Abschied (1)

Es wird Zeit, Abschied zu nehmen von Deutschland. Erstaunliches hat sich hier getan. Vor zwei Jahren glaubte man noch, den Kapitalismus längst überwunden zu haben, jetzt frisst der sich selbst auf. Der Malstrom, der die Wirklichkeit entwirklicht, wirbelt etwas langsamer. Die Heiligkeit des Scheins ist angekratzt.
Es regnet wieder falsche Banknoten, wie damals, als der Teufel Moskau besuchte, huch, und die Verführten nackt auf der Straße standen.
Was, den Teufel gibt es gar nicht? Nur ewiges Wachstum? Niemals eine Staatspleite?
Soll ich ein Geheimnis verraten? Wollt ihr wissen, was derzeit passiert? Gott tritt den Gegenbeweis gegen den Menschen an. Und Gott will gewinnen. Und der Mensch wird, wenn er verliert, gewinnen. Eine gut zweihundertjährige Epoche endet, denn die Nützlichkeit ist nicht mehr nützlich. Gott sagt: Wir wollen doch mal sehen, was daraus geworden ist, dass der Mensch sein wollte wie unsereiner.

Vorerst herrscht allgemeine Ratlosigkeit. Köstlich ist dieses Eingeständnis; da bieten sich doch Chancen:
„Die Wirtschaftswissenschaft hält bislang keine Rezepte bereit, wie denn eine Wirtschaft mit weniger oder gar keinem Wachstum funktionieren könnte; die Professoren sind dem Dogma des steten Zuwachses genauso verfallen wie Politiker und Unternehmer.“  http://www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518,695286-2,00.html

Tipp für Ökonomieprofessoren: Georg Bataille lesen, Potlatch-Rituale studieren. Jemand sollte die Regierenden in die Kultur des Schenkens einweihen.

Was werde ich in Russland erzählen über dieses verrückte Land?
Äußerlich hat sich wenig verändert. Man ahnt oder weiß, dass es so wie bisher nicht weitergehen kann, aber das Neue Denken, das notwendig wäre, hat so gut wie keine Chancen. Man wird Verteilungsregeln besprechen und vom eng geschnallten Gürtel reden, das Heer der Überflüssigen wird stark wachsen. Aber aus epochaler Borniertheit ins Licht der schmerzhaften Selbsterkenntnis gelangen? Das schaffen die Deutschen nicht, dafür sind zu verwöhnt, dafür besitzen sie zu viel, und kämpfen können sie auch nicht mehr. Die Gewohnheiten hier sind schon versteinert bzw. digitalisiert. Außerdem ist das Fiasko, in dem sich die Deutschen jetzt befinden, in so vernünftiger, durchdachter, gerechter Weise zustandegekommen, dass viele erst einmal Schocks erleiden werden, bevor sie mit dem Begreifen beginnen können.
Die jahrzehntelange Staatsverschuldung, die man jetzt als Fehler ansieht, setzte ja voraus und ging ja einher mit Hybris und mit Realitätsverweigerung. Schulden sind gut, Geld muss arbeiten, das war Volksmeinung.

Jedoch, meine lieben Freunde an der Wolga, bedenkt bitte, hier fließt seit Jahrzehnten ununterbrochen Strom. Nur die Alten kennen das noch: im Dunkeln am Küchentisch sitzen, die Zeit überstehen, die Langsamkeit aushalten, das Wesentliche.

Foto: 27.05.2009, Landschaft im Osten von Polen

Themen: Tour de Wolga

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