Das Ego im Feuer (1)

Abschied von Saratov; es ist schon am Morgen stickig und schwuel, aus dem ganzen Land werden Hitzerekorde gemeldet, und mich erwartet eine schwere Pruefung gleich am Anfang – die 20 km lange Fahrt aus der Stadt, vorbei an den Fabrikhallen und Autowerkstaetten,  zwei steile Anstiege hinauf, rechts der „Fujiama“, links die Wolga.
Doch die Beine fuehlen sich gut an, auch fegt der Wind diesmal nicht ueber die Hochebene, vorsorglich trinke ich aber mehr als gewoehnlich. Warnungen gab es genug, ich solle nur nachts fahren, mich vielleicht doch von einem Auto mitnehmen lassen; eine Leserin meinte gar, sie habe Angst um mein Herz.*

Ich fahre am ersten Tag also nur 133 km in 7h50, also wirklich bedaechtig und in Altherrenmanier. Nun, kleine Erleichterungen goenne ich mir, so am Mittag eine Pause; ich trinke zwei Bierchen, lege mich in den Wald und schlafe. Und ich esse nur Suppen, zweimal Okroshka, und trinke und trinke. Abends gruesst eine deutsche Reklame auf einem LKW: FUER SIE IST UNS KEIN WEG ZU WEIT.

Am zweiten Tag scheint der Asphalt zu gluehen, der Teer schmilzt und spritzt von den Raedern. Aus Fluessen sind vermooste Tuempel geworden, die Medweditsa riecht nicht gut. Und ich habe verdammtes Pech, der Schlauch platzt auf einer Abfahrt, auch der Ersatzschlauch haelt nicht lange, zudem habe ich den Schraubenschluessel beim ersten Reifentausch liegen gelassen. Nur die Laune nicht verderben lassen! – irgendwie geht es immer weiter, verwurzeln kann ein Nomade nicht.
Diesmal hilft ein Mopedfahrer, und vier Wein trinkende Frauen, die in einer Gartenlaube im Schatten sitzen, geben gute Ratschlaege.
Abends noch ein Bad im See, schon im Grasland hinter Stary Choper, dann ein Schlafplatz neben einem Maisfeld …
nach 128 km und 8h.

* „Christoph, abends habe ich im TV verschiedene schlimme Nachrichten im Zusammenhang mit der Temperaturanomalie gehört – Ihre Reise wird nicht ungefährlich. Vielleicht fahren Sie tatsächlich nachts. Oder pfeifen auf alle Prinzipien und fahren manchmal in Autos, welche in passender Richtung fahren? Ich habe Angst um Ihr Herz. Als Hauptprinzip sollte doch Ihre Gesundheit gelten. Alles andere ist Quatsch. Man muss lernen, nichts für besonders wichtig zu halten, alles auslachen, auf alles pfeifen zu können.
Auf diesen „Weg“ auch! Es ist ein Weg in die Freiheit. Es ist aber eine besondere Freiheit, normale Menschen ahnen nicht einmal, dass es solch eine Freiheit gibt. Es ist auch Freiheit von sich selbst. Man erlangt sie nur, wenn man sich (dieses problembeladene Ego) als ein außenstehender Betrachter beobachten kann. Ohne besonderes Interesse eigentlich – und, Hauptsache – ohne Mitleid. Das ist nur möglich, wenn man stirbt. Erst nachdem man gestorben ist (hoffentlich ist es keine Neuigkeit für Sie, in allen alten Lehren, egal welchen, muss man zuerst sterben, erst dann begreift man, worum es geht), also erst nachdem man gestorben ist, kann man dieses elende menschliche Ego von außen beobachten. Dann ist eben die „Geschichte“ des Ego gestorben.
Ja, ich weiß, ein Künstler braucht wohl diese nie verheilende wunde Stelle, er glaubt, dass dort vielleicht die Urquelle für sein Künstlertum liegt. Es ist aber auch Quelle der Unfreiheit, sein kleines persönliches Inferno, das er immer mit sich schleppt. – Falls er Freiheit wählt, schreibt er dann vielleicht weiter, es werden nur andere Bücher sein.
Kurz: falls Sie unterwegs die Hitzehölle satt haben, winken Sie ruhig einem Lastwagen …“

Meine spaetere Antwort: „Aber ich pfeife ja auf alles, indem ich durch die Hitzehoelle fahre. 1000 km in 7 Tagen, 2x 170 km, 55 Grad ueberm Asphalt – es hat mir nichts ausgemacht. Ich habe mich nicht eine Sekunde schlecht gefuehlt. Habe allerdings 10 Liter pro Tag getrunken. Der Lohn u.a.: Ich habe einen neuen Roman im Kopf, Arbeitstitel HEPHAISTOS. Mein HEPHAISTOS wird ein deutscher Lehrer sein, ein Widergaenger.“

Themen: Tour de Wolga

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