Bei Freunden im Donbass*

Die Leute von Velika Novasilka haben mich adoptiert. Zum dritten Mal bin ich jetzt mit dem Fahrrad hierher gereist. Velika Novasilka ist eine Siedlung im Donbass, in der Ukraine, etwa zweitausendfünfhundert Kilometer von Berlin entfernt.
Mein Freund Vasja meint, hier betrage die Arbeitslosigkeit siebzig Prozent. Sergej widerspricht ihm, es seien höchstens vierzig. Sie fangen im Fluss Krebse, wir kochen sie um Mitternacht in der Steppe, tanzen und trinken gehörig einen über den Durst.

Vasja hat vor kurzem seine Arbeit als Busfahrer in Donezk verloren. Die Oligarchen seien schuld, erklärt er. Nun hofft er auf kleinere Gelegenheitsarbeiten, um wenigstens das Geld für den Alkohol und die Zigaretten zu verdienen. Als einer der Liquidatoren von Tschernobyl erhält er eine Ehrenrente von vierzehn Euro im Monat. Er hat die Bewohner von Tschernobyl mit dem Bus nach Kiew gefahren. Schutzkleidung gab es damals nicht, man ging abends in die Disco, tanzte in der verstrahlten Luft.

Seine Frau Luisa ist Lehrerin, sie unterrichtet an einem Gymnasium Ukrainisch und ukrainische Geschichte. Die Männer hier in der Siedlung, auch ihren eigenen, bezeichnet sie als infantil. Praktisch jeder ist ein Säufer, der Alkoholismus hat wirklich apokalyptische Ausmaße erreicht. Manchmal denke ich, nur ein Matriarchat könne die Ukraine retten. Zwischen Männern und Frauen gibt es aber eine klare Hierarchie.

Luisa zeigt mir Schulbücher. Die neuen Reichen und ihre Biografien werden ausführlich vorgestellt, auch der reichste Mann der Ukraine, Achmetov, ein ehemaliger Hütchenspieler, dem heute der halbe Osten der Ukraine gehört.

Kultur gibt es in Velika Novasilka aber auch. Ich besuche das Museum Korf, der Direktor selbst leitet die Führung. Baron Korf war ein aufgeklärter Adliger, er verbrachte hier seine Jugend, gründete dann in Moskau ein Theater, er war ein Freund von Anton Tschechov. Auf dem Museumsgelände ist heute ein Kinderferienlager, zweihundert Euro kostet der Aufenthalt für zwei Wochen, das können sich nur die Reichen leisten.

Vasja hat auch ein Treffen mit dem Chor Ukrainotschka organisiert. Nur für mich singen die acht Frauen ukrainische und russische Volkslieder und Romanzen. Zum Abschied schenken sie mir einen Gewürzbeutel mit Kräutern aus der Steppe und eine Strohpuppe als Maskottchen.

Am Abend lädt Vasja seinen ehemaligen Musiklehrer ein, Nikolaj Antonovitsch, und dessen Frau Tatjana Andrejevna. Der Siebzigjährige ist ein wahrer Meister auf dem Akkordeon, seine Frau schwingt die Rassel. Luisa trinkt nun auch Wodka, anders lässt sich das Schaschlik gar nicht verdauen.

Die Trinksprüche sind streng ritualisiert. Der erste Toast wird immer auf das Treffen angebracht, auf die Freude über das Beisammenseins. Für den zweiten Toast darf man sich etwas ausdenken, beliebt sind kurze, weise Erzählungen und Ratschläge für das Leben. Der dritte Toast gilt den Frauen, ihre Schönheit und Weisheit, ihr Verständnis für das schwache Geschlecht werden gelobt. Der vierte Toast, das heißt auch der vierte Wodka, würdigt die Männer, ihren Heldenmut und ihre Tapferkeit. Ab dem fünften Wodka darf der Erfindergeist sich austoben, auch der verstorbenen Freunde wird gedacht.

Wir leben jetzt und heute, das ist der Gedanke, der immer mitschwingt. Mögen unsere Hände von der Arbeit schmutzig, unsere Muskeln und Knochen müde sein, die Fröhlichkeit kann uns niemand nehmen. Wir haben Kartoffeln und etwas Gemüse im Garten, ein Dach über dem Kopf, wir haben Freunde und Wodka, mehr braucht man eigentlich nicht. Die Musik kostet nichts, singen können wir selber.

*Dieser Beitrag wird im September in der „BücherLese“, SR 2 Kulturradio, Samstags, 15.04-16h, zu hören sein.

Themen: Tour de Wolga

Ein Kommentar to “Bei Freunden im Donbass*”

  1. Uta schreibt:
    15th.August 2009 um 12:50

    Eigentlich wollte ich nur mal kurz reinlesen. Und jetzt ist es passiert: Das ist so plastisch beschrieben … ich meinte beim Lesen die Menschen zu hören, die Stimmung zu fühlen und den Wodka zu schmecken. Dies hat Neugier in mir ausgelöst und Vorfreude … mich durch die komplette Tour de Wolga zu klicken.

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