Zwei alte Rock`n-Roller*

Alexander Sergejevitsch begrüßt mich im Deutschen Lesesaal von Saratov wie in jedem Jahr mit einer mir gewidmeten Wandzeitung. Die Schlagzeilen lauten dies- mal: „Die niemals endende Tournee“, „Wir sollten weniger Auto fahren“, „Das Absurde ist unsere Natur“, „Angst habe ich nur vor dem Zahnarzt“, „Vorwärts und nie vergessen“, „Das Glück der Anstrengung erfahren“, „Ich brauche die Literatur wie ein Kranker die Medizin“, „Gegen die Sowjetnarkose hilft nur Partisanentaktik“, „Das geheime Leben der Singles“, „Auf den Korridoren zwischen Ost und West“, „Raus aus der Berliner Luft“, „Das ganze All ist eine Bushaltestelle“, „Eine Stadt wie keine andere“ (Saratov), „Schön, dass du da bist“ und „100 Tschelovek, kotorie ismenili chod istorii – Einhundert Menschen, welche den Lauf der Geschichte änder- ten“.

Eine Saratover Zeitung bezeichnet ihn als meinen Rentnerfreund, darüber ist er sehr empört. Ich bin doch ein Arbeiter!, meint er. Neunundfünfzig Jahre alt ist er, erst in einem Jahr also Rentner. Er arbeitet als Hausmeister in einem Gymnasium, ist aber studierter Historiker.

Wie in jedem Jahr besuche ich ihn in seiner Schule, auch hier empfängt er mich mit einer Wandzeitung, außerdem mit dem Pioniergruß «Immer bereit!“ und mit umgebundenen blauen Halstuch.

Die Schlagzeilen sind noch tiefgründiger, nun heißt es: „Disziplin ist das Tor zum Glück», «Jeder Mensch ist ein Unikat», «Noch ist alles möglich», «Mit den Augen sehen, wozu das Herz schlägt», «Blut ist im Schuh», «Ich bin eine deutsche Seele», «Ein Wunder – Brumme ist wieder da», «Die Phantasie braucht keine Stütze», «Bier, noch mehr Bier, Bier bis zum Gehtnichtmehr“.

Statt Bier gibt es aber feinen französischen Kognak, Vladimir Dimitritsch, auch ein Saratover Unikum, hat ihn besorgt, und zwar in einem Geschäft, in dem nur hohe Kriminelle und Regierungsbeamte einkaufen, meint er. Bald erklärt er mir, weshalb er deutsche Märsche liebt – sie seien gut für die Disziplin. Es seien die besten Märsche der Welt, die besten für den Krieg, die Chöre seien streng organisiert. „Disziplin ist das Tor zum Glück!“, zitiert Alexander Sergejevitsch seine Wandzeitung.

Speck und Brot stehen auf dem Tisch im Hausmeisterraum, die Maschinen und Werkzeugtische sind mit Papier abgedeckt.

Welche Musik ihm noch gefalle, frage ich Vladimir Dimitritsch. Schwarzen und weißen Rock, russische religiöse Lieder aus dem fünfzehnten Jahrhundert, antwortet er.

Er besitzt ein Musikgeschäft, und die vielleicht kostbarste Plattensammlung in Russland, mit der man sofort ein Museum eröffnen könnte. In seiner Wohnung darf ich sehen und hören, welche Raritäten er in den sowjetischen Jahrzehnten auf den Schwarzmärkten erstanden hat. „Wie Cannabis, mit diesem Vertrauen wurden die Platten getauscht“, erklärt er. Dutzende Elvis-Platten, natürlich nur die Erstauf- lagen vom Klassenfeind, auch von Buddy Holly, Fez Domino, Jack Berry, Ricky Nelson, Roi Orbison, Jonny Cash, Cliff Richard.

Die selbst gebauten Boxen, ein Meter fünfzig hoch, stehen im Wohnzimmer.

„Haben Sie ähnliche Bekannte in Berlin?“, fragt Alexander Sergejevitsch. „Das ist das echte Saratov! Wir Russen waren verrückt von diesen Melodien! Unser schmales Fenster in den Westen!“ Und dann wird aufgelegt, und wir tanzen, dass die Wände zittern.

Eine vierzig Jahre alte Gitarre wird hervorgeholt.

Vladimir Dimitritsch zeigt auf alten Fotos, wie der Rockn-Roll nach Saratov kam, Bilder von den ersten Diskotheken, er als junger Mann mit langen Haaren, und zuletzt zeigt er auch eine Medaille für vierzig Liter gespendetes Blut.

„Wir haben in einer Nische gelebt“, ruft er. „Wir waren immer frei! Das da draußen war -„. Er spuckt in einem weiten Bogen über die Balkonbrüstung auf die Straße.

Ich fotografiere und staune. Ganz klar, wir bedauern und bemitleiden die heutige Jugend, welche den Pop-Müll hören muss und die gar nicht mehr weiß, was große Gefühle sind und wofür es sich lohnt, das eigene Blut zu geben.

Der Klang ist umwerfend, raubt mir den Atem, ich habe viele Fragen: Warum tanzt Saratov nicht? Warum sind die Menschen so blöd, sich dem Rationalitätswahn hinzugeben? Weshalb rechnen sie, statt die Hüften zu schwingen? Wer kann den Staat noch achten, wenn er diese Musik hört?

Alten russischen Rock bekomme ich auch noch zu hören. Natürlich wieder Raritäten. Einige Melodien waren geklaut, Lili Marlen und die Caprifischer, und Mama jakera, schallt es aus den Lautsprechern.

Wie recht hat doch Alexander Sergejevitsch: Das Absurde ist unsere Natur!

„Sie denken, Sie kennen Russland?“ fragt er. „Sie kennen es nicht!“

*Dieser Beitrag wird im September in der „BücherLese“, SR 2 Kulturradio, Samstags, 15.04-16h, zu hören sein.

Themen: Tour de Wolga

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