Das Pendel schwingt (3)

Zwei Uhr nachts eine beleuchtete Baracke in der ansonsten ziemlich dunklen Stadt Pokrovskje. Drei Maenner sitzen draussen und rauchen. Mich hgalten sie fuer ein Gespenst. Drinnen wird gefeiert und getanzt. Mein Fahrrad wird begutachtet, die guten Leute zweifeln an ihren Sinnen. Wie kann dieser verschwitzte Kerl „direkt aus Berlin“ kommen?
Kaum habe ich gefragt, was hier gefeiert wird – ein Geburtstag -, da schiebt der Kraeftigste der drei mich in den Saal, an den Tanzenden vorbei zum Buffet. Er packt den Teller voll, Kartoffeln, Salat, Huehnerschenkel, Schnitzel, Salat, alles soll ich essen.
Dann reden wir, meint er. Um das Fahrrad soll ich keine Angst habe, aber die hatte ich sowieso nicht. Ich bestelle noch Kaffee an der Theke, den Becher fuer 20 Cent, sehe den Tanzenden zu, allesamt junge Leute zwischen 20 – 30.
Die Situation ist, wie man so sagt, offen; ich koennte mitfeiern, koennte mich diesem anderen Rausch hingeben. Der am heftigsten tanzt fragt schon mit einer Geste, ob ich eine Frau … wolle. Die Handbewegung ist so deutlich, dass die wohl gemeinte Schoenheit ihm zur Strafe einen Nasenstueber erteilt.
Nach dem Essen geht die Verfuehrung weiter. 260 km bin ich inzwischen gefahren, das noetigt Respekt ab und soll begossen werden.
Eine Frau sagt: Dann darf er nicht mehr fahren. Da drueben ist die Miliz.
Auch Fahrradfahrer duerfen keinen Alkohol trinken? frage ich.
Nun gibt sich einer der Maenner selbst als Milizionaer zu erkennen. Ganz aufrecht steht er nicht mehr, doch Autoritaet beansprucht er, er will meinen Passport sehen. Ich zeige ihm das beste Dokument, das ich habe, einen Bericht aus einer russischen Zeitung ueber meine Reisen auf dem blauen Elefanten.
Der Wunsch der anderen, mit mir zu trinken, wird dadurch nicht gerade kleiner. Beinahe moechte ich schon zustimmen, doch meine Zunge fragt nach der Entfernung bis Novosilka. Noch 70 km. 4 Stunden bleiben noch, um einen neuen Rekord zu versuchen und die Bestmarke von 335 km zu ueberbieten. Das ist natuerlich kaum zu schaffen, auch wenn es bald hell werden wird und Schlagloecher dann besser zu sehen sein werden. Es kommen noch einige mittelschwere Anstiege, und die Zahl ist ja nur ein onanistisches Vergnuegen. Und saufen kann ich bald mit Vasja und Freunden.
Also weiter. Ein Foto noch mit den Gastgebern, dann kruti Pedal …
Kaum bin ich auf der Strasse, folgt mir ein Auto der Miliz, ueberholt mich, wendet, faehrt zurueck. Vielleicht wollten sie die Beleuchtung am Fahrrad kontrollieren.
Es gibt inzwischen in der Ukraine ein Anti-Raucher-Gesetz, wonach das Rauchen auf der Strasse verboten ist, Janukovitsch sei Dank. In Kiev soll die Miliz bereits Strafen kassiert haben. Die Regierung bestiehlt das Volk und kontrolliert die Lust an der Selbstzerstoerung. In Deutschland lautete eine der Forderungen der Maerzrevolutionaere von 1848, das Rauchen auf den Strassen zu erlauben. Lev Tolstoi fragte: Wie viel Erde braucht der Mensch? Und heute: Wie viel Luft gehoert dem Buerger?
Mit der Tabaksteuer wird wohl immer noch der Kampf gegen den Terrorismus gefuehrt. Oh boshe moi, das sind Zusammenhaenge. Soll die Regierung sich doch selbst fi …, die Populationsrate sinkt sowieso. –
Die naechsten zwei Stunden vergehen hart am Rande zum Delirium. Um mich wach zu halten, rede ich laut, ein bewaehrtes Mittel. Ich gebe nicht auf, ich nicht, niemals. Ich habe Feinde, die gilt es zu verlachen. Viel Feind, viel Ehr, und ein anruechiger Ruf schuetzt vor falschen Umarmungen, das ist eine alte Diktaturerfahrung. Ich will leben, und ich liebe mein Leben, das mit Symbolen ueberfrachtet ist. Man muss aus sich selbst schoepfen, dann stellen sich die Fragen nach dem Sinn nicht mehr. Ich will mich verausgaben, und ich will ein Ueberfluessiger bleiben, kein Effizienz-Esel werden. Es gibt auch Schachturniere, die 24 Stunden dauern (in Dresden).
Entscheidend ist nicht das Was, sondern das Wie. Man kann das Denken lernen, man kann es ueben, man die Wahrnehmung, das Kombinations- und das Assoziationsvermoegen schulen, man kann sich selbst gestalten.
In einem bin ich mir sicher: Ich bin frei von Neid, wenn anderen etwas Besonderes gelingt. Falsche Lorbeeren hingegen sind zu verachten, womit wir beim Thema Verrat waeren. Ohne Verrat kann keine Gesellschaft existieren, Menschen sind Menschen; doch in der Kunst kann ich Verrat nicht verzeihen. Wer den Leser betruegt, wird von mir geehrt durch Voruebergehen. Fuer die Literaturverhinderer ist der Autor eine Kapitalanlage, der Roman ein Profit-Center. 80 % aller literarischen Buecher kommen aus 3 Konzernen; wundert sich da jemand ueber den Einheitsbrei? Weshalb wird in kaum einer Rezension das Wichtigste eroertert, die sprachliche Schoenheit? Weil es besonderer Kenntnisse bedarf, sie zu erkennen, sie zu schmecken und zu hoeren.
Nun geht die Sonne auf, eine Tankstelle in der Siedlung Komar ist schon oder noch geoeffnet, ein Kaffee koennte mir gut tun. Zwei Maenner fegen stumm die sauberen Steine. Die Frau hinter der Theke ist sehr jung, sie brueht einen starken Espresso und fragt mich aus.
Ja v schockje, sagt sie bald, und es klingt verdammt ueberzeugend. Ich trinke noch einen espresso, auch eine Cola, ich brauche Coffein.
Die Frau umschmeichelt mich mit ihren Komplimenten, ich solle doch bleiben und mich erholen. Sie hat maennliche Haende, einige Ringe lenken von den unschoenen Formen ab. Doch in ihren Augen koennte ich ertrinken. Aber ein junger Mann kommt, der auch einen Espresso will. Meine Bewunderin fertigt ihn kurz ab. Diese Erholungsangebote bekomme ich eigentlich oft … Frauen moegen muskuloese Maenner, es klingt klischeehaft, doch „es ist etwas dran“.
Zum Abschied meint sie, ich solle auf der Rueckreise wieder vorbeischauen. Nun denn, vielleicht.

Themen: Tour de Wolga

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