Russland – Ukraine
Poltawa, 12.05.2025
Im Chatroulette erzählt ein Mann aus Kaliningrad, dass eine Bekannte von ihm ihren Sohn in den Krieg geschickt hat. Bald wurde er Sohn getötet, sie bekam eine hohe Prämie, 13 Millionen Rubel. Endlich könne sie normal leben, erzählte sie und eröffnete ein Geschäft, wovon sie schon lange geträumt hatte: ein Geschäft, in dem „Lippen gemacht“, also wohl mit Hyaluronsäure aufgespritzt werden.
Ob der Sohn ein Alkoholiker gewesen war, das wusste der Mann aus Kalingrad nicht, er kennt nur die Mutter. Falls ja, so hätte der Sohn ja im Sinne des illegitimen Präsidenten gut gehandelt – lieber fürs Vaterland sterben als an Alkoholismus.
Freiheit und Rohstoffe – Putins Russland fühlt sich zu Recht vom Westen bedroht
Nein, der Westen bedroht die russische Sicherheit nicht. Trotzdem fühlt Putins Russland sich zu Recht vom Westen bedroht – so wie die Bundesrepublik seinerzeit auch eine Bedrohung für die DDR darstellte.
Mein neuer Artikel bei N-TV:
Wäre der Krieg in der Ukraine nicht so blutig, so könnte man ihn als absurdes Theaterstück begreifen, in dem alle Protagonisten überfordert sind, alle an ihren Aufgaben scheitern und ihre eigenen Handlungen nicht begreifen – mit Ausnahme der geschändeten Ukraine.
Das war knapp
Poltawa, 23.04.2025
Bisschen makaber: Ich höre vorm Einschlafen „Den Tod verstehen und akzeptieren – mit Dr. Mark Benecke». Er ist Deutschlands bekanntester Kriminalbiologe und ein faszinierender analytischer Denker. Ich habe schon einige Vorträge von ihm gehört, so über das Artensterben und über den Gerichtsmediziner Otto Prokop, der, obwohl Österreicher, in der DDR Lehrstuhlinhaber an der Charité gewesen war und zusammen mit Gerhard Uhlenbruck das ungemein wichtige „Lehrbuch der menschlichen Blut- und Serumgruppen“ schrieb.
Nach ca. der Hälfte des Gesprächs bin ich aber doch müde, schalte das Notebook aus, presse mir die Ohropax-Stöpsel in die Ohren und möchte schlafen. Da ertönt das mir inzwischen gut bekannte Geräusch eines „fliegenden Mopeds“, einer Shahed-Drohne. Ich öffne die Ohren; das knatternde Geräusch wird lauter und lauter, als würde es direkt auf mich zukommen. Habe ich Idiot etwa die Geolokalisierung eingeschaltet? Dann ein lauter Knall, zitternde Wände, das Klirren von Fensterscheiben. Es könnte das Nachbarhaus getroffen sein oder das eigene in den oberen Etagen. Draußen laufen einige Menschen auf die Straße. Ich ziehe mich an, nehme den Notfall-Rucksack, gehe ebenfalls raus. Nach einigen tastenden Schritten – ist eigentlich Sperrstunde? – knirscht Glas unter meinen Schuhen. Schon in unserem Nachbarhaus sind etliche Fensterscheiben zerbrochen. Von dort aus sehe ich auch schon den Ort des Einschlags, ein Haus, in dessen Erdgeschoss kürzlich noch ein Geschäft gewesen war, in dem ich regelmäßig einkaufte. Nun brennt es „licherloh“ vom Dach an abwärts. …
„Wer hat euch erlaubt, besser zu leben als wir?“
Poltawa, 21.04.2025
Gestern langes Gespräch mit Lena, deren Gatte Pascha seit neun Monaten vermisst wird. Sie wirkt deutlich gefestigter als bei unseren vorigen Treffen. Die beiden hatten eine solch symbiotische Form der Liebe, dass man sie dazu nur beglückwünschen konnte. Sie küssten sich leidenschaftlich, und sie stritten leidenschaftlich, und manchmal knurrten sie sich nur an; aber es war offensichtlich, dass sie nicht ohne einander sein konnten.
Nachdem Pascha von einem Kampfeinsatz in heute besetzten Gebieten nicht zurückgekehrt war, brauchte Lena Zeugen, die ihre Liebe notariell bestätigten, da sie nicht standesamtlich verheiratet gewesen waren, um die Witwenrente oder irgendwelche „Entschädigungszahlungen“ zu erhalten. Sie gab auch mich als Zeugen an, und ich bezeugte natürlich die Wahrheit.
Ob Pascha noch lebt? In unseren Herzen ganz sicher, denn solch einen einzigartig leidenschaftlichen Menschen kann und möchte man nicht vergessen. Obwohl wir beide uns „vom Sehen“ schon seit dem Jahre 2007 kannten, seit meiner ersten Radreise nach Poltawa, freundeten wir uns erst während des Krieges an, nach der Aufhebung des Alkoholverbots im Frühjahr 2022. Bis dahin hatte ich es vermieden, in den „Kern“ der philosophischen Gesellschaft im Biergarten einzudringen, denn ich ahnte: Diese Stammgäste könnten mich mit ihrer Liebe, Aufmerksamkeit und Neugierde erdrücken. Und ich fürchtete, mich vom romantischen zum Gewohnheitstrinker zurückzuentwickeln. In den ersten Kriegsmonaten war mir das dann aber völlig egal. Da man sowieso jeden Moment ermordet werden konnte, konnte man auch bis zum letzten Moment fröhlich sein. Und im Krieg sind Gemeinschaften ja ungeheuer wichtig; es tut gut, einander zu helfen; Selbstlosigkeit erhöht die Lebenschancen; Einsamkeit dagegen ist ein schreckliches Gift.
So lernte ich dann in Paschas Biergarten viele mir inzwischen sehr wichtige Menschen kennen und lieben.
Im Krankenhaus erzählte mir eine Putzfrau, dass sie im Donbas eine Zeitlang unter ruzzländischer Besatzung gelebt habe. Sie habe einen Besatzer wütend gefragt, was die hier wollten. Der ruzze habe geantwortet: „Wer hat euch erlaubt, besser zu leben als wir?“
Eine Begründung für die Invasion, die man ja schon oft gehört hat. Dem sklavischen Bewusstsein muss jemand eine Erlaubnis dafür erteilen, gut zu leben. Der Vergleich „besser / besser als wir“ ist aber gar nicht so sinnlos, wie er sich anhört. Tatsächlich haben mutige Ukrainer immer wieder, wie auf dem Maidan, unter Einsatz ihres Lebens dafür gekämpft, nicht so leben zu müssen wie die ruzzländischen Geschöpfe – nicht rechtlos vor Gericht, nicht hilflos gegenüber räuberischen Polizisten, sondern als freie Individuen. „Wer hat euch erlaubt, frei zu sein?“, das bedeutet die Frage des Besatzers ebenfalls.
Luftalarm.
Das Herz u.a.
Poltawa, 20.04.2025
Beleidigende und kostbare Erfahrung: Ich bin nicht unsterblich. Gevatter Tod hat mir seinen stinkenden Atem ins Gesicht geblasen. Die Pumpe pumpte nicht so wie sie es immer getan hatte. Krankenhäuser kannte ich bisher nur als Besucher – nur für das Herausreißen der Mandeln im Alter von acht Jahren hatte man mich dort mal interniert. Nun der Schock: Mein Herz ist doch nur so schwach wie ein Spielzeughämmerchen. Lange schon vorbei die Zeit, da ich 340 Kilometer in einer 24-Stunden-Etappe mit Gepäck auf dem Fahrrad radeln konnte.
Ausgerechnet am Karfreitag wurde ich aus dem Krankenhaus „in die Freiheit“ entlassen. Der erste bekannte Mensch, den ich zufällig auf dem Basar traf, war Freund Vitja „Tankist“. Er musste ins Krankenhaus (!), um dort ein ärztliches Attest abzugeben. Seine Rehabilitation nach seiner Verwundung an der Donbas-Front ist immer noch nicht abgeschlossen. Nach diesem Termin hatte er freie Zeit, und wir verabredeten uns bei mir zu Hause.
Vitja ist in seiner gesamten Erscheinung, in all seinen Eigenschaften und Verhaltensweisen, ziemlich genau das Gegenteil eines „Kriegers“, wie man ihn sich gemeinhin vorstellt – stets freundlich, nie aufbrausend oder fluchend, nie grob vereinfachend. Auf primitive Meinungen anderer antwortet er wie ein geschulter Psychologe, indem er die dumme Äußerung freundlich wiederholt und dann auf die Vielzahl der Möglichkeiten verweist, die man außerdem noch prüfen oder erörtern könnte.
Nun, wir tranken etwas Piraten-Rum und redeten vor allem darüber, was für ein seltsamer, teils chaotischer Organismus das ukrainische Militär derzeit ist und sein muss. Viele Menschen haben ja ideale Vorstellungen vom „großen Ganzen“ und suchen Schuldige für das Versagen des Systems, eine Garantie für unstillbare Unzufriedenheit. Vitja ist viel zu weise und erfahren dafür, sein Sinn für Komik ist dafür viel zu stark ausgebildet. Ich glaube, er genießt es auch als Absurdität, dass er die gefährlichen Kämpfe überlebt hat, denn ein paar Mal war das „sehr knapp“ gewesen.
Wir spazierten dann ins Zentrum und trafen Artjom, der einen kurzen Urlaub bekommen hatte. Er ist zwar in Frontnähe stationiert, aber dort erfüllt er technische Aufgaben, wie es seinen Begabungen entspricht. Geschossen hat er bisher nur auf Trainingsplätzen.
Während die beiden Freunde übers Militärische fachsimpelten, probierte ich schon Formulierungen aus für das Radio-Gespräch bei Bremen 2 am nächsten Tag. Das lief tatsächlich ganz gut, und es war mir ein Vergnügen, in der Live-Sendung die Verhandlungen mit den ruzzländischen Staatsterroristen als „absurdes westliches Theater“ zu verspotten. Der Redakteur war auch sehr angetan und hätte gern länger mit mir geplaudert, versicherte er mehrmals ziemlich glaubwürdig.
Leider ist der Krieg für mich ja kaum noch eine intellektuelle Herausforderung, so zynisch es klingen mag, dass er eine sein sollte. Ich wundere mich zwar oft darüber, dass im Westen nach wie vor das Wesen des Putinismus als viel zu lieblich und human definiert wird und dass diese närrischen Selbstgespräche über Hoffnungen auf Frieden so populär sind, aber die Gründe dafür zu begreifen ist ja eigentlich auch nicht schwer.
Gestern Abend war ich noch im Kulturzentrum, wo Sascha seinen Geburtstag feierte, u.a. mit einem Vortrag über die britische «Post-Punk- und Synthie-Pop-Band“ Japan, von der ich natürlich noch nie etwas gehört hatte. Diese Abende dort sind eigentlich immer inspirierend und (ent-)spannend. Jeder Mensch trägt ein Universum in sich, das spüre ich dort immer wieder (oh je, bisschen verkitscht gesagt).
PS. Faszinierend, wie gut die Behandlungen im Krankenhaus waren. Ich kann aber öffentlich nicht darüber berichten, sonst, so meinte Vitja, würde ich den „Medizintourismus aus Deutschland“ fördern.
Kriegsgründe
Poltawa, 01.04.2025
Bei Facebook schreibt ein an sich kluger Geist, die „Hauptursache“ des Krieges sei ein „Sicherheitsdilemma“. Im Schach würde jemand, der in einer durchschnittlich komplizierten Situation nur eine Hauptvariante erkennt, nicht einmal in der Kreisklasse mithalten können. So antworte ich dem Mann:
Unter den zehn wichtigsten Hauptursachen des Krieges dürfte ein militärisches „Sicherheitsdilemma“ an letzter Stelle stehen. Die für Russlands Existenz als Zentralstaat und Kolonialreich schlimmste Gefährdung dürften knallharte ökonomische Gründe sein, die man im Westen aufgrund enormer Wissenslücken beständig übersieht, so bspw. die Folgen des Green Deal zwischen der EU und der Ukraine, womit Russlands wichtigstes Geschäftsmodell, der Verkauf fossiler Brennstoffe und Energieträger, in absehbarer Zeit nicht mehr aufrechtzuerhalten wäre. Außerdem war die Ukraine für Russlands kriminelles Kapital eine ideale Geldwaschmaschine. Je besser die Ukraine in die EU-Wirtschaften und Rechtspraktiken integriert wird, desto schlimmer für Russland. Will man die Kriegsgründe verstehen, so sollte man zunächst Russlands ökonomische Kosten-Nutzen-Rechnung studieren – und bspw. den Wert der Kriegsbeute abschätzen, die Russland mit einem Sieg zu gewinnen hofft, worin eingeschlossen sind: Bodenschätze, Rohstoffe, Wasser für die Krim, Anbauflächen für Getreide, Häfen, Fabriken, Immobilien, Arbeitskräfte.
Eigentlich sollte man in Deutschland den Unterschied zwischen Drohungen und Bedrohungen sehr gut verstehen, nämlich aus der Zeit des Kalten Krieges. Die alte BRD hat der DDR kaum gedroht, schon gar nicht mit militärischen Mitteln, dennoch war sie die schlimmste Bedrohung für die Existenz der DDR – aufgrund ihrer wirtschaftlichen Attraktivität, ihrer Innovationsfreudigkeit, ihrer Freiheiten in Kultur, Sport und Kunst. Dies gilt auch für den heutigen Krieg – die Ukrainer „drohten“ zuletzt sogar materiell besser zu leben als die Russen; eine schwerere Kränkung ist für die selbsternannten ewigen Sieger kaum denkbar. Putin-Russland fühlt sich vom Westen erniedrigt, weil es sich objektiv gesehen in einer erniedrigenden Position gegenüber dem Westen u.a entwickelten Nationen befindet. Es kann im friedlichen Wettbewerb mit anderen Ländern nicht mithalten, deshalb will es mit Mitteln der Gewalt die Entwicklung im „nahen Ausland“ be- bzw. verhindern. Es kann im Krieg mehr gewinnen als es im Frieden verlieren würde. Russlands Sicherheit wurde vom Westen stärker durch Softpower, Popkultur und Heiratstourismus bedroht als von westlichen Armeen, die sowieso nie die Absicht hatten Russland anzugreifen.
Drohnen in der Nacht
Poltawa, 30.03.2025
Gestern auf dem Heimweg habe ich regelrecht Hass empfunden; ein Gefühl, das ich sonst ja zu vermeiden suche, selbst angesichts der schlimmsten Greueltaten. Hass mindert bekanntlich die eigene Souveränität; Hass fressen Seele auf.
Auslöser für den Hass waren die über unserer Stadt fliegenden Drohnen der ruzzen, welche deutlich zu hören waren, wie auch das Abwehrfeuer unserer Verteidiger. Bereits in der Nacht vom 27. auf den 28. März hatten die ruzzen 13 Drohnen gezielt auf Wohngebäude sowie Unternehmen der Öl- und Gasindustrie bei uns in Poltawa geschossen.
Eine gute Bekannte ist neulich mit ihrer pflegebedürftigen Mutter nach Deutschland ausgereist, und sie klagte gestern, wie schwer ihre Sitution dort sei. Als ich ihr schrieb, sie möge vielleicht doch zurückkommen, hier haben sie doch ein großes Haus, da antwortete sie:
„In Poltawa kann es sein, dass man nach nächtlichem Beschuss nicht mehr aufwacht. Am 8. März um Mitternacht wurden wir so sehr beglückwunscht, dass in meiner Straße, 150 Meter von meinem Haus entfernt, die Fenster herausflogen und das Feuer zwei Tage lang gelöscht wurde.“
Ich musste an die vielen senil-konfusen Diskussionen in Deutschland denken, womit und in welchem Umfang man den Menschen in der Ukraine helfen solle. Ich wünschte mir, dass einige der Unschuldigen mit den blutigen Händen zusammen mit mir durch den nächtlichen Park nach Hause gehen müssten, begleitet vom Sirren des Todes. Nichts ekelt mich so sehr wie diese „Unschuld“ der „Unterwerfungspazifisten“ (R.Fuecks), derer, die sich einbilden, die Lage hier bei uns beurteilen zu können und moralisch sich gebende Empfehlungen auszusprechen; eben ihre Hände in Unschuld zu waschen. Einige dieser öffentlich bekannten Figuren kenne ich ja persönlich. Manchen gestehe ich sogar zu, dass sie nicht wissen, was sie tun; aber unverzeihlich ist, dass sie es nicht wissen wollen – dass es ihnen an Demut fehlt, weil ihre Eitelkeit die Fähigkeit zur Selbstkritik einschläfert. Ihre gequetschten Gefühle sind ihnen wichtiger als das Leid der Ukrainer.
Ekel ist ein weit produktiveres Gefühl als Hass.
Dabei war es bis zum Heimweg ein gelungener Tag gewesen, mit groartigen Gesprächen und feierlichen Reden. Wahrscheinlich habe ich noch nie so viele Komplimente gehört wie gestern anlässlich meiner Ausstellung, so viele Respektbezeugungen, darunter auch von geschätzten künstlerischen Autoritäten. Ich war allerdings selbst verblüfft, wie stark die Fotos angesichts dieser klugen, aufwendigen Präsentation wirkten – vom Team „Kultura“ hatten sechs Menschen ihre Ideen eingebracht und bei der Vorbereitung geholfen, und das zahlte sich aus.
Die Schokoladentorte
Poltawa, 26.03.25
Ziemlich brutale Reise von Poltawa über Polen nach Slowjansk und zurück
Bei Isjum sind wir ins Feuer der Russen geraten. Wir fahren durch die Nacht, da leuchtet der Himmel mehrmals rot, vor uns die Einschläge der Drohnen der ruzzen, 14 in einer Stunde, wie die Agenturen später melden. Beiderseits der Straße größere Feuer, ein Wald brennt, ein Gehöft brennt. Wir fahren schon seit 16 Stunden.
Das Auto fährt sich leicht, man bekommt schnell das Gefühl, dass man der deutschen Ingenieurskunst vertrauen kann. Nichts klappert oder stört, die Armaturen sind übersichtlich, alles erscheint sinnvoll, wie mit einer bestimmten Aufgabe betreut, kein Schickschnack. Es ist ja ein Arbeitsmittel, zumal ein eingefahrenes.
Eigentlich könnten wir schon am Ziel in Slowjansk sein, aber Gentleman Serjosha wollte für seine Kollegin eine Schokoladentorte kaufen, nicht irgendeine, sondern von einer bestimmten Firma. Die hat sie sich gewünscht, die soll es sein. Wir suchten in drei Supermärkten in Poltawa und am Stadtrand von Charkiw, in allen gab es Schokoladentorten, aber nicht die von der Kollegin geliebten.
Ich sage zu Serjosha, dass ich das den Deutschen erzählen muss, dass wir hier nicht panisch durch die Nacht fahren, sondern eine bestimmte Schokoladentorte suchen, um einer Krankenschwester einen Wunsch zu erfüllen. Es kommt mir so vor, als ob ich lallend spreche, wie besoffen vor Müdigkeit.
Die Fenster des Marktes bei Charkiw sind mit Sandsäcken geschützt, gut 2,50 Meter hoch. Gleich am Eingang ein Schrank mit Büchern, das freut mich. Unter tausenden ess- und trinkbaren Produkten also auch lesbare. Märchenbücher für Kinder, Erinnerungen eines Hollywood-Schauspielers und, wenig überraschend: eine Biografie über Winston Churchill, den wahrscheinlich populärsten Politiker in der Ukraine. Keine Gedichte, auch nicht von Serhij Schadan.
Dieses Angebot an Waren, so dicht an der Front, spät in der Nacht – ein Wunder an Organisation, Fleiß und Souveränität.
„Waffenruhe“? – Mein Interview für Schweizer Radio, vom 13.3.25
Christoph Brumme lebt seit 2016 in Poltawa und erlebt den Krieg hautnah. Die Reaktion der Menschen auf den Vorschlag sei eindeutig, sagt er: «Die meisten glauben nicht, dass Russland die Waffenruhe wirklich will oder sich daran halten wird. Man kennt die Russen. Sie haben immer wieder Vereinbarungen gebrochen.»
Selbst wenn es für kurze Zeit ruhig bliebe, würde das wenig an der Realität ändern. «Beide Seiten würden sich auf den nächsten Angriff vorbereiten», meint Brumme. In der Ukraine verschwende man deshalb keine Energie auf diese Vorstellung. «Das ist eher ein Selbstgespräch, das im Westen geführt wird.»
Gewachsenes Vertrauen in die Regierung
Während der Krieg weitergeht, hat Präsident Wolodimir Selenski in der Ukraine an Ansehen gewonnen – besonders nach seinem jüngsten Besuch in Washington. Dort hatte er sich offen gegen Donald Trump und dessen Vizepräsidenten positioniert, was ihm im Westen Kritik, in der Ukraine aber Respekt einbrachte. Und: «Ukrainerinnen und Ukrainer müssen sich den Tatsachen stellen, dass sie nicht dreimal täglich ihre Meinung ändern können wie die US-Regierung», sagt Brumme.
Text und Audio – So reagieren die Menschen auf die mögliche Waffenruhe
Viktoria Roschina, Versagen der Intellektuellen, Täter-Opfer-Umkehr, neue Arbeitsthese zur Funktion von Wahrheiten und Erkenntnissen
Poltawa, 04.03.2025
Vier Stunden am Schreibtisch, neue Analysen von Timothy Snyder und Anne Applebaum gelesen,
außerdem meine Korrespondenz mit der von den ruzzen gefolterten und ermordeten Viktoria Roschina, anlässlich der Übersetzung und Veröffentlichung ihrer Reportage „Die Toten haben mich besucht“ – für die ich mich im Mai 2021 (!) als Redakteur bei „Ukraine verstehen“ eingesetzt hatte. Die Reportage handelte von „Kriegsveteranen mit posttraumatischen Belastungsstörungen (PTSB) Was der ukrainische Staat für sie tut. Über die psychische Gesundheit von Kriegsdienstleistenden.“
Nochmals: Im Mai 2021.
Ein Jahr später behauptete der Büchnerpreisträger D.G. in der Süddeutschen Zeitung: „Am 24. Februar 2022 geschah das Undenkbare: Die Streitkräfte der Russländischen Föderation, im Westen kurz Russland genannt, marschieren in ein souveränes Nachbarland ein, die Ukraine.“ Und: „Dieser Krieg wird von einem einzigen Mann geführt, dem einzigen, der weiß, warum er ihn führt – zum Erhalt seiner Macht: Wladimir Putin“.
Das angeblich „Undenkbare“ war da für uns schon acht Jahre lang Alltag. Und für Syrier und Georgier ebenfalls. So viel zum Thema westliche „Wissensgesellschaft“ und das Versagen der Intellektuellen.
Ein besseres Beispiel bietet da Timothy Snyder, wie immer hellsichtig und mit klarem Kompass:
„Die Russen begehen weiterhin jeden Tag Kriegsverbrechen. Gestern griff Russland Krankenhäuser in Charkiw an. Die Russen haben lediglich gesagt, sie würden mit den Amerikanern sprechen, was nicht dasselbe ist wie die Zustimmung zur Teilnahme an einem Friedensprozess. Aus russischer Sicht ist ein Waffenstillstand eine Gelegenheit, die externe Unterstützung für die Ukraine einzustellen und die ukrainische Armee zu demobilisieren, um den nächsten Angriff vorzubereiten. Selbst wenn dies aus den russischen Erklärungen und Handlungen nicht klar hervorginge, könnte kein (!!!) verantwortungsbewusster ukrainischer Politiker die amerikanische Prämisse, dass ein Waffenstillstand allein ausreicht, einfach akzeptieren oder den Amerikanern einfach glauben, dass danach alles gut werde. … Es ergibt keinen Sinn, von dem angegriffenen Land zu verlangen, dass es seine Verteidigung einstellt, und so zu tun, als würde dies allein schon Frieden bringen.“
Dann Vortrag und Interview mit Oberst Reisner gesehen, inspirierend und sachkundig, von einzelnen, auch groben Fehlern abgesehen.
Oberst Reisner: „Das Dilemma ist, dass Russland die Militärkarte wieder gezogen hat. Und das war für uns ein absoluter Schock. Niemand hat damit gerechnet (???), dass mit dieser Urgewalt ein Staat einen anderen Staat angreift. Und alle, die sagen, sie haben es kommen gesehen, das glaube ich nicht, denn niemand hätte das in dieser Form wirklich bewusst für möglich gehalten.“
01.05.2024
Aber die ruzzen haben diesen Krieg doch jahrelang täglich stundenlang öffentlich angekündigt in ihrem Staatsfernsehen, hat denn kein Westler zugesehen außer mir? (Mein Sohn wunderte sich damals, dass ich mehrmals in der Woche solche Schrei-Sendungen sehe.)
Im Interview vor drei Tagen nur eine seltsame Reisner-Aussage: „die kritische Infrastruktur der Ukraine ist zu 80 zerstört oder beschädigt“.
Das begreife ich überhaupt nicht. Die Züge fahren wie immer alle pünktlich, der öffentliche Nahverkehr funktioniert wunderbar, es gibt keine Versorgungsmängel an Produkten (jedenfalls sind mir keine bekannt), Krankenhäuser, Apotheken, Banken arbeiten ganz normal, die Bildungseinrichtungen nur bei Luftalarm „eingeschränkt“, d.h. unterirdisch.
Kritische Infrastruktur, das sind laut Definition der EU: „Anlagen, Systeme oder ein Teil davon, die von wesentlicher Bedeutung für die Aufrechterhaltung wichtiger gesellschaftlicher Funktionen, der Gesundheit, der Sicherheit und des wirtschaftlichen oder sozialen Wohlergehens der Bevölkerung sind und deren Störung oder Zerstörung erhebliche Auswirkungen hätte, da ihre Funktionen nicht aufrechterhalten werden könnten.“
Ich wüsste nicht, was nicht funktioniert. Was übersehe ich?
Richtig und wichtig, gleichzeitig banal: „Hätten wir (in Europa) die industrielle Kapazität, den Ausfall der Lieferungen aus den USA zu kompensieren?“
Oberst Reisner: „Wir hätten das industrielle, das ökonomische und das rüstungstechnologische Potential, aber es ist die Frage, ob der politische Wille dazu da ist (es zu nutzen).“
Als Quintessenz der morgendlichen Studien neue Arbeitsthese formuliert zur Funktion von Wahrheiten und Erkenntnissen in den drei mir gut bekannten Gesellschaftstypen: Für Ukrainer wäre es lebensgefährlich, sich selbst zu belügen; für Russen ist das lebensnotwendig, die Wahrheit ist der Feind; für viele Westler war es bisher ein selbstverliebtes postmodernes Vergnügen, an den schönen Schein und Floskeln zu glauben, mit Illusionen zu kopulieren.
Ebenfalls wichtig: Die USA unter DT wollen die Ukrainer faktisch zur Kapitulation zwingen, weil sie selbst gegenüber ruzzland kapitulieren / den verbrecherischen Forderungen ruzzlands freundschaftlich zustimmen.
Nicht zu unterschätzen: Verhandlungen, Waffenstillstands- und Friedenspläne werden oft auch geführt um zu zeigen, dass sie ergebnislos bleiben werden / nicht funktionieren. Das wäre jedenfalls die einzige Entschuldigung für die blauäugigen Scheindiskussionen im Westen über westliche „Friedens“truppen in der Ukraine oder „die Ukraine in eine Position der Stärke bringen, um putin zu Verhandlungen zu zwingen“.
Kein Luftalarm, Pause, Schach spielen.
Mist, getäuscht, jetzt doch Luftalarm.