Wieder in Saratov (2)

Hier in Saratov fühle ich mich schnell wieder wie zu Hause, es ist meine Stadt, sie hat eine Seele und eine wunde Geschichte, ich könnte sie mit verbundenen Augen durchqueren. Valentina, die stets freundliche Leiterin der Bibliothek, empfängt mich bereits auf dem Prospekt Kirova, sie kennt die Cafés, in denen ich gewöhnlich sitze. 
Es ist, als sei gar keine Zeit vergangen seit unserer letzten Begegnung, wir sprechen über gemeinsame Bekannte, über Familiäres und Privates. Heute ist ihr letzter Urlaubstag, sie hat die freie Zeit wie immer im Garten verbracht und die Wintervorräte geerntet.
Nach einem ersten Spaziergang fällt mir auf, dass der russische Kapitalismus wohl schon seine süßliche, dekadente Phase erreicht hat. Es gibt nicht nur alkoholfreies, sondern auch süßes, nach Beeren schmeckendes Bier; in einem Schaufenster werden Massagekurse angeboten; man kann rosa- und lilafarbene Fahrräder kaufen; eine junge Frau spaziert mit einem Pudel an der Leine über den Prospekt; die Menschen kleiden sich von Jahr zu Jahr schriller und bunter; ein Bier im Plastikbecher kostet im Restaurant an der Wolga drei Euro fünfzig, ein banaler Pilzsalat fünf Euro.
Zu politischen Gesprächen habe ich diesmal eigentlich gar keine Lust, ich kenne ja die Verhältnisse, und den vertrottelten deutschen Medien sind ihre Russland-Vorurteile ohnehin nicht auszutreiben, es lebt sich ja so bequem im Ressentiment. Unterwegs fragte mich eine Verkäuferin: Und wie gefällt Ihnen Russland? Nach meiner Antwort lächelte sie, sichtlich froh über meine gute Meinung. Dieser normale Stolz der Menschen, die ihr Land lieben, die gern hier leben, die alle Schwächen und Nöte besser kennen als deutsche Journalisten, sagt mehr aus als politische Bekenntnisse.
R., eine Studentin, meint sogar: Es gibt viel zu viel Demokratie in unserem Land, besonders im Fernsehen, besonders gegenüber den Hooligans! Es ist ja gefährlich geworden, den Kindern die Fernsehprogramme zu zeigen; und es gibt auch zu viel Individualität! –
Das Fernsehen ist tatsächlich eine Verdummungsmaschinerie, wie auch in der Ukraine, wie auch in Deutschland; Spielshows und Werbung, wo früher die Propaganda Phrasen deklamierte.
Doch in ukrainischen und russischen Dörfern sitzen die Menschen abends vor ihren Häusern, sie leben in Gemeinschaften, nicht in der Vereinzelung, und in den Städten bleibt das Flanieren das Hobby Nummer eins, während deutsche Dörfer meist wie ausgestorben wirken, und man in Berlin auf dem Hauptbahnhof keine Sitzplätze findet, geschweige denn eine Wartehalle, in der man nicht konsumieren muss.
Grimmige Gedanken beim Fahrradfahren: Deutschland schnarcht dem Abgrund entgegen, nur ein Staatsbankrott kann das Land vorm Staatsbankrott bewahren. Auch im Westen wird man noch lernen, was die Menschen in der Sowjetunion vor zwanzig Jahren lernten – dass die Geschichte keine Sieger kennt.

http://www.sounb.ru/nchz/d_news.html

Themen: Tour de Wolga

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