Eine russische Stadt – Zeit im Osten

In der FAZ beschreibt Jakob Strobel y Serra mit wuchtigen Sätzen die russische Stadt Jekatarinburg. Hier ein Beispiel für das brillante sprachliche Feuerwerk.
„Jekaterinburg ist ein anarchisches Durcheinander aus alten, verrunzelten Holzhäuschen mit verschwenderischem Schnitzwerk und einer Patina schwermütig wie bei Gogol, strahlenden Palästen aus Zaren-Zeiten von fast schwebender Klarheit, stalinistischem Klassizismusplüsch in Zitronengelb und Pfirsichrot mit Stuckschmuck wie aus Baisér, wurmstichigen Plattenbauten voller Rostbeulen und Schimmelflecken, Luxusappartements und Hochhäusern aus Glas und Stahl im Universalgeschmack der Globalisierung – verspottet in ihrer modischen Vergänglichkeit von der zeitlosen Schönheit Dutzender Gebäude im Bauhausstil, einem Stadion in Form eines Schiffes, einem Postamt in Form eines Traktors, denn Stalin war nicht nur ein begeisterter Zuckerbäcker, sondern auch ein Freund des fortschrittlichen Minimalismus.“

Der Artikel ist lehrreich, weil er sich auf die fröhlich gelebten Widersprüche der russischen Gegenwart konzentriert. Gegenwart ist im Russischen nicht bloß das Jetzt; die Kultur ist nicht sündig an den Augenblick geschmiedet. Die aus dem Westen importierten Bewusstseinsindustrien (Telefon- und Computerkonzerne) sind zwar stark, aber das materielle Elend schützt die meisten Menschen vor dem Blendwerk des schönen und bösen Scheins. Die Industrialisierung des Bewusstseins wird auch durch die rückständige Infrastruktur behindert. In Russland und in der Ukraine gehören Stromsperren zur Normalität. Dann stehen die meisten Maschinen still, und die Sucht, ein Objekt zu werden, kann nicht befriedigt werden – eine Erfahrung, die man in Deutschland zuletzt in grauer Vorzeit gemacht hat.

Ich erlebe den Schock jedes Mal nach Überqueren der polnisch-ukrainischen Grenze: Die Zeit ist auf einmal ein Schatz, sie unterleigt nicht der Normierung durch Geld, ich fühle mich freier, weil ich unter Menschen bin, die Tag für Tag improvisieren müssen, für die Zukunft nur etwas Vorläufiges ist, von der man nicht weiß, ob sie stattfinden wird. Auf den meisten Friedhöfen sind frische Gräber, auch an den Straßenrändern stehen mehrmals am Tag geschmückte Kreuze für Unfallopfer. Bei Gewitter suche ich möglichst Schutz in einem Dorfgeschäft. Da stehen meist Tische und Bänke, man trinkt ein Bier, die Nachbarn warten auch auf das Ende des Regens. Und wenn kein Strom mehr fließt werden Kerzen auf den Tisch gestellt. Die Verkäuferin rechnet sonst ohnehin mit Holzkugeln, bevor sie die Summe in die Kasse eintippt (siehe Abakus). Einer der Wartenden ruft vielleicht mit dem Mobiltelefon zu Hause an und erklärt, weshalb er später kommen wird – die Frau inzwischen soll die Schweine füttern, die Säue sollen viele Ferkel werfen, er spart für  eine Satellitenschüssel, damit er wie sein Nachbar eintausendfünfhundert Fernsehprogramme empfangen kann.

Der Riss zwischen den beiden Hälften des Kontinents ist ziemlich breit, wenn man bedenkt, dass  die Vergangenheit im Westen mit der Narrenkappe auftritt oder als versteinerter Irrtum nach 500 Jahren Frost, als blutleerer Zombie. Jahrzehnte ununterbrochener Versorgung mit Strom haben Chronos, dem Greis Greis mit Sichel und Stundenglas, ausreichend Möglichkeiten verschafft, das Bewusstsein und das Zeitempfinden mit dem Versprechen zu betäuben, die Hochzeit zwischen Mensch und Maschine dauere ewig.

Foto: Donbass, Kohlerevier der Ukraine, 2010

Themen: Russland - Ukraine

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