Das Pendel schwingt (1)

Ich schlafe unter Eichen. Die sind eigentlich selten hier. 5.40 Uhr leckt die Sonne mich wach. Einige der haesslichsten, ekelhaftesten Tiere, die ich kenne, schmatzen auf dem Zeltdach – Zecken. Ich schnipse sie weg. Dummer Spruch im Kopf: Unter Eichen liegen Leichen, hier bestimmt wie ueberall.Schnell Zaehne putzen, Katzenwaesche im Gesicht, Schlafsack einrollen, Gepaeck verschnueren, Zelt abbauen. 6.20 Uhr Start. Bevor es heiss wird will ich Kilometer schrubben. Gestern waren es gegen 40 Grad im Schatten.Ueber den Feldweg auf die Strasse. Adamivka heisst das naechste Dorf, wie passend, denn wie Adam fuehle ich mich am Morgen oft, also als jemand, der das Alphabet erst erfinden muss. Magazin und Bar haben noch geschlossen, so dass die Frage nach einem Fruehstueck sich nicht stellt.
Dann 20 km auf der Trasse Richtung Dnjepropetrovsk. Die Strasse kenne ich noch von der ersten Reise 2007. Guter Asphalt. Ich will heute ueber den Dnjepr. Laut Karte soll es zwischen Dnjepropetrovsk und Zaporoshje einen Uebergang geben.
Erst zwei interessante Wartehaeuschen habe ich bisher gefunden. 15 Etappen seit Berlin, 7 in Polen, 2115 km insgesamt. Keine Gewaltetappe, also keine ueber 150 km.

Nach zwei Stunden ein Dorf im Tal, ein Geschaeft. Ich fruehstuecke auf der Veranda – einen halben Fisch von gestern, 1 Stueck Kaese, 1 Yogurt, 1 Becher Kaffee, 2 Tomaten, 2 Gurken, 3 Scheiben Brot. Tische und Stuehle sind miteinander verschweisst und wackeln bei jeder Bewegung, weshalb sich Kaffee ueber die Tischplatte ergiesst. Ein Maurer ruehrt Mortel an, 2 Maenner trinken Bier, eine Fau saeubert den Boden. Ich erwidere die neugieren Blicke nicht, lese nebenbei Heiner Mueller.

„Durch die Oeffnung der Mauer sind die Amerikaner in ihrem eigenen Haus nicht mehr sicher. Die kapitalistischen Staaten sind hgezwungen, das Andere in sich aufzunehmen. Vorher war das Andere draussen. Der Feind hatte ein Gesicht, besass ein Territorium. Jetzt ist alles in Bewegung geraten. Kein Wert bleibt mehr auf dem anderen. Zwischen realen bedrohungen und eingebildeten laesst sich nicht mehr klar unterscheiden.“

Oder:

„Die oekonomischen Zwaenge sind viel schmlimmer als die politischen Zwaenge in der DDR gewesen sind. … Es gibt keine Ideen mehr, nur ein geistiges Vakuum. Es gibt nur Gegenwart, keine Zukunft, keine Vergangenheit. Das einzige, was an Geschichtlichem derzeit passiert, ist der Kapitalfluss. Und der ist unsichtbar.“

Oder:

„Wenn die Festung Europa nicht mehr zu halten ist und die Buegerkriege militante Formen annehmen, wird es einen strukturellen Stalinismus geben“

Dann Richtung Solonje, ueber die Mokra Sura, hueglige Landschaft, troestliche Doerfer. Der Asphalt schmilzt schon. Ich kaufe 2 l Kvas (80 Cent) in einem Geschaeft, es wird ein Geburtstag neben einem Billardtisch gefeiert, diesmal kann und moechte ich den Fragen nicht entgehen. Eine Frau feiert ihren 50., es wird gelacht und geschwatzt.
Einige heftige Anstiege und steile Abfahrten, von der Hoechstgeschwindigkeit (63 km/h in Polen) bin ich aber weit entfernt. Zweimal halte ich an, um die Karte zu studieren, jedesmal springt Hilfe aus dem Gebuesch. „Wohin wollen Sie? Eine Bruecke ueber den Dnjepr? Ja, die gibt es.“
Ich fotografiere eine Kirche und ein Kulturhaus, doch ohne Ehrgeiz, Motive nur zum Mitnehmen. Wieder Wasser kaufen, trinken, trinken.
Nach 95 km bin ich endlich am Dnjepr. Der Fluss ist nach Norden wie nach Sueden weit zu sehen, aber keine Bruecke, nur ein Denkmal fuer die im Krieg zerstoerte. Verdammt, verflucht und zugenaeht. Fuer einen Moment bilde ich mir ein, ueber den Fluss fliegen zu koennen.
Ich frage ein Paerchen am Strand, wir studieren ihre Karte, auch auf ihrer ist eine Bruecke eingezeichnet. Eine Grillgesellschaft bestaetigt jedoch, dass es die naechsten Uebergaenge erst in Dnjepropetrovsk (80 km) 0der in Zaporoshje (60 km) gibt.
Ich bade zunaechst, wasche das Trikot, massiere die etwas schmerzenden Fuesse. In einem etwas aermlichen Geschaeft nehme ich einen kleinen Imbiss zu mir, 2 Scheiben Brot, etwas Kaese, trinke 1l Wasser. Die Verkaeuferin hat allerschlechteste Laune, sie hat mit ihrer Tochter geschimpft, dass es bis auf die Strasse zu hoeren war. Sie hat ein echtes Charles-Dickens-Gesicht, unverhuellte Haeme, steifer Ruecken, platte Nase; ich hatte sie vorher schon im Dorf gesehen.
Ich will nicht den gleichen Weg zurueckfahren, nicht die letzten zwei Anstiege erklimmen, es muss eine Abkuerzung geben, wenigstens Feldwege. Der Trotz hilft, ein Bauer, der ein Buendel Heu traegt, beschreibt einen Pfad, der hinter dem Maisfeld ueber die Huegel fuehrt.
Dann habe ich Glueck, gerade als ich falsch abbiegen will, kommt mir ein Auto entgegen, ich soll der Staubfahne nachfahren, meint der Mann, dann werde ich schon das naechste Dorf erreichen.

Themen: Tour de Wolga

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