Verdursten am Fluß

Sofivka heißt das Dorf, es liegt am Dnjepr, dem größten Fluss der Ukraine. Ich rolle mit dem Fahrrad ins Zentrum, ich will noch Wasser kaufen, Brot, Fisch, ein paar Kleinigkeiten. Der Himmel ist bewölkt, es ist Freitagabend.
Vor dem Kulturhaus stehen einige ältere Leute. Sie prüfen mich mit langen Blicken, etwas scheint ihnen zu missfallen. Es kommen immer mehr Alte, ein Dutzend und mehr, aus allen Richtungen, von den Feldwegen und von den Straßen. Einige schimpfen, viele fragen einander: Ist etwas Neues passiert?
Ich fotografiere dennoch ihr Kulturhaus, denn es erzählt so viele Geschichten. An der Fassade wurde die naive sowjetische Ornamentik im Nachhinein korrigiert, aus Hammer und Sichel ist ein neutrales Vasen- symbol geworden. Der Fries mit den antikisierenden Mustern durfte bleiben, vielleicht, weil er so schön zu den blau gestrichenen Holztüren passt, deren Rahmen im Stile der Bauernkunst verziert wurden.
Ich fotografiere den Saal, die roten Stühle unter der ukrainischen Flagge, während sich draußen die Empörung unter den Alten immer lauter äußert. Inzwischen dürften es siebzig, achtzig Leute sein, alle offenbar in Prügellaune, Männer wie Frauen.
Ich gehe erstmal zum Fahrrad, um die Situation abzuwarten. Ein paar Dorfjungs begutachten mein Gefährt. Sie finden es äußerst witzig, dass gerade jetzt ein Deutscher hier auftaucht.
Auf meine Frage, weshalb die Alten so wütend sind, haben sie eine einfache Antwort: „Es gibt kein Wasser im Dorf. Weder zum Waschen, noch zum Trinken, noch für den Garten.“
Man kann den Dnjepr sehen vom Ort der Versammlung aus.
Sie warten auf den Bürgermeister. Der muss ein mutiger Mensch sein.
Im Keller gibt es ein Lebensmittelgeschäft, ich kaufe ein, auch Bier für den Feierabend. Oben habe ich nun ein Dutzend Freunde. Die Alten beschimpfen im Saal inzwischen den Bürgermeister. Wir Verantwortungs- losen trinken Brüderschaft. Auch zwei Dreizehnjährige halten die Flaschen wie Männer, und zwei junge Krieger tragen Rangkämpfe aus, indem sie ihre Stirnen aneinander schlagen. Ein Vasja übernimmt die Rolle des Vernünftigen, er hat schon in Moskau gearbeitet, er hat Familie, zwei Kinder, aber keine Arbeit.
Ich zeige Ihnen Fotos von ukrainischen Bushaltestellen, die schönsten Mosaikbilder. Oho, sie staunen. Sie rufen Passanten zu: „Unser deutscher Korrespondent!“
Irgendwer hat doch noch ein bisschen Geld, der Älteste borgt sich vom Jüngsten, eine Mutter steckt ihrem Sohn etwas in die Tasche, es werden neue Biere gekauft.
Der Chor der Alten klagt heller und schriller. Ich will die Revolution sehen, bis zum Eingang des Saals lässt man mich, dann zischeln die ersten Hexenstimmen: „Weg hier! Das ist unsere Empörung!“

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Der Bürgermeister ist ein schmächtiges Kerlchen, er ist nicht gekleidet wie ein Betrüger, er trägt eine abgeschabte Weste, er hat eine algige Gesichtsfarbe. Er wedelt einen Brief durch die Luft, sicher ein Schreiben von höherer Stelle, auf welchem den Bewohnern die baldige Versorgung mit Trinkwasser versprochen wird.
Der Türsteher der Alten tritt mir mit ausgebreiteten Händen entgegen. „Keine Presse! Keine Fotos!“
Er ahnt ja gar nicht, welche Geschenke ich gerade empfange, wie kostbar der Anblick empörter Bauern für mich ist, hier im Mutterland der Kiever Rus.
Meine kahl geschorenen Freunde erwarten inzwischen, dass ich zur nächsten Runde einlade. Einer zeigt den Hitlergruß, auch als er fotografiert wird, er findet das witzig. Vasja, der Vernünftige, raunt mir ins Ohr: „Ich warne dich, du verstehst unsere Mentalität nicht.“
Dass hier das Gesetz der Wölfe regiert, muss er mir nicht erklären.
Es wird bald dunkel, ich muss mich entscheiden. Vasja bietet Schutz und Obdach. Wenigstens für eine Tasse Tee will er mich in sein Haus einladen und mir seine Frau vorstellen.
„Du bringst die Großstadt in mein Dorf“, sagt er. „Du erinnerst mich an Moskau!“
Um von der Gruppe loszukommen, stimme ich seinem Vorschlag erstmal zu.
Die Versammlung der Alten hat nichts erreicht, der Bürgermeister geht unverletzt nach
Hause.
Vasja beharrt auf seiner Einladung, als wir vor seinem Häuschen stehen. „Für den Tee!“
Angesichts des fehlenden Wassers ist diese Geste natürlich besonders ehrenhaft. Aber ich habe ja mein eigenes Haus bei mir, und wahrscheinlich mehr Essbares als er für seine Familie.
Halb zieht er mich, halb folge ich ihm durch den Garten, in dem die Maispflanzen verdorren. Ich soll auf der Veranda Platz nehmen. Er geht ins Haus, er will seine Frau holen.
In der Veranda staut sich die heiße Luft. Fliegen, Mücken und Spinnen verwalten ihre  Reiche. Nebenan schreit ein Baby, zwei Frauen reden beruhigend, Vasjas Stimme unterbricht den murmelnden Grundton.

Themen: Tour de Wolga

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