Russland – Ukraine
Dritter Kriegswinter: die Ukraine zwischen Hoffnung und Zermürbung
Mein heutiges Interview für den Hessischen Rundfunk, ab Min. 6:50
https://shorturl.at/40eSZ
Dienstreise
Poltawa, 19.11.24
Vorfreude: Diese Woche fahre ich wieder in den Oblast Charkiw, „in den Schatten heißer Linien“, um Freunde und Kämpfer zu treffen, Veteranen und Versehrte. Sie bauen dort ein Reha-Zentrum auf, vielleicht kann ich helfen mit Ratschlägen und Kontakten, schaun wir mal, die Gastgeber hoffen es. Gut, dass ich mal wieder aus meiner Komfortzone herauskomme. Poltawa ist derzeit fast zu schön; weißes Herbstlicht auf weißen Häusern, da schmerzen manchmal die Augen.
Was mich oft wundert: Eigentlich müssten die älteren Ostdeutschen den Krieg hier besonders gut verstehen. Weil sie den Unterschied zwischen Drohung und Bedrohung noch aus der Zeit der deutschen Teilung kennen sollten. Die alte BRD drohte der DDR nicht, schon gar nicht militärisch. Aber sie war doch die schlimmste Bedrohung für die Existenz Ostdeutschlands, dank ihrer Attraktivität, ihrer Freiheiten und wirtschaftlichen Erfolge, ihrer geilen Musik, ihrer schönen Autos etc. Je friedfertiger, bunter, verspielter und selbstverliebter, desto bedrohlicher für die Macht der Greise in der DDR.
Das gleiche gilt heute für den Westen und die Ukraine im Verhältnis zu Russland. Je freier, friedlicher und erfolgreicher die westlichen Modelle, desto bedrohlicher für Russland. Dafür muss ihm niemand militärisch drohen.
Putin hat das übrigens erkannt, indem er (im Interview mit Kissiljow) sagte, dass die Leute, die sich im Westen für Verhandlungen und für friedliche Kompromisse einsetzen, für Russland gefährlicher seien als diejenigen, die mehr Waffenlieferungen fordern. Die Pazifisten sind für Putin-Russlands Existenz gefährlicher als die „Bellizisten“. Erstere wollen Russland wieder „einlullen“ und zum friedlichen Wettbewerb verführen – wo Russland wie die DDR gegenüber der BRD den Kürzeren ziehen wird. Aber die „Waffenlieferanten“ glaubt man mit Gewalt bezwingen zu können, zur Tributpflicht zwingen zu können. Irgendwann werden sie ja doch zurückzucken und einknicken, so die Rechnung.
Moderne Mythen
Ein beliebtes Argument der Möchtegern-Pazifisten und „Friedens-Mainfest-Unterzeichner“ in Deutschland: die USA hätten den Maidan finanziert, lt. Victoria Nulands Äußerung über die 5 Milliarden Entwicklungshilfe.
Hochgerechnet waren das monatlich ca. 47 Euro-Cent pro Ukrainer, von 1991 – 2013. Dafür haben die Ukrainer ihre Atomwaffen abgegeben. Die 47 Cent für Ukrainer bewerteten in Deutschland u.a. westlichen Ländern „engagierte Prominente“ als Beweis für ein langjähriges intrigantes Verhalten der USA.
Bei vielen Zeitgenossen erinnert die Art und Weise, wie sie Argumente vortragen, an Berggorillas – brusttrommelnd, um die eigene Kampfkraft zu signalisieren. „Ich habe Recht“ ist wahrscheinlich der häufigste Satz der Epoche.
PS: Wieder Luftalarm. Der Heulton der Sirenen ist die meistgespielte Musik unserer Zeit.
Kommentar Jens Piske:
Wenn ich es richtig in Erinnerung habe, hat die Ukraine in dem Zeitraum die 5 Milliarden bekommen, Russland jedoch 20 Milliarden. Und wieder einmal sieht man deren Dankbarkeit.
Meine Antwort:
Die ruzzen haben ja von den USA Geld bekommen für die Verschrottung der ukrain., kasach., belarus. Atomwaffen. USA haben ruzzland das Monopol an Nuklearwaffen zugestanden. Statt „Herrsche und teile!“ zu praktizieren.
Aber gut, Georg Bush d.Ä. hat ja vor dem Kyiver Parlament den Ukrainern sogar geraten, keine Unabhängigkeit anzustreben !!! Und im Westen erzählen die Friedenschwurbler, die USA hätten die Unterstützung der Ukraine langfristig als anti-ruzz. Projekt betrieben. Irre.
1000 Tage
Poltawa, 18.11.2024
1000 Tage heißer Krieg, arbeitsteiliger Kampf um Leben und Tod, Freiheit oder Sklaverei, Sein oder Nichtsein. Ein makabres Jubiläum, aber es wird nicht das letzte sein. Der Aggressor wird nicht klein beigeben, wenn er nicht dazu gezwungen wird, nicht bloß: gezwungen sein wird. Russlands illegitimer Präsident würde wie Hitler im Bunker noch Armeen befehlen, die gar nicht mehr existieren oder deren „zerschlagene Reste“ in sumpfigen Landschaften umherirren.
Derzeit genießen die Banditen im Kreml die Ängstlichkeit der reichen Westler, die aus russischer Sicht „in Schokolade leben“. Wie Stalin ist auch der jetzige Kriegsherr im Kreml vor allem Sadist, dann erst Marxist oder Nationalist. Die Frage, ob er im klinischen Sinne verrückt oder in irgendeinem menschlichen Sinne berechenbar und ein rational Handelnder sei, wird im Westen leider immer wieder mit dem schematischen Entweder-Oder-Maßstab diskutiert. Dabei schließt das eine ja das andere nicht aus. Auch Serienmörder handeln innerhalb ihrer Wahnsysteme rational und effektiv.
Im Westen übersieht man bei der Ergründung der Ursachen des Krieges in unschöner Regelmäßigkeit die Sphären Geschichte und Ökonomie.
1. Zur Kontinuität russischer Gewaltgeschichte: Der Holodomor, die staatlich verordnete Tötung durch Hunger, der in den 1930er Jahren mindestens drei Millionen Ukrainer zum Opfer fielen, wurde in Moskau in den gleichen Gebäuden geplant und organisiert, in denen der heutige Genozid an den Ukrainern geplant und organisiert wird, im Kreml und in der Lubjanka. Der „Ehrentag“ des russländischen Inlandsgeheimdienstes ist der Geburtstag des Gründers der Tscheka, Stalins erster Henker Feliks Dzierżyński. Der Holodomor wurde inzwischen (2021) auch vom verschnarchten Deutschen Bundestag als Völkermord anerkannt. Den derzeitigen Genozid wird demnach ein Bundestag in 90 Jahren als höchste Form des Verbrechens einstufen.
2. Um Putin-Russlands ökonomische Kosten-Nutzen- oder Gewinn-und-Verlust-Rechnung zu verstehen, benötigt man Fachwissen, das auch unter den besten westlichen Analytikern selten ist, deshalb ist es nicht erstaunlich, dass diese Sphäre unterbelichtet ist.
PS. Ich bereite mich auf ein Interview für den Hessischen Rundfunk vor. Derzeit ist wieder Luftalarm. „Aktivität der feindlichen taktischen Luftwaffe!“
Hysterie in Moskau
Im westlichen Ausland wird oft über Schwierigkeiten der Ukrainer berichtet. Manche Zeugen des Sofas erzählen seit Beginn der großflächigen Invasion, dass die Ukrainer überhaupt keine Chance hätten sich zu verteidigen. Deutsche Reporter, die mal für ein paar Tage ins Land kommen, verfassen gern „Stimmungsberichte“ und glauben feststellen zu können, dass „die Stimmung“ immer schlechter werde.
Was passiert währenddessen auf russischer Seite? Um das zu beurteilen genügt es nicht, materielle / militärische Ressourcen zu vergleichen. Wichtig ist es m.E., die sich verschärfenden antagonistischen Widersprüche zu untersuchen. Das habe ich für die NZZ getan.
„Je länger der Krieg dauert, desto weiter klafft der Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit auseinander, zwischen den deklarierten Kriegszielen «Denazifizierung» und «Demilitarisierung» der Ukraine und den peinlichen militärischen Erniedrigungen, die Russlands Armee in diesem Krieg schon kassieren musste.
Geplant war ein räuberischer Spaziergang, ein Blitzkrieg mit fetter Beute, bestehend aus strategisch wichtigen Rohstoffen und 33 Millionen Hektaren Ackerfläche, aus Seehäfen, Fabriken und Immobilien, und auch mit Millionen treu ergebener Untertanen. Doch die Ukrainer wollen keine Panzer in ihren Gärten haben und keine fernöstlichen Plünderer in ihren Wohnungen. Sie wollen nicht geknechtet und nicht mit Sprech- und Sprachverboten eingeschüchtert werden und nicht rechtlos in einem unerbittlichen Staatswesen leben. Mehr als 300 Jahre russischer Kolonialgeschichte waren für sie eine blutige Lehrzeit, mit unzähligen von Moskowitern angeordneten Massenmorden und Massendeportationen.“
https://www.nzz.ch/meinung/wer-schuetzt-den-himmel-ueber-russland-die-ukrainer-fuehren-den-kreml-vor-ld.1849190
Notizen zum Krieg (13) – Wichtigste Eigenschaften und Widersprüche der wichtigsten Protagonisten
1. Russland: Kann im friedlichen Wettbewerb nicht mit anderen Ländern mithalten, deshalb greift es zu Mitteln der Gewalt – gemäß seiner Tradition und seinen Fähigkeiten. Im Kreml und in der Geheimdienstzentrale und Folterhölle Lubjanka wurde in den 1930er Jahren der Genozid „Holodomor“ in der Ukraine geplant, organisiert, verwaltet; heute wird dort Genozid „Cholodomor“ geplant, organisiert, verwaltet. Tötung durch Hunger oder Tötung durch Kälte, Bomben, Giftgas – die Mittel wechseln im Laufe der Zeiten, die Ziele Vertreibung und Ausrottung der einheimischen Bevölkerung aber nicht.
…weiterlesen »Heiße Eisen, nasse Sachen – Handwerk der Spionage in diesem Krieg
Poltawa, 29.09.2024
Ich sehe seit Wochen die Videos von E.M. aus dem Chatroulette. Ein Ukrainer, der vorgibt ein Oberst aus ruzzland zu sein. Er spielt die Rolle perfekt, sitzt in Camouflage vor der Kamera, im Hintergrund ein Foto vom putler. Er beherrscht die Jargons der ruzzkis, „verbrüdert“ sich rasch mit ihnen, verführt sie zum Trinken. Selbst russländische „Krieger“, die anfangs mit verhülltem Gesicht mit ihm sprechen, ziehen nach einigen Minuten ihre Masken ab, so überzeugend spielt E.M. ihnen vor, er sei einer der Ihren. Er macht ihnen Komplimente, lädt sie in seine angeblichen Restaurants in Moskau und Rostow-na-Donu ein. Und so plaudern sie mit ihm, gestehen Kriegsverbrechen, die Erschießung von Gefangenen.
Notizen zum Krieg (12) – Du sollst ein rotes Wortes nicht färben
20.09.2024
Notizen zum Krieg (12) – Du sollst ein rotes Wortes nicht färben
Mein Leben wäre deutlich leichter, wenn ich kein Deutsch verstehen würde. Unter den Worten, die mir körperlich weh tun, sind die weitaus meisten deutsche, auch etliche russische, und nur wenige ukrainische. Letztere solche, die mit Trauer verbunden sind, und russische vor allem Mutterflüche. Im Deutschen lösen schon solche unschuldigen Worte wie „Verhandlungen“ oder „Stimmung“ Zahn- und Kopfschmerzen in mir aus; manche auch Lach- und Schreikrämpfe, wie z.B. „Frieden“.
Macbeth aus Moskau – der Krieg als Tragödie
Notizen zum Krieg (9), 25.07.2024
Das Erdöl sträubt sich gegen die Einteilung in fünf Akte, wusste Bertolt Brecht. Es ist an zu vielen Orten und in zu vielen Formen gleichzeitig. Man kann es nicht in die Tasche stecken, im Gegensatz zu Gold- oder Silbermünzen oder Edelsteinen. Sein symbolischer Gehalt ist gering, sein Anblick nicht verführerisch, man will es nicht trinken oder wie einen Ring oder ein Armband auf der Haut tragen.
Um Erdöl wurden Kriege geführt, aus Erdölprodukten wurden Erdöl verarbeitende Industrien aufgebaut, die Erdöl verbrauchende Produkte herstellten, die Erdöl verbrauchende Infrastruktur benötigten, ebenso wie für die Entsorgung der Erdölprodukte. Heute verbraucht die Menschheit ungefähr 15 Milliarden Liter Erdöl pro Tag.
Jürgen Habermas auf hohem Ross
Notizen zum Krieg (8), Poltawa, 24.07.2024
Kein guter Start in den Tag. Kaum geschlafen. Zwei Mal bin ich kurz nach dem Einschlafen von den Sirenen geweckt worden. Dazu die Hitze in der Wohnung (28 – 29 Grad) und die sirrenden Blutsauger.
Nach dem Frühstück Interview für den Hessischen Rundfunk, der Moderator Sebastian Schreiber war sehr sympathisch und kompetent. Nur mir kam alles banal vor, was ich sagte. Keine originellen Formulierungen. Ich konnte wählen, Aufzeichnung oder Live, und wählte die Aufzeichnung, was ein Fehler war, mir fehlte die Anspannung.
Der Moderator fragte u.a., warum ich weiterhin in Poltawa lebe. Ich sagte das Übliche (Helfen können, Freunde nicht im Stich lassen, auch: Anerkennung und Respekt für mein Hierbleiben zu bekommen – wie z.B. gestern auf dem Markt von einer Salat-Verkäuferin).
„Sie nehmen das achselzuckend zur Kenntnis“- Deutscher in der Ukraine über Reaktionen auf NATO-Gipfel
Beim NATO-Jubiläums-Gipfel in Washington ist auch der ukrainische Präsident Selenskyj. Die Ukraine gehört dem westlichen Verteidigungsbündnis nicht an, und doch wurde Selenskyj weitere Unterstützung im Kampf gegen den Aggressor Russland versprochen. Wie das alles bei den Menschen in der Ukraine ankommt, das hat SWR-Aktuell-Moderator Jonathan Hadem den Schriftsteller Christoph Brumme gefragt. Er lebt in Poltawa in der Ukraine.
https://www.ardaudiothek.de/episode/swr-aktuell-im-gespraech/sie-nehmen-das-achselzuckend-zur-kenntnis-deutscher-in-der-ukraine-ueber-reaktionen-auf-nato-gipfel/swr-aktuell/13547125/