Was kann der Roman heute leisten?

Heinrich von Kleist sprach mit großem Respekt von den Malern, weil diese bereit seien, „jahrelang zuzubringen mit dem Geschäft, die Werke großer Meister zu kopieren“. Das Kopieren dient dem Zweck, Regeln zu erlernen, sich das Wissen über Bildaufbau, Proportionen, Kontrastwirkungen und Dynamik anzueignen. Und nicht etwa die Gefühlswelt von Leonardo da Vinci.
Man lernt in der Malerei von den Besten, es gibt klare Meister-Schüler-Verhältnisse. Handwerkliche Kenntnisse und Fähigkeiten werden von Generation zu Generation weitergereicht, Traditionen bilden sich heraus, allgemein anerkannte ästhetische Maßstäbe, ein Bewusstsein für Formen und Kontraste.
In den besseren Schulen erlernte man nicht nur die Regeln der Malerei, sondern auch, dass diese universeller Natur seien. Die Gesetze der Harmonie gelten in jeder Kunstgattung. In jeder wird die Drei als harmonisch und spannungsgeladen empfunden, nicht aber die Zwei oder die Vier.
Der Zwei fehlt noch etwas, sie ist ein Potential, ihr droht aber auch die Selbstaufhebung oder Selbstvernichtung. Die Drei ist die Zahl, die Entwicklung und Intrigen aller Art ermöglicht, auch solche, die in die Zukunft weisen. Die Drei braucht es, damit auf einer Fläche ein Raum dargstellt werden kann.
In jeder Gattung gibt es auch technische Grenzen. Der Balletttänzer kann die Gesetze der Schwerkraft nicht überwinden. Der Komponist sollte das Musikstück in einem dem menschlichen Ohr zugänglichen Frequenzbereich schreiben.

Eine Gattung jedoch gebärdet sich seit Jahrhunderten anarchistisch. Für den Roman gilt: Jedes Exemplar will unvergleichlich sein, es schafft sich seine eigenen Regeln, nur an denen will er gemessen werden. Schreiben kann jeder wie er möchte. Jeder Mensch ist schließlich ein Erzähler, jeder spricht Prosa und glaubt deshalb zu wissen, was ein schöner Ausdruck ist.
Auch von der Literaturkritik wird der Roman häufig als eine liederliche Gattung behandelt, die es nicht wert ist, auf sprachliche Genauigkeit oder gar Schönheit untersucht zu werden. Bei der Beurteilung von Gedichten wird jede Silbe mit dem Hämmerchen abgeklopft, von einem Theaterstück erwartet man eine bühnenreife Sprache, aber wie ein Roman geschrieben ist, der literarische Stil, ist der Kritik und mit ihr vielen Lesern piepegal.

Weil jeder Roman seine eigenen Regeln schafft, fällt es der Kritik auch von jeher schwer, Maßstäbe zu seiner Beurteilung zu erstellen. “Und nur darum sind Kritiker und Verfasser meistens einander würdig, weil der durchschnittliche Romanschreiber jene verwaschenen Schablonen benützt, die dann die Kritik freilich benennen kann und eben weil sie sie benennen kann, auch lobt.” Walter Benjamin wusste, wo die entscheidende Falle für die Literaturkritik liegt. Die Wiedererkennbarkeit gilt als wesentliches Kriterium für die Qualität eines Romans. Deshalb begnügen sich Rezensenten oft mit der Nacherzählung der Handlung und allgemeinen Bewertungen, ohne stilistische Urteile zu riskieren, die überprüfbar sind und genaue handwerkliche Kenntnisse voraussetzen.

Weshalb sollte ausgerechnet der Erzähler auf die Mittel der Diagnose und sprachliche Schönheit verzichten? Auf den Anspruch, Katharsis zu ermöglichen oder eine Ästhetik der Grausamkeit zu entwerfen? “Kein Eisen dringt glühender in das menschliche Herz als ein zur rechten Zeit gesetzter Punkt”, notierte Isaak Babel. Und Babel hatte manches Eisen glühend eindringen sehen, zuletzt wohl in sein eigenes Herz.
Im Roman wie im Gedicht ist die Formulierung das Ereignis. Der Autor soll auf dem Instrument Sprache spielen können. Er soll verführen und Kontraste erzeugen können, er soll das Erzähltempo variieren, dem Leser Atempausen gewähren und Erwartungen unterlaufen können. Er soll den Stoff durchdacht haben, und er soll seine ästhetischen Entscheidungen (historisch) begründen können, in Respekt vor den Traditionen des eigenen Genres.
Der Roman plündert alle literarischen Gattungen, er ist das gefräßigste literarische Genre. Er nutzt die Mittel des Dramas, er kann lyrisch sein wie Friedrich Hölderlins “Hyperion” oder eine angewandte Erkenntnistheorie, es lassen sich mit ihm physiologische Studien betreiben. Er kann ein Mittel der Konfliktforschung oder nach Machtanalysen von Michel Foucault gestaltet werden oder die Hegelsche Logik sich zum Vorbild nehmen oder ein vierzehnjähriges Kind aus dem Konzentrationslager berichten lassen.

Literarische Erkenntnisse müssen nicht mehrheitsfähig sein, um eine Wirkung zu entfalten, darin liegt ihre Stärke. Ein Buch kann aber die Persönlichkeit seines Lesers verändern, es kann die gleiche Wirkung haben wie “Das Porträt” in Gogols Erzählung, dessen Nähe kaum jemand erträgt.
Soll eine literarische Figur glaubwürdig sein, muss ihre Darstellung allerdings der Komplexität einer menschlichen Persönlichkeit gerecht werden. Diese Komplexität kann nicht erreicht werden, indem das Verhalten der Figur in Ganghofer-Manier mit Adjektiven benannt wird (er lachte schallend, böse; das Fenster öffnete sich quietschend; er hüstelte gequält usw.). Das ist kein Mittel der Gestaltung, sondern Ausdruck von Bequemlichkeit oder Unvermögen. Denn jedes Wort, das ein Mensch spricht, jede Geste und jeder Blick, zeigen eine Vielzahl von Eigenschaften. Einen Menschen erkennt man an seinem Lachen, meinte Dostojewskij.
Obwohl die Kritik sich oft als Gedankenpolizei gebärdet, nach autobiographischen Hintergründen fragt und den Roman erkennungsdienstlich behandelt, erkennt sie die wahren Absichten des Erzählers nur selten, weil diese so banal sind und sich von der Interpretations-Industrie nicht ausbeuten lassen. Der Autor will im Grunde nur ein Kunstwerk schaffen, mit all den klassischen Eigenschaften eines Kunstwerks – schön, erschreckend, bejahend.
Der Autor hat keinen Supervisor, er muss die Abartigkeiten seiner Figuren allein erkunden. Er selbst muss entscheiden, was er sich und den Lesern zumutet. Nikolai Gogol hungerte sich aus Scham über das eigene Schreiben zu Tode, er nannte es Fasten.
Manche Leser glauben, der Autor würde für jemanden schreiben. Doch Literatur hat keine Adressaten, sondern bestenfalls Empfänger. Erstere sind bekannt, letztere erhalten Flaschenpost.

Themen: Essays

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