Zeitbremse in Saratov und verlorenes Schuljahr

Leserin aus Saratov, nach der Lektüre des „Blauen Elefanten“:
„Erstens möchte ich bemerken, dass ich eine von Ihren Handlungen sehr gut verstehe: Sie begeben sich auf eine Erkundungsreise in ein fremdes Land –  und nehmen nicht (oder nicht nur) entsprechende Sprachführer und Ähnliches mit, sondern ein Lexikon für Philosophie und Kafka-Aphorismen! (Es war ohne Ironie gesagt, Ehrenwort!)
Ich tue dasselbe, einfach um in einer fremden Umgebung nicht vom Verstand zu kommen. Stellen Sie sich die Anekdote vor, im vorigen Herbst fand ich einen Job als Babysitter, da nahm ich „Den Auserwählten“ von Th. Mann zum Dienst mit, ich glaubte sonst crazy zu werden!
Um es kurz zu sagen: das, was man zu sehen bekommt, hängt von der Perspektive ab. Eine Binsenwahrheit. Ich habe nämlich nie eine Imbisstube oder Kneipe am Rande einer Landstrasse betreten! Ich bin nie einer Einladung gefolgt, an einem improvisierten Volksamüsement mit Wodka und sonstigen Lebensfreuden teilzunehmen! Ich lebe nicht in einem Elfenbeinturm, aber dort, wo ich die Augen immer zumache – genau dort haben Sie die Augen weit aufgerissen.
Deswegen behaupte ich ohne Ironie, Sie kennen Russland besser als ich, es ist ein anderes Russland. Eine schmutzige aber trotzdem gutmütige Fratze des stets betrunkenen  und degradierten Volkes. „Kleinwüchsig“ kommt wahrscheinlich aber nicht von schlechter Ernährung, sondern von einer Art „negativer Selektion“, welche Jahrzehntelang hartnäckig betrieben wurde: seit 1917 wurden die besten Vertreter des Volkes ausgerottet oder vertrieben (nicht Tausende, Millionen!), die waren wahrscheinlich auch von Wuchs etwas größer, als das Übriggebliebene, das seinem endgültigen Ende entgegen trinkt.  Daher mein Entsetzen. Ein anderes Russland. Degradiert aber freundlich. Nehmen Sie es mir bitte nicht übel, ich bevorzuge andere Blickwinkel. – Es war nicht als Kritik an Ihrem Buch gemeint, es war bloss Erklärung meiner Reaktion.
Zuletzt ein paar amüsante Kleinigkeiten: Sie haben sich in Saratow mit seinem unauffindbaren OWIR, das man lediglich dank Bekannten entdecken konnte, wie im Dschungelwald gefühlt! Ich wurde neugierig, wie das möglich sein kann, habe im Internet gesucht – ja, es stimmt, auf einen Klick ging es nicht, aber nach ein paar Klicken hatte ich es! Genau so ging es mit dem aus  unerfindlichen Gründen verschwundenen Schuljahr No 4. Sie kennen doch Russisch gut genug, um im Suchsystem Yandex zu fragen, wie viel Jahre die Ausbildung in der Grundschule in RF dauert! –
Anfang 90-er wurde die Wahl möglich: Kinder durften mit 6 oder mit 7 Jahren eingeschult werden. Deswegen entstanden 2 Arten von Grund- oder Primärschulen: eine mit 4 und eine mit 3 Lehrjahren. Beim Übergang zur Mittelschule musste sich der Unterschied ausgleichen, deswegen verschwand bei den Späteingeschulten die Nummer 4, weil das Niveau der Kenntnisse am Ende gleich war.
Nur für Zeitbremse auf Moskowskaja Ulitsa habe auch ich keine Erklärung! Das haben Sie fein gemerkt!
Mit freundlichem Gruß
Leserin des Deutschen Lesesaals“

Antwort CDB:
„Bevor Sie freundlichst verraten haben, dass Sie Rentnerin sind, habe ich Sie weitaus jünger eingeschätzt – Sie schreiben so jugendlich. Wo bzw. wie haben Sie eigentlich so gut Deutsch gelernt?
Wegen OWIR: Ich wundere mich gar nicht, dass man neuerdings als Ausländer die Registrierung bei der Post abgeben kann, und nicht mehr zum OWIR muss. Beim OWIR erlebt man den Staat wirklich entblößt, man sieht sein Skelett, seine 200jährige Geschichte.
Über das verschwundene Schuljahr habe ich mehrere (ungefähr zehn) russ Bekannte befragt, auch Lehrerinnen bzw. Töchter von Lehrerinnen – niemand wusste Antwort. Dass man im Internet diese Info findet, überrascht mich, ich dachte, es sei ein Relikt aus sovetskaja vremja. Ein Schuljahr ist eben verschwunden.
Darf ich Ihre Erklärung auf meiner Internet-Seite veröffentlichen, anonym oder mit Namen, wie Sie wollen? Dt. Leser fragen manchmal, wieso ist das Schuljahr verschwunden.

Über die Zeitbremse: Es ist herrlich, wie sich eine Stadt an ihre Schläfrigkeit gewöhnen kann. Es hat auch Witz, dass die Busse so langsam fahren, besonders am späten Abend, wenn die Moskovskaja wirklich fast leer ist. Ich liebe Saratov auch wegen der Zeitbremse. Ich hoffe, sie wird immer bleiben.
Bin ich tatsächlich der Entdecker der Zeitbremse von Saratov? Bitte keine öffentlichen Umfragen deshalb, sonst werden noch die Busfahrpläne geändert!
Das Volk ist vielleicht gar nicht in der Weise so betrunken, wie Sie vermuten. Wie fleißig die Leute auf dem Land sind, sie würden staunen. Die Frauen sowieso, die meisten Kinder auch. Von den Männer jeder zweite – oder alle, dann aber nur die halbe Arbeitszeit.
Ja, in gewisser Weise / Perspektive kenne ich Ru und Uk besser als viele Einheimische. Es ist mir auf meiner ersten Reise schon klar geworden, wie stark falsche Mythen unter Einheimischen wirken. Meine Studenten hatten Angst wegen meiner Reise, sie meinten, es sei schon gefährlich, in eine Dorfdisco zu gehen. Aber es gibt betrunkenes Volk, das ist wahr.

Wie soll ich mir das nun vorstellen? Jugendliche Rentnerin als Babysitter mit Thomas Mann im Arm? Plärrte das Baby? Sah es so monströs aus wie das auf den Kopf gefallene? – „Die Amme hatte die Schuld.“
Womit haben Sie Ihre Berufsjahre verbracht? Waren Sie bei meinen Veranstaltungen?
Herzliche Grüße
Christoph Brumme“

Leserin aus Saratov:
„Das mit dem verlorenen Schuljahr stimmt, ist kein Hirngespinst, aber ich habe es im Internet nur deswegen gefunden, weil ich wusste, wonach ich suchte, eben nach Dokumenten, welche die Reformen im Bildungssystem Ende 80 – 90 Jahre darstellten. Sonst ist es mir aus eigener Erfahrung bekannt: meine Söhne wurden damals mit 6 Jahren eingeschult, aber nach dem Umzug in einen anderen Stadtteil musste mein Kleiner nicht in die 4.Klasse, wo er das Schuljahr bereits angefangen hatte, sondern in die 3. Kl., weil es in der neuen Schule keine „experimentellen“ Klassen mit dem Anfang für Sechsjährige gab. Es ging aber reibungslos, wenn man anpassungsfähig genug ist.
Die Zeitbremse haben tatsächlich Sie entdeckt. Wenn etwas existiert, aber nicht benannt wird, existiert es nur halb. Sie haben die Erscheinung auf einen Namen getauft, deswegen also entdeckt. Sie können es ruhig in ein Patentbüro schicken. :-)“

Themen: Tour de Wolga

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