Kruti pedal

Die letzte Teilstrecke vom Donbass an die Wolga, 1200 Kilometer, bin ich an 9 Tagen gefahren. Am Tag der Ankunft meldeten die Zeitungen Hitzerekorde – 42 Grad im Schatten.
Ich hatte mit einer schlimmen Erkaeltung zu kaempfen, hatte eine arge Entzuendung im Hals, hatte wohl auch zu wenig getrunken oder mich auf den Abfahrten verkuehlt.
Ausserdem brach am 1. Tag in Russland die Gangschaltung, gerade an der Spitze eines Berges, gluecklicherweise nicht waehrend einer Abfahrt. Dies geschah nach 100 km in Bugutschar, einer Kleinstadt, in der es keinen Fahrradladen gab. Ich hatte nur an der Grenze ein kleines Fruehstueck eingenommen, 1 Apfel, etwas Kaese und Brot, gegessen, und mich auf ein kraeftiges Essen gefreut.
In einer Avtomoika wurde mir, wie so oft, geholfen, d.h. die Kette gekuerzt, und ich konnte zumindest in einem Gang weiterfahren, aber nicht mehr schalten. Geld wollten die Mechaniker nicht annehmen, deshalb reichte ich das Geschenk weiter, das mir am Tag zuvor ein Geldwechsler in der Ukraine gemacht hatte: 5 Flaeschchen Nemiroff, Frauenschnpas mit laeppischen 21%, die ich eigentlich in Saratov mit Alexander Sergejewitsch hatte leeren wollen. (In Novosilka habe ich „Sprit“ probiert, 96%, die reinigt wenigstens die Speiseroehre.)
Ohnehin war es ein seltsamer Tag: Ich wollte eigentlich Fussball gucken, Deutschland – Ghana. Da fuehrte die Strasse abwaerts, und ich stand am geliebten Don. (In Russland ist der Boden heilig, in Westeuropa vergiftet, diese Beobachtung Heiner Muellers spuere ich / bestaetigt sich hier immer besonders stark.) Ich hatte die Karte nicht studiert nach der Aufregung wegen der Reparatur, deshalb die Ueberraschung.
Ich brauchte die Speseikarte im Restaurant am Fluss nicht lange lesen; der Russe aus Pribaltika wusste was er wollte: sup c frikadelami, pjure i kotlet, salat kapusta i pivo.
Am Nachbartisch aenderten sich die Gespraeche, mama i dotschka versuchten Englisch miteinander zu reden, nach schellen Blicken auf mein deutsches Buch, das ich nebenher las.
Und noch immer kein Fussball … Ich fuhr ins naechste Dorf, nach Podkolodnovka, ein Mann stand vor seinem Haus, einen Schlauch in den Haenden, er liess Wasser fuer die Gaense in den Bottich laufen. Ich hatte noch kein Waschwasser getankt und fragte, ob er auch fuer mich etwas Wasser uebrig habe.
„Nicht bloss Wasser“, sagte er. „Wo kommen Sie her? Aus Berlin? Erholen Sie sich! Kommen Sie, seien Sie unser Gast!“
Kaum drei Atemzuege spaeter sass ich in einer guten Stube, konnte duschen, Fussball gucken, blieb als Gast, erholte mich einen Tag …

Gedanken an den Donbass: Vasja, dieser harte Junge, weint wegen mir. Wir schieden im Streit. Vielleicht werde ich ihn nicht mehr besuchen, vielleicht doch. Ich brauche Zeit, mindestens diesen einen Monat in Russland, um ihm verzeihen zu koennen.
Wer mit mir befreundet sein will, muss eines wissen: Ein Lob auf den FUEHRER kommt bei mir nicht gut an, auch wenn es im Vollrausch gaeussert (gelallt) wird. Ich dulde in meiner Naehe keinerlei Nationalismus und keinerlei Antisemitismus, ich dulde es nicht, dass von „juedischer Gefahr“ geschwafelt wird oder dass ein Mensch wegen seiner Herkunft, seiner Nationalitaet, seiner Hautfarbe, verachtet oder als „minderwertig“ bezeichnet wird.
Vasja hat eben dies getan. Luisa, seine Frau, meinte am naechsten Morgen, er liebe es zu schockieren.
Nun gut, ich verstehe, dass ein ganz und gar hoffnungsloses Leben die „Hitler-Glaeubigkeit“ befoerdert. Man gibt sich dem Hass hin, auch hier in Russland und in der Ukraine, das No-future-Gefuehl ist eben universell.
Mahnung: „Auch wenn du das Grauen darstellst oder Brutalitaeten: es muss schoen sein, sonst ist es nicht fremd. Das Fremdeste in unserer Realitaet ist Schoenheit.“ (Heiner Mueller)

Berlin – Saratov, 3556 km an 25 Tagen

Themen: Tour de Wolga

2 Kommentare to “Kruti pedal”

  1. Anonymous schreibt:
    5th.Juli 2010 um 10:50

    42 grad im schatten, eine erkältung und 96-prozentiger sprit!
    die realität von herrn brumme ist mir fremd und kann dem nichts schönes abgewinnen 😉

    mehr beiträge bitte!

    grüße an die wolga

    michael

  2. Nadja schreibt:
    5th.Juli 2010 um 12:44

    Eine Art wenn nicht Rechtfertigung so doch Erklärung für den elendigen Vassja. Der hat es nicht so gemeint. Ein bisschen Psychoanalyse, und man sieht seine Beweggründe. Aber ich weiß nicht, ob „verstanden“ gleich „einverstanden“ heißen soll. Vielleicht hat der Mann seit langem schon keine Bilder aus Erziehungsanstalten wie Auswitz&Co gesehen und sich dort als eine der nackten Figuren vorgestellt. Oder hat er sich eine andere Figur vorgestellt, eine mit Maschinengewehr? Schlimm. Er sollte weniger trinken.

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