Rede zur Eröffnung der Fotoausstellung

Zuerst möchte ich dem Russischen Haus für Gastfreundschaft danken, und für die Möglichkeit, Ihnen diese Ausstellung zeigen zu können.
Als ich mit dem Fahrrad an die Wolga fuhr, dachte ich oft: Wie wäre ich glücklich, wenn ich anderen Leuten zeigen könnte, was ich mit meinen Augen sehe! Heute Abend ist es möglich. Ich kann zeigen, worüber ich staunte.

Zunächst über die vielen Kunstwerke in Russland und in der Ukraine, die frei in der Landschaft stehen. Die Orte des Wartens, wo nur selten jemand wartet. Die Mosaike an den Wartehäuschen sind vor allem in der Breschnjew-Zeit entstanden, mit dem Aufkommen des Busverkehrs auf dem Lande, nachdem die schlimmsten Kriegsschäden beseitigt worden waren. Vorbild waren die Mosaike der Moskauer Metro-Stationen. Es war also die Zeit, in der die Kirchen und Klöster nicht ausgeschmückt werden durften. Es handelt sich um profanisierte, byzantinische Kirchenkunst, worauf mich ein Schriftsteller aus Saratov als Erster hinwies.

Offiziell sollte auch in der Mosaikkunst der Sozialistische Realismus durchgeführt werden. Doch was ist Realismus in einer Kunstform, die aus Steinen besteht? Marx oder Lenin haben sich darüber nicht geäußert. Mosaike erzeugen Illusionen; es scheint oft, als seien sie gemalt worden, sie täuschen Zusammenhänge vor, trotz ungeputzter Poren / Pausen. Aber die Steine wurden nicht bemalt, es sind bunte Steine.

Ich staunte natürlich auch über die Menschen in beiden Ländern. Ich war vor der Reise etwa von neunzig Bekannten und Freunden gewarnt worden: Fahr nicht, das ist viel zu gefährlich. meinten sie; etwa zehn waren anderer Meinung gewesen.

Was ich dann erlebte, übertraf bei weitem meine Erwartungen. Glauben Sie mir, ich habe die Freiheit einer Märchenfigur erlebt. Ich habe Leute getroffen, die sagten, sie seien geschockt, einen Ausländer auf dem Fahrrad zu sehen, in ihrer von allen vergessenen Heimat. „Ich habe einen Schock, ich muss ihnen unbedingt etwas schenken, sonst werde ich meinen Schock nicht los!“ rief ein junger Mann. Er hatte mich kurz an der Tankstelle gesehen, dann war er mir mit dem Moped gefolgt, um seinen Schock loszuwerden.

Ein anderer lachte und rief: „Ein Wunder ist passiert! Ein Tourist aus Europa in unserem Dorf! Er ist vom Himmel gefallen! Europa entdeckt uns!“.

Warum fuhr ich überhaupt in den Osten? Weil dort die Sonne aufgeht. Und weil es mir an Erfahrungen mangelte, nach zwanzig Jahren Schreibtisch-Leben. Ich wollte testen, wie wenig ich brauche, um ohne Hilfe anderer überleben zu können. Ich wollte kein Medienkonsument sein, und mir Illusionen nicht als Wahrheiten verkaufen lassen. Ich wollte einer kindischen Kultur entkommen, die in ihrer eigenen Wirklichkeit noch nicht angekommen ist. – Dem Westen steht ja die Erfahrung bevor, die im Osten Europas schon gemacht wurde. Der Westen Europas muss sich von dem Ewigkeitsanspruch lösen, für immer Sieger der Geschichte zu sein.

Ich ende mit einem Zitat aus meinem Buch:

Die Frage, was mir in Russland gefällt, kann ich mit einem Wort beantworten – alles. Die Faszination für das Ganze ist beruflicher Natur, es sind nicht die von mir erzeugten Bilder und Worte, die sich einprägen, ich bin nur ein Archiv. Es gehört eben alles dazu, der neue Geldadel und die neuen Kirchen, die altrussische Höflichkeit und Herzlichkeit, der schwarze Humor und der Sarkasmus, die selbstverliebte Männlichkeit und die Lust an der Selbstzerstörung, die Liebe zu den kleinen Gesten und der operettenhafte Charme vieler spontaner Feiern.

Themen: Tour de Wolga

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