeklagten schön“, „sie hängt sich an alle, liebt alle, scheint allerdings auch von allen geliebt zu werden“, liebt auch den Advokaten. In einer gestrichenen Passage lässt Kafka den Advokaten sagen: „Wenn man den richtigen Blick dafür hat, findet man die Angeklagten wirklich oft schön. Schön natürlich in einem besonderen Sinn, schön für den, der sich um sie aus Beruf und Neigung kümmert.“
In „Rodion Raskolnikoff“ wird die Hure Ssonja – im Epilog des Romans – von den verurteilten Sträflingen geliebt. „Sie liebten sogar ihren Gang, sie wandten sich um, um ihr nachzusehen, wie sie ging und lobten sie; sie lobten sie sogar dafür, daß sie so klein war; sie wußten nicht mehr, wofür sie sie bloß loben sollten.“. Ssonja besorgt kleinere Aufträge für die Sträflinge, verwaltet ihr Geld, beschenkt sie „mit Pasteten und Brezeln“. Sie kümmert sich um sie, wie sich Leni um die Angeklagten kümmert.
Die hurenhafte Leni nun fordert Josef K. auf: „… man muss das Geständnis machen. Machen Sie doch bei nächster Gelegenheit das Geständnis.“ Es ist das einzige Mal im „Process“, dass K. diesen Ratschlag erhält.
Raskolnikoff aber wird von Ssonja aufgefordert, ein Geständnis abzulegen! In beiden Romanen sind es die ihrem Status oder Verhalten nach käuflichen Damen (auch wenn Leni sich für ihre Liebesdienste nicht bezahlen lässt), die im Geständnis einen Ausweg aus der Schuld sehen. Kafka zitiert Dostojewskijs feine Ironie, die ausgerechnet der verfemten Hure eine hohe moralische Qualität zugesteht.
Ssonja rät Raskolnikoff, nachdem er ihr den Mord gestanden hat: „… sage allen laut: Ich habe getötet! … vor der ganzen Welt … stell dich auf einen Kreuzweg hin“. „Dann“, meint sie weiter, „wird dir Gott wieder Leben senden“. Leni sagt nach ihrer Aufforderung: „… dann ist die Möglichkeit zu entschlüpfen gegeben, erst dann“.
Raskolnikoff zögert, ob er Ssonjas Ratschlag befolgen soll. „… sie werden mir nichts tun können. … Alle ihre Beweise haben zwei Seiten, das will sagen, – ich kann ihre Beschuldigungen zu meinen Gunsten verwenden … Und ich werde sie zu meinen Gunsten verwenden, denn ich habe es jetzt gelernt.“ Er taktiert also, während Josef K. die Worte Lenis ohnehin nur als taktische ansieht: „Sie verstehen viel von diesem Gericht und von den Betrügereien, die hier nötig sind.“
Beide Frauen setzen in ähnlicher Weise ihren Zuspruch fort:
Ssonja: „Wenn du gehst, um das Leiden auf dich zu nehmen … wir wollen dann beten und gehen.“ Leni: „Jedoch selbst das (die Möglichkeit zu entschlüpfen) ist ohne fremde Hilfe nicht möglich, wegen dieser Hilfe aber müssen sie sich nicht ängstigen, die will ich Ihnen selbst leisten.“
Josef K. und Raskolnikoff lehnen die Hilfe gänzlich oder vorerst ab. Leni: „Sie sind eigensinnig und lassen sich nicht überzeugen“, wie auch Raskolnikoff eigensinnig darauf beharrt, dass man keine Beweise für seine Tat finden werde.
Das Liebesverhältnis der beiden Paare wird hierdurch nicht gestört.
Raskolnikoff und Ssonja: „Sie saßen nebeneinander … Er sah Sonja an und fühlte ihre große Liebe …“
K. und Leni: „K. … hob sie, da sie sich allzu stark an ihn drängte, auf seinen Schoß. … Dann hing sie sich mit beiden Händen an seinen Hals, lehnte sich zurück und sah ihn lange an.“

Raskolnikoff und Porphyri treffen sich im Laufe des Romans drei Mal: in Porphyris Wohnung, in dessen Arbeitszimmer im Polizeirevier und in Raskolnikoffs Wohnung. Für die von Kafka gewählte Anlehnung an „Rodion Raskolnikoff“ ist insbesondere der einzige scheinbar offizielle Raum der zweiten Zusammenkunft interessant. Er weist Bezüge zu der Wohnung des Malers Titorelli auf, ebenso, wie Josef K.’s Besuch bei dem Maler an die zweite Begegnung von Porphyri und Raskolnikoff erinnert.
Der Maler Titorelli übernimmt im „Process“ noch am ehesten die Aufgaben eines Advokaten. Anders als der Advokat ist der Titorelli von der Unschuld K.’s überzeugt, er erläutert K. ausführlicher und auch genauer als Huld die Möglichkeiten, den Prozess zu einem günstigen Ausgang zu führen – wenn auch in einer geschwätzigen und für K. folgenlosen Weise. Zudem malt er die Figur der Gerechtigkeit, wodurch aus der Ferne zumindest eine Anbindung seiner Hilfe an ein moralisches Ideal gegeben scheint. Josef K. besucht den Maler, weil er sich von ihm Informationen über das Gericht erhofft, die ihm der Advokat nicht zu geben vermag. Er kann neben dem Advokaten als einer der „Stellvertreter“ Porphyris im „Process“ gelten.
Porphyri hat Raskolnikoff ins Polizeibüro eingeladen. „… kommen Sie selber einmal zu mir … vielleicht in diesen Tagen … morgen“ , lauteten seine Worte. Eine behördliche Vorladung wird gemeinhin strenger formuliert. Als Raskolnikoff Porphyris Arbeitszimmer betritt, bemerkt er: „In einer Ecke der Hinterwand oder besser gesagt der Scheidewand, war eine verschlossene Türe, – also mußten hinter dieser Wand sich noch andere Zimmer befinden.“
Leutselig weist Porphyri selbst auf diesen vorerst banalen Umstand hin: „… ich empfange Sie hier, meine Wohnung aber ist hinter der Zwischenwand … freie Dienstwohnung … eine freie Dienstwohnung ist eine schöne Sache? Meinen Sie nicht?“ Der Untersuchungsrichter ist überall zu Hause, er wohnt im Polizeirevier, seine „alte, eigene“ Wohnung steht ihm zusätzlich zur Verfügung.
Auch im „Process“ ist eine der unheimlichen Konstanten die Vermischung der privaten mit den Gerichtsorten. Der Advokat nutzt sein Schlafzimmer als Büro, in dessen Arbeitszimmer betrügt ihn K. mit Leni, das Gericht tagt auf dem Dachboden eines Mietshauses.
Als Josef K. den Maler Titorelli besucht und in das „elende kleine Zimmer“ des Malers eintritt, bemerkt er dessen Bett an der Wand, allerdings nicht die Tür hinter dem Bett. Nach einiger Zeit erklärt Titorelli, dass diese Tür zu den Gerichtskanzleien führt und dass auch sein Atelier eigentlich zu ihnen gehört. Vorher hieß es noch, dass der Maler „in einer Vorstadt wohnte, die jener in welcher sich die Gerichtskanzleien befanden vollständig entgegengesetzt war“. „Gerichtskanzleien“, sagt Titorelli jetzt, „sind doch auf fast jedem Dachboden, warum sollten sie gerade hier fehlen?“
Wie Porphyri im Polizeirevier wohnt und arbeitet, so wohnt und arbeitet Titorelli im Gerichtsgebäude. Und sowohl für K. als auch für Raskolnikoff erhält die Tür nach und nach eine bedrohliche Bedeutung.
Denn Porphyri hat hinter der Tür, in seiner Wohnung also, während des Gesprächs mit Raskolnikoff einen Zeugen warten lassen, den Kleinbürger, der Raskolnikoff auf der Straße schon ins Gesicht gesagt hat: „Du bist der Mörder!“. So freundlich und harmlos sich Porphyri oftmals darstellt, es hindert ihn nicht, das Gericht in Gestalt des Zeugen unmittelbar nebenan, in seinen Privaträumen, zu plazieren.
„Wollen Sie nicht noch die Überraschung sehen, die ich für Sie habe? … Die Überraschung sitzt hier hinter der Türe …“, höhnt Porphyri. K. wirft sich vor, nachdem der Maler die Tür geöffnet und ihm die Gerichtskanzleien gezeigt hat, gegen „eine Grundregel für das Verhalten eines Angeklagten“ verstoßen zu haben – „immer vorbereitet zu sein, sich niemals überraschen zu lassen“. Und während Porphyri betont, dass die Tür verschlossen sei und nur er den Schlüssel habe, beklagt Titorelli, dass auch der von ihm porträtierte Richter den Schlüssel besitze und jederzeit hereinkommen könne.
Wieder hat Kafka einen Tausch vorgenommen – Porphyris Arbeitszimmer wird zu Titorellis Wohnung, Porphyris Wohnung zur Gerichtskanzlei. Beide Male ist mit der Tür ein vergleichbarer Bedeutungsgewinn verbunden – der private Raum wird durch sie zum offiziellen.
Daß die Szenen miteinander korrespondieren, zeigen zwei weitere Übereinstimmungen:
Als Raskolnikoff das Zimmer Porphyris betritt, übergibt er diesem ein Schriftstück – die Eingabe, dass die bei der Pfandleiherin hinterlegte Uhr ihm gehöre. Porphyri liest die Erklärung kurz durch „und legte das Papier auf den Tisch“. Josef K. übergibt dem Maler ebenfalls ein Schriftstück – einen Brief mit der Empfehlung des Fabrikanten. „Der Maler las den Brief flüchtig durch und warf ihn aufs Bett“.
Brief und Tür eröffnen und beschließen die Szenen. Und fast genau in ihrer jeweiligen Mitte erhalten als weiteres Raumelement die Fenster beider Zimmer eine dramaturgische Funktion.
Porphyri erläutert Raskolnikoff, wo dessen Fehler lag, als er den Mordplan entwarf. Die Theorie, die sich Raskolnikoff zur Rechtfertigung des Mordes ausgedacht hat, mag ihn selbst überzeugt haben, was er jedoch unterschätzt hat, ist sein Unvermögen, die Folgen der Tat zu ertragen – er fällt in Ohnmacht, als über den Mord geredet wird, er „erbleicht schon zu natürlich, so daß es zu sehr wirklichem Erbleichen gleicht“.
Porphyri schlussfolgert: „Wirklichkeit und Natur, mein Herr, sind wichtige Dinge und machen zuweilen die allerglänzendste Berechnung zuschanden! He, hören Sie auf mich, einen alten Mann, ich spreche im Ernst.“ An sich ist die Berechnung, die Raskolnikoff erstellt hat, wohl zutreffend; es gibt keine Zeugen für den Mord und keine Beweise gegen Raskolnikoff. Doch seine Natur hält dem Druck des Gewissens nicht stand, die Wirklichkeit lässt sich nicht simulieren.
Im „Process“ ist es Titorelli, der eine allerglänzendste Berechnung entwirft, die der Regeln des Gerichts. Er erklärt K. die Unterschiede zwischen der wirklichen und der scheinbaren Freisprechung und der Verschleppung des Verfahrens. An sich ist die wirkliche Freisprechung möglich, jedoch hat er von solch einem Freispruch noch nie gehört. Als K. auf diesen Umstand nochmals aufmerksam macht, rät der Maler ihm: „Sie dürfen nicht verallgemeinern, ich habe ja nur von meinen Erfahrungen gesprochen.“ Wo Porphyri als alter Mann seine Ernsthaftigkeit betont (er ist fünfunddreißig Jahre alt), spricht Titorelli als alter Kenner des Gerichts.
Titorellis Erfahrungen, die Wirklichkeit der Gerichtspraxis, widersprechen der an sich möglichen wirklichen Freisprechung. Das Gericht hat hier (man weiß es allerdings nur gerüchteweise) eine „geordnete Darstellung“ seiner Handlungsweise entworfen, wie K. überlegt, doch bleibt auch diese Darstellung nur Theorie, eine Theorie, die durch die Wirklichkeit, durch die Natur der Sache, widerlegt wird. Beiden Helden winkt das Entkommen, und beide Male erweist es sich im letzten Moment als unmöglich.
Im Moment der Aufspaltung von Möglichkeit und Wirklichkeit, von eigentlich und tatsächlich, der miteinander verwandten Argumentation, mit der beide Helden konfrontiert werden, findet wieder eine Angleichung der Gestik statt:
Porphyri fragt: „Ja, warum sind Sie so blaß geworden, Rodion Romanowitsch, ist es für Sie hier zu dumpf, soll ich nicht das Fenster aufmachen?“
Titorelli fragt: „Wollen Sie aber nicht, ehe wir davon reden, den Rock ausziehn? Es ist Ihnen wohl heiss“.
Raskolnikoff antwortet: „Oh, bemühen Sie sich, bitte, nicht“. Seine „Lippen zitterten plötzlich, die Augen loderten vor Wut und die bis jetzt gemäßigte Stimme schwoll an“; Porphyri „lief, um das Fenster zu öffnen“. „Frische Luft hereinlassen!“, ruft er und bietet Raskolnikoff außerdem Wasser an, das dieser ebenfalls ablehnt.
K., „dem aber jetzt, da er an die Hitze erinnert worden war, starker Schweiss auf der Stirn ausbrach“, sagt: „Ja. Es ist fast unerträglich. Könnte man nicht das Fenster öffnen?“ Titorelli antwortet: „Nein. Es ist bloss eine fest eingesetzte Glasscheibe, man kann es nicht öffnen.“ – „Jetzt erkannte K., dass er die ganze Zeit über darauf gehofft hatte, plötzlich werde der Maler oder er zum Fenster gehen und es aufreissen.“
Raskolnikoff verzichtet auf die Öffnung des Fensters; K., der darum bittet, kann diese Bitte nicht gewährt werden. Kafka hat Teile der Dramaturgie zwar übernommen, mit dem Wechsel von angebotener und erbetener Hilfe jedoch auch eine Umwertung vollzogen: Raskolnikoff, dem Mörder, wird Beistand zuteil, seiner Übelkeit kann abgeholfen werden; K., der Unschuldige, muss die stickige Luft ertragen, und erfrischendes Wasser kann ihm nicht gereicht werden.

In welchem Maße Porphyri die Figur des Advokaten Huld beeinflusst hat, zeigen einige Eigenschaften beider Figuren und ihr Verhältnis zu den Angeklagten.
Sowohl Porphyri als auch Huld sind Junggesellen und beide glauben, bald zu sterben. Porphyri erklärt: „Bei meiner Statur fürchte ich … bald einmal einen Schlaganfall zu bekommen. … Ich huste, im Halse beginnt es zu kratzen und ich leide an Atemnot.“
Der Advokat liegt ohnehin todkrank im Bett. „… ich fürchte sehr“, meint er, dass „meine Kraft für diese äusserst schwierige Aufgabe … nicht ausreichen wird“ (die Verteidigung K.’s). „Vor Überanstrengung krank“ ist er. „Er konnte gar nicht sprechen … Du hast wahrscheinlich zu seinem vollständigen Zusammenbrechen beigetragen und beschleunigst so den Tod eines Mannes auf den Du angewiesen bist“, belehrt der Onkel Josef K.
Porphyri jedoch hat ein äußerst heiteres Gemüt, während die Kränklichkeit des Advokaten kaum zu überbieten ist. Porphyri sagt von sich: „Ich neige zum Lachen … zuweilen schüttelt es mich wirklich, als wäre ich aus Kautschuk, und das dauert eine halbe Stunde … dieses verfluchte Lachen bitte ich zu entschuldigen …“ Er bringt Raskolnikoff sogar dazu, mit ihm einen Wettbewerb des Lachens auszutragen. „Raskolnikoff zwang sich in das Lachen einzustimmen. Als aber Porphyri Petrowitsch sah, daß auch er lache, brach er in ein Gelächter aus, daß ihm das Blut zu Kopf stieg.“ Der Untersuchungsrichter gewinnt diesen Kampf, er besiegt den Verdächtigen mit „anhaltenden und wie absichtlich nicht aufhörenden Lachen“.
Der Advokat hingegen, der K. schließlich verteidigen soll, verbringt die meiste Zeit im Bett „oder sass ihm stumm gegenüber“, und wenn er von Aktivitäten berichtet, sind diese für K. nicht nachprüfbar. „K. wusste ja gar nicht was der Advokat unternahm; viel war es jedenfalls nicht … Hie und da gab er K. einige leere Ermahnungen, wie man sie Kindern gibt“.
Als wäre einer der Spiegel des anderen, erreicht Porphyri durch seine Heiterkeit, was dem Advokaten durch seine Kränklichkeit gelingt – die Angeklagten zu verhöhnen, deren Widerstand mehr und mehr ermattet.
Porphyri versichert sich dennoch der Freundschaft Raskolnikoffs. Als „Väterchen“ bezeichnet er den weit Jüngeren, „Ich empfange Sie als meinen Gast. … Warum soll man sich nicht fünf Minuten mit einem guten Bekannten zerstreuen? … Ich habe Sie wirklich gern und wünsche Ihnen aufrichtig alles Gute. … Nachdem ich sie erkannt hatte, fühlte ich eine Neigung zu Ihnen.“ Der Untersuchungsrichter ist dem möglichen Mörder von Herzen zugetan.
Und der Advokat beteuert: „Sie sind mir im Laufe der Zeit lieb geworden. Ich gestehe das offen ein. Ich brauche mich dessen nicht zu schämen.“
Als Raskolnikoff Porphyri auffordert, ernsthaft über den Mord zu sprechen – „belieben Sie mich entweder zu befragen oder zu entlassen, und zwar sofort …“ – antwortet Porphyri: „Worüber soll ich Sie denn fragen … alles sind doch bloß Kleinigkeiten. Ich bin im Gegenteil so froh, daß Sie gekommen sind!“
K. aber denkt über den Advokaten, als er bemerkt, wie nachlässig dieser seine Verteidigung betreibt: „Vor allem hatte er ihn fast gar nicht ausgefragt. Und hier war doch so viel zu fragen. Fragen war die Hauptsache. K. hatte das Gefühl, als ob er selbst alle hier nötigen Fragen stellen könnte.“
In der Kunst, die dürftigen Fakten, auf denen die Anklage bzw. die Verteidigung ruht, ständig zu wiederholen, sind sowohl Porphyri als auch der Advokat geübt.
Raskolnikoff denkt: „Du hast keine Beweise … Du willst mich bloß verwirren, vorzeitig reizen …“, und er sagt zu Porphyri: „Ich bin des Ganzen überdrüssig … belieben Sie mich entweder zu fragen oder zu entlassen … Sie kommen immer wieder mit der alten Weise … Immer ihre alte Taktik, – wird es Ihnen in der Tat nicht langweilig!“. K. kann sich dem Eindruck nicht entziehen, „… das alles bis zum Überdruss bekannte würde hervorgeholt werden, um K. wieder … mit unbestimmten Drohungen zu quälen“. Unbestimmt bleiben auch die Drohungen Porphyris, seine fröhliche Geschwätzigkeit reizt Raskolnikoff am stärksten.
Porphyri weiß um seine Wirkung auf Raskolnikoff und bittet dennoch um dessen Achtung, fast um dessen Liebe:
„… und außerdem bin ich aufrichtig … Bin ich nicht aufrichtig? Was meinen Sie? Mir scheint, ich bin es im vollen Maße“ . „Ich weiß, daß Sie mich auf den ersten Blick schon nicht leiden konnten, und im Grunde genommen ist auch nichts an mir, warum man mich gern haben könnte. Fassen Sie es jedoch auf, wie Sie wollen, ich wünsche meinerseits mit allen Mitteln, diesen Eindruck von mir zu verwischen …Und dies sage ich aufrichtig.“
Die folgende Antwort zeigt, wie leicht sich beide Romane an manchen Stellen miteinander verbinden lassen. Nicht Raskolnikoff antwortet, sondern Josef K.:
„Sie sprechen nicht offen mit mir und haben niemals offen mit mir gesprochen. Deshalb dürfen Sie sich nicht beklagen, wenn Sie wenigstens Ihrer Meinung nach verkannt werden. Sie haben meinen Process an sich gerissen, als wäre ich ganz frei, mir aber scheint es jetzt fast, als hätten Sie ihn … nur vor mir verstecken wollen, damit ich verhindert werde einzugreifen und damit eines Tages irgendwo in meiner Abwesenheit das Urteil gesprochen wird.“
Auch Porphyri „versteckt“ die Anklage vor Raskolnikoff, er lenkt ihn von der Ernsthaftigkeit des Vorwurfs ab, um in dessen Abwesenheit zu der Überzeugung zu gelangen, dass niemand anders als Raskolnikoff der Mörder sei. Kafka hat den eben zitierten Abschnitt im Manuskript gestrichen, vielleicht wegen der allzu großen Nähe zu „Rodion Raskolnikoff“.
Josef K. und Raskolnikoff haben jedenfalls einigen Grund, über die Art und Weise der gegen sie gerichteten Untersuchungen zu verzweifeln. K. kann sich selbst auf seinen Advokaten nicht verlassen, die Verteidigung ist durch „das Gesetz nicht eigentlich gestattet, sondern nur geduldet“, die Gesetzbücher sind pornographische Schriften, jeder Vertreter des Gerichts scheint selbst erdachten Regeln zu folgen.
Die Reden des russischen Untersuchungsrichters Porphyri, die dieser an Raskolnikoff richtet, lesen sich wie Kommentare zu dieser Erfahrung K.’s. Allein für K.’s merkwürdige Verhaftung, die keine und doch eine ist, liefert Porphyri hinreichend Gründe, sie so und nicht anders zu vollziehen. Raskolnikoff erklärt er, wie ein Verbrecher zu behandeln ist:
„…warum soll man ihm denn nicht gestatten, in der Stadt herumzuspazieren … wenn ich ihn zum Beispiel zu früh einsperre, so gebe ich ihm vielleicht dadurch eine moralische Stütze … nehmen wir an, es sind Beweise da, aber Beweise haben doch meistenteils zwei Seiten … Wenn ich ihn aber vor der Zeit einsperre, … so kann ich mich selbst vielleicht der Mittel berauben, ihn weiter zu überführen, und warum? Weil ich ihm sozusagen eine bestimmte Lage gebe, ihn sozusagen psychologisch bestimme und festlege … und er wird endlich begreifen, daß er Gefangener ist. Wenn ich nun einen Herrn ganz allein lasse, ihn nicht festnehme und nicht beunruhige … und wenn er sich bewußt unter ewigem Verdachte und in ewiger Angst fühlt, – bei Gott, da … wird er tatsächlich selbst kommen … und das ist sehr angenehm. Und warum soll ich beunruhigt sein, daß er ungefesselt in der Stadt herumgeht? … ich weiß auch ohnedem, daß er mein Opfer ist und niemals von mir fortläuft! Ja, und wohin soll er auch fliehen … er wird mir nicht entfliehen, nicht, weil er nirgendshin entfliehen könnte, – er wird mir psychologisch nicht entfliehen … Er wird dem Naturgesetze nach mir nicht entfliehen … Haben Sie einen Schmetterling vor einem Lichte gesehen? Nun, er wird auch so die ganze Zeit um mich, wie um ein Licht herumflattern; die Freiheit wird ihm unlieb werden, er wird nachdenklich werden, sich verwirren, sich selbst wie in ein Netz verwickeln und sich zu Tode zappeln! … Er wird mir direkt in den Mund fliegen und ich werde ihn verschlucken … “
Es mag zur Ermittlungstaktik eines Untersuchungsrichters gehören, einen Verbrecher erst dann festzunehmen, wenn seine Schuld zweifellos feststeht. Was Porphyri hier jedoch darlegt, weist über diesen Umstand hinaus. Denn selbst in Beweisen für die Schuld des Verdächtigen sieht er die Möglichkeit der Unschuld. Er möchte „ihn weiter überführen“, als könnte es einen endgültigen Beweis der Schuld nicht geben. Eine Verhaftung würde ihn gar moralisch stärken. Die Ankunft in der Schuld wirkt zugleich als Erleichterung. Unschwer ist hier der christliche Impuls zu erkennen. Porphyri, der sich als „abgetaner Mensch“ bezeichnet, der seine Laster beklagt, sieht sich als das Licht, dessen Gnade der Verbrecher bedarf, sollte er sich auch „zu Tode zappeln“. Er bezweifelt kaum, dass der Verdächtige ihm nicht entfliehen wird, denn er ist der Sachverwalter der Schuld Raskolnikoffs. Die Schuld ist kein Faktum, sondern ein Zustand, den Raskolnikoff unabhängig von seinem Aufenthaltsort zu ertragen hat.
Im „Process“ äußert der Advokat gegenüber Josef K.: „… es ist oft besser in Ketten als frei zu sein.“ Auch K. wird die bestimmte Lage, die zweifelsfreie Konfrontation mit seiner Schuld, nicht gegönnt. Eine moralische Qualität wird dem Status des Gefangenen jedoch nicht zugestanden, auch weil dieser Status wenig eindeutig ist. Josef K. ist von vorneherein, ohne dass er etwas getan hat, verdächtig, so dass die „Absegnung“ der Schuld, etwa durch die Verhaftung, nicht erleichternd wirken kann. Wie sich Freiheit und Unfreiheit für K. vermischen, so auch Schuld und Unschuld, beide gehen konturlos ineinander über, vor dem Gesetz kann „der Mann vom Lande“ ewig warten. „Das Tor zum Gesetz“ steht zwar offen, doch der Eintritt ist dem Rechtsuchenden verwehrt, und die Interpretation dieser Parabel nimmt im „Process“ mehr Raum ein als die Parabel selber. Bei Dostojewskij sind die Rechtsinstanzen noch intakt, sie agieren mit Namen und Adresse und sind auffindbar; Attribute, die ihnen bei Kafka fehlen.
Der Angeklagte Josef K. wird allenfalls „zu gut behandelt oder richtiger ausgedrückt nachlässig scheinbar nachlässig“. Eine Flucht braucht Josef K. erst gar nicht zu erwägen. Denn, so begründet einer der Wärter gegenüber K., „unsere Behörde … sucht doch nicht etwa die Schuld in der Bevölkerung sondern wird wie es im Gesetz heisst von der Schuld angezogen.“ Und an anderer Stelle heißt es: „Das Gericht will nichts von dir.“ Es ist allein der Angeklagte, der das Gericht mit seiner Schuld behelligt und unbedingt einen Freispruch wünscht, scheint das Gericht zu sagen.
Porphyri hingegen meint über Raskolnikoff: „… jetzt kommt dieser Mensch zu mir, kommt selbst und sehr bald zu mir; wenn er schuldig ist, wird er unbedingt kommen. Ein anderer würde nicht kommen, dieser aber unbedingt.“ Auch hier ist es der Angeklagte, der das Gericht sucht, nicht umgekehrt. Porphyri erweckt oft genug den Eindruck, als verrichte er seine Arbeit nur widerwillig, als täte es ihm selbst leid, Raskolnikoff des Mordes zu überführen. Deutlicher noch wird er in der letzten Begegnung mit Raskolnikoff: „Wenn Sie fliehen werden, kehren Sie selbst zurück. Ohne uns können Sie nicht auskommen.“
Tatsächlich ist Raskolnikoff längst in eine moralische Sackgasse geraten, nichts bereitet ihm mehr Freude, und er spürt, dass er zu keinem Menschen mehr Vertrauen haben kann.
Raskolnikoff fordert nach diesen Worten Porphyris: „… ich will endgültig wissen, ob sie mich frei von jedem Verdacht finden oder nicht?“, woraufhin Porphyri antwortet: „Warum beunruhigen Sie sich in dieser Weise? Warum drängen Sie sich uns auf, aus welchen Gründen?“
Er könnte auch wie der Geistliche im „Process“ sagen: „Das Gericht will nichts von dir. Es nimmt dich auf, wenn du kommst, und es entläßt dich, wenn du gehst.“
Raskolnikoff gerät angesichts dieser Haltung „in blinde Wut“: „Ich wiederhole Ihnen, daß ich es nicht länger ertragen kann.“ – „Was denn“, fragt Porphyri, „die Ungewißheit?“
Die Ungewissheit, unter der er ebenso wie Josef K. leidet. Auch Raskolnikoffs Freiheit ist eine Variante der Verhaftung. Die Sicht des Untersuchungsrichters – dass Beweise für Raskolnikoffs Schuld, wenn sie denn existierten, auch für seine Unschuld sprächen – ist ebenso unverständlich wie die Bewertung der Schuld Josef K.’s.
Es ist daher kaum verwunderlich, dass Porphyri klagt:
„… diese Verhöre verwirren zuweilen den Verhörer selbst mehr als den zu Verhörenden … Man wird konfus! Wirklich, man wird konfus, und immer hat man ein und dasselbe, immer ein und dasselbe, es geht in einer Leier so fort!“
Im „Process“ sind es sowohl der Advokat als auch der Maler Titorelli als auch der Geistliche im Dom, die K. begreiflich zu machen versuchen, wie schwer es selbst ihnen, den in Gerichtsverfahren Eingeweihten fällt, sich von den Verfahrensfragen nicht überfordert zu fühlen. Die erste Eingabe, erklärt der Advokat, „(bestimme) oft die ganze Richtung des Verfahrens“, doch „Leider … geschehe es manchmal, dass die ersten Eingaben bei Gericht gar nicht gelesen würden“. Selbst der Advokat ist von der Gnade des Gerichts abhängig, auch er kann dem Angeklagten zu keiner Gewissheit über seine Lage verhelfen.
Schon Porphyri gesteht: „Ich begreife auch, was es für einen niedergedrückten, aber stolzen, eigenartigen und ungeduldigen, besonders ungeduldigen Menschen heißt, dies alles ertragen zu müssen.“
Der Advokat hingegen beschwichtigt K.: „Ich verstehe Sie, Sie sind ungeduldig.“ K. kündigt ihm das Mandat, weil ihm durch die freundliche, aber nutzlose Tätigkeit des Advokaten „der Process, förmlich im Geheimen, immer näher an den Leib rückt“. („In einer kaum merkbaren, in einer schleichenden Form“ sieht Rasumichin bei Porphyri den Gedanken auftreten, Raskolnikoff könnte der Täter sein.)
Vergeblich wünscht Raskolnikoff: „… und wenn Sie mich fragen wollen, dann nicht anders als nach der gesetzlichen Form!“, ebenso vergeblich, wie K. von dem Gericht eine gesetzliche, verläßliche Form erwartet. „… fast nur aus Frauenjägern besteht“ es, – „Zeig dem Untersuchungsrichter eine Frau aus der Ferne und er überrennt um nur rechtzeitig hinzukommen den Gerichtstisch und den Angeklagten.“ Hurerei ist den Gesetzesvertretern immer noch wichtiger, als eine einklagbare Verlässlichkeit.
„Wozu denn die gesetzliche Form?“, fragt Porphyri. „Die Form ist, wissen Sie, in vielen Fällen ein Unsinn. … Die Form läuft nie davon, darin gestatte ich mir, Sie zu beruhigen … Die gesetzliche Form darf nicht bei jedem Schritt den Untersuchungsrichter hemmen. Die Arbeit eines Untersuchungsrichters ist doch sozusagen freie Kunst in ihrer Art …“ Eine freie Kunst, deren Vorgehensweise leicht auch als Willkür zu bezeichnen wäre.
Den Angeklagten hilft es gar nicht, dass ihnen in beiden Romanen eine hohe Kompetenz zugestanden wird, das eigene, so schwer zu überschauende Verfahren beurteilen zu können:
„Sie bereiten sich doch vor, Jurist zu werden?“, fragt Porphyri. „Sie haben tatsächlich recht, daß Sie über die Rechtsformen sich so lustig machen!“ Josef K. ist zwar kein Jurist, er arbeitet in einer Bank, womit ihm jedoch die Handhabung gesetzlicher Bestimmungen nicht ganz fremd sein dürfte, und einer seiner Kunden, der Fabrikant, meint, „Sie sind ja fast ein Advokat. Ich pflege immer zu sagen: Prok(urist) K. ist fast ein Advokat.“, wie Raskolnikoff fast ein Jurist ist – er hat sein Jurastudium abgebrochen.
Porphyri sagt weiter: „Ich habe Ihnen selbst alle Mittel zur Verteidigung genannt und ausgeliefert, habe selbst Ihnen die ganze Psychologie erklärt, habe Krankheit, Fieberwahn, Kränkungen, Melancholie und Polizeibeamte und dergleichen mehr erwähnt!“
Nichts anderes hat der Advokat getan, der K. erklärt: „… ich wollte aber noch hinzufügen, dass ich bei Ihnen mehr Urteilskraft erwartet hätte als bei den andern, besonders da ich Ihnen mehr Einblick in das Gerichtswesen und in meine Tätigkeit gegeben habe, als ich es sonst Parteien gegenüber tue.“
Porphyri entschuldigt sich geradezu bei Raskolnikoff: „… glauben Sie nicht, daß ich es wage, Sie zu belehren, – Sie lassen doch selber große Artikel über das Verbrechen drucken!“ Im „Process“ lautet die Formulierung des Advokaten: „Ich werde natürlich niemals versuchen Sie einen soviel ältern und erfahrenen Mann von meiner Ansicht überzeugen zu wollen.“
Und was die Bezahlung der jeweiligen Tätigkeit angeht, so sagt Porphyri: „… ich teile Ihnen solche Dinge umsonst mit, und verlange dafür gar keine Belohnung“, während K. „nutzlose wie langweilige Reden“ des Advokaten „in der Schlussabrechnung mit keinem Heller zu bezahlen gedachte“.

Sein drittes und letztes Treffen mit Raskolnikoff hat für Porphyri nur den Charakter eines Privatbesuchs. „Ich will ihm mal eine Gegenvisite machen“, sagt er. Wieder ist er sehr höflich; er entschuldigt sich, „Ich habe Ihnen viel Leid zugefügt, habe Sie stark leiden lassen … Es war nicht böse gemeint, ich sage es aufrichtig.“ Die Entschuldigung gilt immerhin dem Versuch, Raskolnikoff des Mordes zu überführen. Porphyri meint, er hätte sich in dieser Absicht zu heftig engagiert: „Ja, und es ziemt sich ganz und garnicht für mich, den Untersuchungsrichter, mich so hinreißen zu lassen.“
Auch der Geistliche im Dom bemerkt zu K. „Ich musste zuerst aus der Entfernung mit Dir sprechen. Ich lasse mich sonst zu leicht beeinflussen und vergesse meinen Dienst.“ Es sind kaum andere Worte für die gleiche Furcht vor der Nähe zu den Angeklagten.
Porphyri bittet um Raskolnikoffs Verständnis, „Damit Sie … mich mit Ihrem Verstande und Herzen wegen meines damaligen bösen Benehmens nicht anklagen sollen.“ Er möchte „beweisen, daß auch ich ein Mensch mit einem Herzen und einem Gewissen bin.“ Es klingt, als wolle der Untersuchungsrichter vom Mörder einen Freispruch erlangen.
Einen ähnlich schwachen Moment hat Josef K., nachdem der Geistliche gesagt hat, „Man hält wenigstens vorläufig Deine Schuld für erwiesen.“ K. antwortet: „Wie kann denn ein Mensch überhaupt schuldig sein. Wir sind hier doch alle Menschen, einer wie der andere.“
Raskolnikoffs Antwort an Ssonja, als sie ausruft: „Nun, wie kann man denn ohne einen Menschen weiterleben! Was wird jetzt aus dir werden!“, lautet: „Welche Schuld habe ich denn vor ihnen?“ In dem Moment, in dem Ssonja ihm deutlich macht, wie ausgestossen er sich künftig fühlen wird, verzichtet er auf das Argument, zu den Auserwählten zu gehören und außerhalb des Gesetzes zu stehen. In der Schuld ist die Vereinzelung, die er als einer der künftigen „Gesetzgeber der Menschheit“ anstrebte, schwer zu ertragen.
Da Porphyri nunmehr von Raskolnikoffs Schuld überzeugt ist, sagt er endlich offen heraus: „Sie haben getötet“. Auf Raskolnikoffs zweifellos berechtige Frage, weshalb er dann noch immer nicht verhaftet werde, meint Porphyri, dass dies für ihn „unvorteilhaft“ wäre und dass seine Überzeugung, Raskolnikoff hätte den Mord begangen, nichts zu sagen hätte. „Alles ist doch vorläufig ein Gedanke von mir, eine Einbildung“, relativiert er die vorher getätigte Aussage. „Ich habe selbst Ihnen offen schon einigemal gesagt, daß diese Psychologie zwei Seiten hat, und daß die zweite Seite“ – die der Unschuld Raskolnikoffs – „die größere Wahrscheinlichkeit für sich hat, und habe hinzugefügt, daß ich außer diesem vorläufig gar nichts gegen Sie in den Händen habe“.
Diese schlichte Beweislage, insofern sie als eine solche bezeichnet werden kann, lässt Raskolnikoff bis zuletzt mit seiner Schuld allein. Wenn im „Process“ Josef K.’s Schuld zwar zweifellos feststeht, aber nicht näher benannt werden kann, kann Raskolnikoffs Schuld zwar genau bezeichnet werden, jedoch gilt sie keineswegs als erwiesen.
Auch Josef K. bekommt am Ende des Romans Besuch in seiner Wohnung; zwei Herren vom Gericht werden ihn seiner Strafe zuführen. Porphyri fordert Raskolnikoff auf, sich selbst dem Gericht zu stellen, „das Leiden auf sich“ zu nehmen.
Raskolnikoff bietet seinem Besuch „mit einer sichtlich zufriedenen und freundschaftlichen Miene einen Platz an“. „Es war auch der letzte Rest seiner Kraft. So hegt ein Mensch eine halbe Stunde lang tödliche Angst vor dem Räuber, wenn aber das Messer ihm endgültig an die Kehle gesetzt wird, schwindet die Angst.“
K. denkt, als die Herren ihn auf der Straße fest in ihre Mitte nehmen und zur Hinrichtung geleiten – vielleicht eine halbe Stunde, bevor ihm das Messer ins Herz gestoßen wird: „Ich werde nicht mehr viel Kraft brauchen, ich werde jetzt alle anwenden …“
Auch ereilt ihn die Einsicht, „Ich wollte immer mit 20 Händen in die Welt hineinfahren und überdies zu einem nicht zu billigenden Zweck.“ Worin K.’s heftiges Wollen bestand, ist eigentlich unklar, es sei denn, man bezieht diese Aussage auf seine störrische Gegenwehr im Prozess.
Raskolnikoff wäre die Einsicht zu wünschen, doch es ist Porphyri, der sie ihm nahelegt. „Haben sich eine Theorie ausgedacht, und schämen sich nun, daß nichts daraus wurde …“ Und: „Wenn Sie einen solchen Schritt getan haben,“ – den Mord begangen – „so nehmen Sie sich auch jetzt zusammen.“ Josef K. denkt währenddessen: „… das einzige, was ich jetzt tun kann, ist, bis zum Ende den ruhig einteilenden Verstand behalten“.
Ein Geständnis erwartet Porphyri von Raskolnikoff nicht – „in diesem Augenblicke ist es mir einerlei“ -, was vielleicht anders wäre, „wenn Zeugen zur Stelle wären; wir sprechen aber doch Auge in Auge“. Ein nicht näher bezeichnetes „Endchen“ eines Beweises habe er „in der Hand“, und deshalb „jetzt nicht mehr das Recht es hinauszuschieben; ich werde Sie verhaften“.
Wie Josef K. in aller Heimlichkeit zur Hinrichtung geführt wird, so kündigt Porphyri die Verhaf-tung an -“ „Auge in Auge“ und ohne Zeugen.
Doch Raskolnikoff darf weiterhin „anderthalb oder zwei Tage … frei herumgehen“. Sollte er „Lust verspüren“, „die Sache irgendwie anders, in einer phantastischen Weise aus der Welt schaffen, – sagen wir, Hand an sich legen zu wollen“, so möge er „eine kurze aber genaue Mitteilung (hinterlassen)“, ein Geständnis, in dem er auch das Versteck des geraubten Schmucks „erwähnen“ solle.
Josef K.’s Suizidgedanken hat Kafka im Manuskript gestrichen. K. erwog diesen Gedanken während seiner Verhaftung im ersten Kapitel des Romans: „Es wunderte K., … dass sie ihn … hier allein gelassen hatten, wo er doch zehnfache Möglichkeit hatte sich umzubringen. … Es wäre so sinnlos gewesen sich umzubringen, dass er, selbst wenn er es hätte tun wollen, infolge der Sinnlosigkeit dessen dazu nicht imstande gewesen wäre.“
Raskolnikoff erzählt, nachdem Porphyri ihn verlassen hat und er am Ufer der Newa auf und ab geht: „Ich wollte dort Ende machen, aber … konnte mich nicht entschließen …“
Josef K. fragt sich, als die Wärter ihn in ihrer Mitte halten und ihm „die Wertlosigkeit seines Widerstands“ bewußt wird: „… soll ich nun zeigen, dass nicht einmal der einjährige Prozess mich belehren konnte? Soll ich als ein begriffsstutziger Mensch abgehn?“
Das möchte auch Raskolnikoff nicht. Er nimmt Abschied von Mutter und Schwester und von Sonja, und begibt sich schließlich aufs Polizeirevier, um den Mord zu gestehen.
Porphyri hat Raskolnikoff vor seinem Abschied gesagt: „Ich halte Sie für einen von der Sorte Menschen, denen man den Leib aufschlitzen kann, die aber ruhig dastehen und mit einem Lächeln auf ihre Peiniger blicken.“ Was hier nur als Metapher steht, hat Josef K. tatsächlich zu erleiden. K. läßt sich von seinen Peinigern nicht gerade mit einem Lächeln den Leib aufschlitzen, doch erwartet er es in aller Ruhe und „wusste jetzt genau, dass es seine Pflicht gewesen wäre, das Messer, als es von Hand zu Hand über ihm schwebte, selbst zu fassen und sich ein-zubohren“.

In einem Fragment gebliebenen Kapitel beschreibt Kafka eine „Fahrt zur Mutter“, die K. zu unternehmen beabsichtigt. Wie zuerst Raskolnikoffs Mutter, lebt auch Josef K.’s Mutter in einer kleinen Stadt. Raskolnikoff hat seine Mutter zweieinhalb Jahre nicht gesehen, Josef K. die seine drei Jahre nicht. Raskolnikoff bekommt von seiner Mutter Geld geschickt, Josef K. schickt seiner Mutter Geld. Die von K. geplante Reise zur Mutter findet in „Rodion Raskolnikoff“ in umgekehrter Richtung statt – Raskolnikoffs Mutter reist zu ihrem Sohn, zusammen mit seiner Schwester Dunja.
Nach ihrer Ankunft versucht Raskolnikoff Begegnungen mit seiner Mutter zu vermeiden. Die Untersuchung gegen ihn hat längst eingesetzt, die Mutterliebe ist ihm in dieser Situation eher lästig. Im „Process“ denkt Josef K.: „Und würde er überdies die alte Frau nicht erschrecken, was er natürlich nicht beabsichtigte, was aber gegen seinen Willen sehr leicht geschehen konnte, da jetzt vieles gegen seinen Willen geschah …“ Die gleiche Furcht empfindet auch Raskolnikoff. Seine Mutter ist immer wieder erschrocken über das abweisende Verhalten ihres Sohnes, dieser sucht sie zu schonen und von dem Mordprozeß nichts erfahren zu lassen.
Bei Kafka heißt es schließlich: „Und die Mutter verlangte gar nicht nach ihm. Früher hatten sich … die dringenden Einladungen der Mutter regelmässig wiederholt, jetzt schon lange nicht.“
Auch das Verlangen von Raskolnikoffs Mutter, den Sohn zu sehen, lässt zwischenzeitlich nach; seine Zurückweisungen erklärt sie sich dahingehend, dass ihr Sohn sich auf eine Laufbahn als Gelehrter vorbereite, Beweis hierfür ist Raskolnikoffs Artikel über das Verbrechen.
„Ich lese den Artikel, mein Freund, und verstehe selbstverständlich nicht viel; es muß auch übrigens so sein; wie kann ich es auch verstehen? … Aber Rodja, wie dumm ich auch sein mag, ich kann doch verstehen, daß du sehr bald einer von den Ersten, wenn nicht der Erste unter unseren Gelehrten sein wirst“, meint sie.
Im „Process“ ist es K.’s Zimmervermieterin Frau Grubach, die das Verfahren gegen K. mit ähnlichen Worten begründet: „Wenn man wie ein Dieb verhaftet wird, ist es schlimm, aber diese Verhaftung kommt mir wie etwas Gelehrtes vor, das ich zwar nicht verstehe, das man aber auch nicht verstehen muß.“
Man darf sich von dieser fast wörtlichen Übereinstimmung, mit der das Unverständnis geäußert wird, nicht täuschen lassen. Die Schuld, die K. vorgeworfen wird, ist unerforschlich, während Raskolnikoffs Schuld auf der Hand liegt. Die feine Differenz, dass in Raskolnikoff der Gelehrte vermutet wird, bei K. aber, dass seine Verhaftung als etwas Gelehrtes angesehen wird, ist fundamental. Der Gelehrte ist der Schulderfahrene, der alle Nuancen extremer Schulderfahrung an sich beobachten musste – Krankheit, Halluzinationen, Misstrauen, Verfolgungswahn, Suizidgedanken -, während das Gelehrte selbst von dem, der ihm ausgesetzt ist, nicht verstanden wird.
Nach Raskolnikoffs Verurteilung allerdings „wurde immer deutlicher und klarer, daß die arme Mutter etwas entsetzliches ahnte“, sie glaubt jedoch lieber, als dass ihr Sohn ein Mörder sein könnte, er habe „zwei Kinder vor dem Flammentode gerettet“ und wäre lediglich verreist.
Kafkas Formulierung lautet: „In ihrer Meinung würde er nicht sinken, wie auch sonst sein Ansehen Schaden gelitten hatte.“

Kafka hat den „Process“ 1914 geschrieben. Ein direkter Hinweis über die Anlehnung an „Rodion Raskolnikoff“ ist von ihm nicht überliefert. Die in seinem Besitz befindliche Ausgabe des Romans von Dostojewskij ist 1908 erschienen. Alle namentlichen Erwähnungen Dostojewskijs in Kafkas Tagebüchern fallen in die Zeit vom 21. Juli 1913 bis zum 20. Dezember 1914, also in das Jahr unmittelbar vor oder während der Arbeit am „Process“.
Kafka hat auch da, wo Übernahmen aus „Rodion Raskolnikoff“ deutlich zu erkennen sind, nicht einfach abgeschrieben. Die Handlungsabläufe, das Interieur der Räumlichkeiten, die Gestik der Figuren, sind im Verhältnis zu Dostojewskijs Roman meist Variationen unterworfen. Zitate blitzen momentweise auf und verschwinden wieder.
Der „Process“ ist nur äußerlich betrachtet eine Wiederholung von „Rodion Raskolnikoff“. Wo K. das Innere des Gesetzes sucht, trifft er lediglich auf Leere und Infantilität. Dem Gesetz fehlt jede innere Begründung, es bestätigt sich in einer ewigen Steigerung immer nur selbst. Wenn der „Prozeß-Roman die Demontage jeder transzendentalen Rechtfertigung“ ist, so ist „Rodion Raskolnikoff“ deren Inthronisation. Das Gesetz, nach dem Josef K. vergeblich sucht, ist in „Rodion Raskolnikoff“ noch intakt. (In der historischen Zeit wird es 1917 widerlegt.) Raskolnikoffs zumindest angedeutete Läuterung im Epilog des Romans ist Josef K. nicht erreichbar – nicht weil er sich der Einsicht versperrt, sondern weil die Reue eine genau bezeichnete Schuld voraussetzt. Da diese Bezeichnung aber fehlt, heißt es am Ende des Romans, dass die Scham Josef K. überleben wird. Zurückgeworfen auf sich selbst, ohne das Verständnis, das Raskolnikoff durch Porphyri noch zuteil wird, verbleibt Josef K. in seinem Seinsverhängnis. Die Scham bestraft das Sein, sie ist auf das Selbst gerichtet und verschlingt es. Wenn K. das Gefühl hat, die Scham würde ihn überleben, so weiß er, dass es keine Erlösung für ihn geben kann, auch in keinem Jenseits.
Die große Frage, die sich angesichts der motivischen Verknüpfung beider Romane stellt, ist, wie bewusst Kafka diese Form der Komposition gewählt hat. Die wichtigsten dramaturgischen Überschneidungen – dass Josef K., wie Raskolnikoff, bei einer Zimmervermieterin lebt und von deren Köchin versorgt wird, die Rochade Verwandtschaft – Freundschaft, die zu der Bekanntschaft mit dem Advokaten führt, Lenis Aufforderung zum Geständnis, das Verhalten des Advokaten und Titorellis, K.’s Verhältnis zur Mutter – dürften kaum einer bloßen Laune Kafkas zuzuordnen sein. Indem er den unschuldigen Josef K. den Ritualen der Verfolgung und der Observation aussetzte, die an dem Mörder Raskolnikoff bereits erprobt waren, hat er diesmal Dostojewskijs Roman „bereichert um die schärferen Lichter, die ich der Zeit entnommen“. Doch es wäre sicher übertrieben, in allen Textpassagen, die an Dostojewskij erinnern, ein Kalkül sehen zu wollen.
Für Kafkas Schreibweise ist die Äußerung in einem Brief an seine Schwester Ottla über Raskolnikoff erhellend: „Du weißt, der Untersuchungsrichter liebt ihn fast, wochenlang unterhalten sie sich freundschaftlich über dies und das, plötzlich einmal aus einem Witz heraus beschuldigt der Untersuchungsrichter den Raskolnikow geradezu, beschuldigt ihn, weil er ihn eben nur ‚fast‘ liebt, sonst hätte er wahrscheinlich nur gefragt. Jetzt ist alles endgültig zuende glaubt R.; aber davon ist keine Rede, im Gegenteil, es fängt erst an. Nur der Untersuchungsgegenstand, der beiden dem Richter und R. gemeinsame Untersuchungsgegenstand, das Raskolnikowsche Problem, hat für beide ein freieres, erlösenderes Licht bekommen. Übrigens fälsche ich hier den Roman schon.“
Tatsächlich gibt Kafka die Szene zwischen Porphyri und Raskolnikoff – er hat den Brief gut vier Jahre nach dem „Process“ geschrieben – in seiner ganz eigenen Weise wieder. Wochenlang unterhalten sich die beiden nicht, ihre Gespräche erstrecken sich über einen Zeitraum von lediglich vier oder fünf Tagen. Auch ist es nicht unmittelbar die von Porphyri gezeigte Sympathie, durch die sich Raskolnikoff hintergangen fühlt, sondern „Der Gedanke, daß Porphyri ihn für unschuldig hielt, begann ihn zu peinigen“ – wie Josef K. „die wiederholte Erwähnung seiner Unschuld schon lästig“ wird. Raskolnikoff ist längst zu der Erfahrung gelangt, dass der Mord ihn verändert hat, dass er künftig nicht mehr unbelastet mit seinen Mitmenschen wird verkehren können, womit die Strafe, die er auf sich nimmt, nicht nur eine moralische Wertung enthält, sondern tatsächlich, neben dem Freitod, als der einzige Ausweg aus der Schuld erscheint. Deshalb „fühlte (Raskolnikoff) den Andrang eines neuen Schreckens“ bei Porphyris Liebesbeteuerungen; er befürchtet im Grunde, Porphyri könnte ihm die Schuld aberkennen.

Am 30. August 1914, wenige Tage nach Beginn der Niederschrift des „Process“-Romans notiert Kafka: „Kalt und leer. Ich fühlte allzusehr die Grenzen meiner Fähigkeit, die, wenn ich nicht vollständig ergriffen bin, zweifellos nur eng gezogen sind. … Trotzdem ist in diesen Grenzen Raum zum Leben, und dafür werde ich sie wohl bis zur Verächtlichkeit ausnützen.“
Es ist verführerisch, diese Äußerung auf das literarische Verfahren zu beziehen, das Kafka für den „Process“ gewählt hat – einen Subtext „bis zur Verächtlichkeit“ in den eigenen Roman einzuschreiben.

Berlin 1998

Quellenlage

Eine geschlossene Darstellung des hier vollzogenen Vergleichs zwischen „Process“ und „Rodion Raskolnikoff“ ist in der deutschsprachigen Literatur m. W. nicht bekannt.
In der Kafka-Literatur werden zumeist angeführt: J.Starobinski, der in einem Essay von 1950 die Schuldproblematik und die Symbolträchtigkeit des Mobiliars verglich, sowie M.Church (1969) über die ödipale Situation in den Romanen.
In Anmerkungen zum „Process“ hat Hartmut Binder, vor allem im Kafka-Kommentar von 1976, auf eine literarische Beeinflussung von Dostojewskijs Roman auf den „Process“ aufmerksam gemacht. Er vergleicht im Ganzen etwa neun Formulierungen beider Romane, davon sind vier in dem hier vorliegenden Essay ebenfalls verwendet worden und gesondert gekennzeichnet.
Zuletzt erschienen: W.J. Dodd, „Kafka and Dostoyevsky“, Macmillan 1992, jedoch in starker Anlehnung an Hartmut Binder, sowie „Kafka’s Trial as an Artistic Response to Dostoyevsky’s Crime an Punishment“ von Roy Shelton, Tennesee 1994, Dostoevskian Thought and Rhetori-cal Strategy in Trial“ von Glenn Sandstrom, Philadelphia 1991, „Kafka and Dostoevsky as ‚Blood Relatives'“ von Roman.S.Struc, Knoxville 1981

Presse: „Wie Kafka Romancier wurde“
Joachim Kaiser, 10.11.1998, DIE ZEITSCHRIFTENSCHAU:
„… ein alle Kafka-Bewunderer bestimmt faszinierender oder aufregender Aufsatz, der zwingend belegt, daß Kafka seinen Prozeß-Roman offenbar als Literatur über Literatur, hier als Negativ-Variation über Dostojewskijs Raskolnikoff-Roman, ‚Schuld und Sühne’, geschrieben hat.“

SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, 19.09.2001
„An zwei Enden brennen – Eine Loccumer Tagung über Dostojewskij und die Prophetie“
„Der Struktur nach polyphon und offen in der Form, ist sein Werk poetologisch nach allen Seiten anschlussfähig, wie auch der Berliner Schriftsteller Christoph D. Brumme durch eine fulminante Parallellektüre des ‚Raskólnikov’ und Franz Kafkas Roman ‚Der Prozeß’ nachwies: Der minutiöse Vergleich der Handschriftfassung des ‚Prozeß’ mit der kurz vor dessen Entstehung gelesenen Übersetzung von Dostojewskijs Roman brachte eine ganze Reihe frappierender, nahezu spiegelbildlicher Anleihen und Anverwandlungen zutage, so dass die alte Frage, worin die Schuld des Josef K. eigentlich bestanden haben soll, endlich beantwortet werden kann: Seine Schuld war die Literatur, die auch schon Dostojewskijs Schuld und Sühne war.“

Siehe auch:http://www.kafkaesk.de/106.html

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