Das Pendel schwingt (4)

Dann, auf dem Radel, habe ich doch Angst. Ein leichtes Brennen in der Brust, leichte Kraempfe im linken Arm – die Hypochondrie meldet sich. Vielleicht habe ich doch uebertrieben? Es gibt doch auch Marathonlaeufer, die tot umfallen nach einem Herzinfarkt. Oder ist es der Kaffee, der vom Magen aufsteigt? Ich bin versucht anzuhalten, fahre zumindest langsamer. Mein letztes Stuendchen auf einer ukrainischen Landstrasse, war das denn noetig? Kein guetiger Blick wird mich vor der Einfahrt in den Hades verabschieden. Es muss der Kaffee sein. Ich schuettle die Arme, halte doch an, hoere die Herzschlaege, kann keine Unregelmaessigkeiten bemerken. Ich trinke etwas Wasser, schuette mir das Waschwasser ueber Ruecken, Kopf und Beine. Ins Gras setzen will ich mich nicht, ich schliefe ein. Jesus kam nur bis Jerichjo, Christoph nicht nach Novosilka – stammelnd bloedsinnige Variation.
Warum tust du dir diese Gewaltetappen an? fragte ein Freund.
Es ist meine Rache dafuer, dass ich betteln muss, antwortete ich spontan.
Das sei konsequent, meinte er.
Wenn es sein muss bin ich bereit, toedliche Konsequenzen zu tragen, dachte ich, sagte es aber nicht.
Den Lenker streichelnd fahre ich weiter. Am naechsten Berg faellt mir ein, dass es mir beim letzten Mal viel schwerer fiel, diese 10%ige Steigung hochzukommen. Und das war an einem Nachmittag, also hoechstens nach 150 km.
Die Abfahrt nach Novosilka verpasse ich aber. Und es wird rasch heiss, ich klage, aber nicht laut.
Es hilft die Wut. Ich werde ein Essay schreiben ueber Moral und Recht in der Literatur, ueber die Faelscher und Nachahmer. Ich werde begruenden, weshalb die Literatur etwas Heiliges ist, immer noch und immer wieder. Es ist doch seltsam, dass Autoren, die ganze Kapitel aus fremden Romanen als ihre eigenen ausgeben, auch in ihre Buecher die Bemerkung drucken lassen, „kein Teil dieses Werks darf in irgendeiner Form reproduziert, verarbeitet, vervielfaeltigt oder verbreitet werden“. Korrekt muesste es doch heissen: „Dieses Werk darf sowohl in einzelnen Teilen als auch als ganzes in jeder Form von jedem jederzeit vervielfaeltigt werden“, da die Kopierer dies ja ebenfalls mit einem urheberrechtlich geschuetzten Werk tun.
Und ein zweites Thema haelt mich wach. Kein einziger deutscher Journalist arbeitet hier in der Ukraine, dem der Flaeche nach groessten Land Europas. Eine befreundete Redakteurin meinte, daraufhin: Auslandskorrespondenten seien so ziemlich das Teuerste, was sich eine Zeitung leiste. Ach, ja? Gleichzeitig verbietet das deutsche Sozialrecht arbeitslosen Journalisten, im Ausland zu arbeiten. Man hat, seit sich die BILD-Zeitung an der faulheit eines „Florida-Rolf“ aufgeilte, die ANWESENHEITSPFLICHT ausgeweitet, d..h. mal wieder den Einzelfall verabsolutiert. Der Arbeitslose ist inhaftiert, aber auf Freigang. Jeder deutsche Arbeitslose ist ein Josef K.
9.30 Uhr Ankunft in Novosilka. 341 km, 20.54 Stunden reine Fahrzeit.
Natuerlich kein neuer Rekord, 3 Stunden Zeitueberschreitung.

Themen: Tour de Wolga

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