Pressestimmen

Christoph D. Brumme, „Der Honigdachs“
„In der Spannung von gegenwärtigem Erzählen und Erleben und der Rekapitulation der Vergangenheit wird durch die klare Sprache eine merkwürdige Mischung aus Distanz und messerscharfer Analyse erzeugt. Erschütternd und schockierend ist dann auch nicht erst die Feststellung, die am Ende des Buches steht: „Raskolnikov hatte kalkuliert gemordet, ich als Siebenjähriger, welch fundamentaler Unterschied in Bezug auf die Bewertung der Tat, nicht in Bezug auf die möglichen seelischen Folgen“.
Brummes Roman ist ein Zeugnis von Kindesmisshandlung und den Folgen für die Opfer und deren Umfeld. In brillanter Sprache schafft er eine Prosaminiatur, die in dieser Form ihresgleichen sucht. Warum für dieses Stück Weltliteratur als Titel die Metapher des „Honigdachs“ gewählt hat, wird allerdings erst nach der Lektüre deutlich.
Thomas Neumann, www.literaturkritik.de

Die Sätze dieses Romans sind kurz und knapp. Der Erzähler schildert absichtlich sprunghaft und erzählt die schrecklichen Kindheitserlebnisse distanziert, ironisch und mit bissigem Humor.
Birgit Fromme, Borromäusverein Bonn

Bittere Ironie verbindet sich mit zynischen Anklagen, Lakonie geht die Ehe mit subtilem Humor ein. Die klare, etwas spröde Sprache berührt den Leser auf ganz eigene Weise. Ein lesens- und entdeckenswerter Schriftsteller!
Elvira Hanemann, Buchhandlung Thaer

Brummes Sprache ist spröde, einfach und knapp; wo immer das Unheil hereinbricht, setzt er ironische, komische, absurde, zynische, groteske Splitter. So entsteht ein ungeheuer dichtes, bildreiches Lebens-Mosaik, das einem den Atem raubt.
Praxisjournal Buch

Christoph D. Brumme, „Auf einem blauen Elefanten – 8 353 Kilometer mit dem Fahrrad von Berlin an die Wolga und zurück“

Nils Kahlefendt, „Börsenblatt“:
Im Tritt der Pedale verweben sich Erinnerungen, poetische Miniaturen und skurrile Alltagsbeobachtungen – vom Dampfgeplauder der Globetrotter Steve und Vali ist Brummes Prosa so weit entfernt, wie ein Andrzej-Wada-Film von den »Simpsons«.

Jan Ehlert, „NDR – Buch der Woche“:
So ganz will man Brumme seine fast ausschließlich positiven Erfahrungen nicht glauben, zu perfekt, zu menschenfreundlich scheint diese Welt (…) Vielleicht ist diese Skepsis aber genau der westliche Großstadtpessimismus, dem Brumme mit seiner Fahrradtour entkommen wollte. Um das herauszufinden, muss man vermutlich selbst seine Erfahrungen sammeln. Brummes Buch macht auf jeden Fall Lust darauf.

Günter Wessel, „Deutschlandradio“:
Christoph Brummes Buch ist anders. (…) Das Buch lebt (…) von den Begegnungen, die Brumme widerfahren. Er erzählt von seinen Vorurteilen, die Ukraine betreffend. Räuber und Banditen vermutet man dort, alle Formen von Gesetzlosigkeit und Willkür, einfach mafiöse Zustände udn Brumme – Brumme fährt mit seinem Rad durch das Land und bekennt am Ende, dass es nicht eine Stunde gegeben hätte, in der er diese Fahrt bereut habe. (…)
Brumme zieht ein doppeltes Fazit aus seiner Tour de Wolga: Er liebt das Alleinsein, und er hat erlebt, dass die meisten Menschen hilfsbereit, freundlich und ehrlich sind. Das klingt recht schlicht, aber vielleicht sind viele Wahrheiten genau das.

Maren Schürmann, „Westdeutsche Allgemeine Zeitung“:
Das Buch erinnert an Wolfgang Büschers preisgekröntes Werk »Berlin – Moskau«. Brummes Bericht ist ähnlich lesenswert und tiefgründig, nur nicht so geschichtsgründelnd.

Thomas Neumann, „Zur Abwechslung mal interessant reisen“, www.literaturkritk.de:
Brummes Reisebericht ist sprachlich brilliant und man merkt ihm nicht die Mühe an, die der Autor auf die Feinheiten seines Stils verwendet hat. Die treffenden, kurzen Formulierungen, die Vermischung von Reiseerlebnis, kommentierendem Metatext und literaturhistorischen Exkursen lassen den Fahrradfahrer Brumme eine ganz eigene Sicht auf die Menschen finden, die ihn auf seiner Reise begegnen. (…) Dieses Erlebnis mit dem Autor zu teilen, darauf sollte kein Leser verzichten.

„Fahrradtour durch die Hirnwindungen“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, „Reiseblatt“:
Auf seiner Fahrt durch Polen, die Ukraine und Russland berichtet er menschenkenntnisreich von Begegnungen mit Bauern, Schachtarbeitern, Volksdeputierten, Gendarmen und Banditen. … Seine Stärken entwickelt er im Wechsel von knappen Tagebucheinträgen und Bewusstseinsströmen („Vielleicht fahre ich durch Dörfer oder durch meine Hirnwindungen“) wie reflexive Passagen über das Schreiben („Verwendung der Akjektive: Thomas Mann bindet Schleifchen an die Sätze, Kafka Rubine und Rasierklingen“) oder Schachspielen.

Wolfgang Werth, „Auf einem blauen Elefanten“ als persönliche Empfehlung auf der SWR-Bestenliste im Mai 2010:
Dieses lebendige, nur scheinbar rasch hingeschriebene Tagebuch nimmt einen mit auf die lange Fahrrad- und Erfahrungstour, die der kontaktfreudige Solist Brumme im Sommer 2007 absolviert hat. Zweieinhalb Monate ist er mit seinem “blauen Elefanten” von Berlin nach Saratov unterwegs gewesen, in 14 strapaziösen Tagen auf anderer Route zurückgestrampelt. Der Lohn der Anstrengung: vor allem viele nachwirkende Begegnungen mit gastfreundlichen (meist auch trinkfesten) Menschen und, nicht zuletzt, die Fotos der mit Mosaikbildern ausgestatteten Buswartehäuschen – Sowjet-Kuriosa, die ihr Entdecker als Kulturerbe würdigt.

Ingeborg Jaiser, Titel-Magazin, http://www.titel-magazin.de/artikel/13/6530/christoph-d-brumme-auf-einem-blauen-elefanten.html

Hörbuch „No“, gelesen von Corinna Harfouch, Dittrich Verlag, Berlin, 2008:

Heike Geilen, Das Elend in Elend, www.literature.de
»No« ist ein kleines, aber feines (Hör-)Buch, das in der akustischen Version mit einer großartigen Sprecherin besetzt wurde. Corinna Harfouch weiß sich einfühlend in die Seele des Protagonisten hineinzufühlen und dessen innere Beobachtungen mit dem notwendigen Fingerspitzengefühl wiederzugeben. Gerade wegen ihrer scheinbar unsentimentalen Vortragsweise, die ohne jedwedes Pathos auskommt, zeichnet sie Nos Leben von überaus großer Intensität.

Rolf-Bernhard Essig, „Buchtipp“:
Mit der lakonischen Kraft des Mythos beginnt der Roman. Dabei lernt hier nur ein Kind lesen. Allerdings in einem Akt perfider Dressur. Das Buch behält diese Kraft, ja vergrößert sie noch, je mehr man die zerstörerische Gewalt einer extremen, aber eben doch konsequent bürgerlichen Erziehung so direkt erfährt, als ginge es um das eigene Leben. Ein Vater tritt hier auf, dessen Ähnlichkeit mit dem antiken Urgott Kronos – bei allem detailgenauen Realismus der Handlung in der DDR der 60er und 70er Jahre – ins Auge sticht. Hier liebt jemand seine Brut im schlimmsten Sinne des Wortes als sein eigen Fleisch und Blut. Damit auch als sein Eigentum, seine Rohmasse, sein Spielmaterial, mit dem er tun und lassen kann, was er möchte. Der Vater kann und wird die Kinder symbolisch und letztlich doch real zerstören und sich einverleiben. Am Ende ist ein Entkommen der Nachkommen möglich; durch äußere Distanz. Die seelische und körperliche Zerstörung zu überwinden, scheint aussichtslos.
Die Leser erfahren durch den Roman, wie solche Vater-Extremnaturen sich halten und sogar ihre soziale Achtung erhalten können, und warum niemand gegen sie vorgeht, warum schlimmste Misshandlungen ruchbar und doch mit aller Macht von den Nachbarn verdrängt werden. Damit ist „No“ weit mehr als eine berührende und erschreckende Kindheitsgeschichte. Der Roman führt hinein ins dunkle Herz der bürgerlichen Familie und der deutschen Autoritätshörigkeit. Und eine bessere, treuere Interpretin und Führerin bei dieser Höllenfahrt als Corinna Harfouch ist nicht vorstellbar.

Walter Dennstedt, Die Geschichte eines Verlierers, Mittelbayerische Zeitung:
Man muss ihm das Alphabet einprügeln. Die seltsamen „Erziehungsmethoden“ bis hin zu Prügeln und – was noch schlimmer ist – seelischer Folter seines Vaters regen ihn kaum zum Aufstand, sondern zur Flucht in die Fantasie.
„No“, von Corinna Harfouch mit der professionellen Distanz eines sich selbst vom Protagonisten distanzierenden Autors erzählt, ist das, was man einen Antihelden nennt. Das Hörbuch, bei dem der für seinen Roman ausgezeichnete Schriftsteller Christoph D. Brumme selbst Regie führte, ist nichts für Sensationsgierige. In gemäßigtem Erzähltempo erfährt man vieles über den Alltag der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik; ihre Menschen und ihre Kritiker. Helden gibt es in dem Hörbuch nicht: Es wird berichtet; fast emotionslos reportiert Harfouch eine schwere Kost. Und gerade deshalb ist das Hörbuch zu empfehlen – als fiktive Biografie eines jungen Menschen aus der ehemaligen DDR.

Stefan Berkholz, „NDR Kultur“, 2008:
Deutsche Zustände Ende der 60er-, Anfang der 70er-Jahre
.. lakonisch und seltsam naiv kommt dieser Text daher – denkt man beim ersten Hören. Doch der Tonfall gibt nur etwas vor, das genaue Gegenteil ist der Fall: Durchtrieben hintergründig werden hier deutsche Zustände Ende der 60er-, Anfang der 70er-Jahre entlarvt. Irgendwo in einem Grenzdorf, heißt es, auch die DDR ist irgendwann erwähnt und am Ende erfahren wir sogar den Namen des Kaffs. Aber der ist ganz und gar unwichtig.
Brumme, 1962 in Wernigerode im Harz geboren, schuf mit seinem Debüt ein eindringliches Zeitgemälde, eine tiefenpsychologische Studie deutscher Verhältnisse, einen Vater-Sohn-Konflikt. Sehr klar, sehr dicht und beinahe kindlich in der Schreibweise. Deutsche Tugenden werden vorgeführt, eine Erziehung zum Gotterbarmen. Der Vater ist ein kleinbürgerlicher Tyrann, ein – zumeist stummer – Despot, ein ungehobelter, schamloser Kerl ohne jeden Selbstzweifel. Ein Blick in die Abgründe in uns.
Harfouch liest den Text so kühl, wie er verfasst ist. Da kann man nichts machen, hört man, das war schon immer so, vernimmt man, daran wird sich auch künftig nichts ändern, soll man glauben. So wurden neue Untertanen herangezüchtet, da wie dort, im Osten wie im Westen, in den 60er-Jahren. So weit liegt das noch nicht zurück. Und wer wissen will, wie dieses Land beschaffen ist und welche Gefahren unter der wohlanständigen Oberfläche auch heute noch in der Provinz lauern, der sollte diese Lektüre auf sich nehmen. Es ist ein Blick in die Abgründe in uns.

Roman „Nichts als das“, 1994:

Hans-Joachim Neubauer, „Wildnis Deutschland“, die tageszeitung, 07.05.94,
„Kalte Familienrituale in Christoph Brummes Debütroman einer ostdeutschen Jugend“:
„… In dieser Enge kreist alles um den einen, den Vater. Von ihm geht alle Macht aus, er hat das Sagen und beherrscht die Sprache, was der Roman von Beginn an zeigt: „Nos Vater trat an den Tisch. Nos Mutter blickte auf und sagte: Er will nicht lesen lernen. Du willst nicht lesen lernen? fragte Nos Vater. Das wäre doch gelacht. Lesen mußten wir alle lernen.“ Bei jedem Fehler boxt der Vater No „in die Seite, mit den Knöcheln der Faust unter die Rippen, dahin, wo es weich ist.“ Das Prügeln prägt die Schrift in den Körper.
Sprache und Strafe durchziehen das ganze kurze Buch. Der Junge lauscht den Wörtern nach, der Vater vollzieht sachlich die elenden Rituale des Mächtigen: „Eine Tracht Prügel kam nicht aus heiterem Himmel. Sie begann mit einem Pfiff. Nos Vater pfiff. Das hieß: Herkommen“ So lebte die Familie am Brocken.
Keine Zeit bringt hier mehr Rat. Es gibt kein Ganzes, nur dieses erregende Ineinander von Worten und Bildern, Gerüchen, Stimmungen und stillen Zimmern am Nachmittag. Über allem aber der Vater. Immer bleibt er sich treu, auch im Spiel als bergsteigender Indianer, und nur in Klammern darf der Sohn seinen Namen unter den des Vaters ins Gipfelbuch schreiben. Wenn der Vater mit dem Sohne, dann hat er das Sagen, was er genau weiß und auch in Szene setzt. „Soll ich dir beim Nachdenken helfen? Oder kommst du alleine drauf? No wußte nicht, worauf er kommen sollte. Manchmal hatte er etwas getan, von dem er wußte, daß es sein Vater herausbekommen hatte.“ Man sieht die ganze Banalität des Bürgers mit den Augen des Sohnes, von unten und sehr genau. „Sein Vater legte ihm die Hand in den Nacken, zog ihn an sich, und das war eine Umarmung.“ Nos ganzes Leben ist auf den Vater fixiert: der eigene geschlagene Leib, jeder Punkt am Wegrand, Räume, Geräusche und Gerüche, alles ist besetzt von ihm, alles erzählt von ihm.
Väter sind Stellvertreter, und hinter diesem liegen Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus, der Krieg. Der literarische Blick auf diesen Sohn seiner Zeit leuchtet die Abgründe aus, die die Geschichte Deutschlands vor der Teilung der beiden Hälften überließ, Seelenschrott, ein Erbe, das um so gruseliger wirkt, als es aus der klaren Sicht eines Kindes gezeigt wird.
All das ist einfach da, eine karge, sehnsüchtig machende Welt, die soviel von Ganzdeutschland zeigt und von seinen Einwohnern, denn auch der Osten ist nur eine Antwort auf die Zeit, aus der der Vater kommt; das ist die eine, verzweifelt deutsche Geschichte. Um so absurder, daß die Feuilletons immer auf den „großen gesamtdeutschen“, geschichtsverdauenden Roman warten, als hätten sie das nicht begriffen. Christoph Brumme schert das wenig, er begründet nicht und löst nichts auf. Im strikten Nebeneinander seiner kurzen Sätze ist das parataktische „und“ die häufigste Konjunktion, sind Reihen und Wiederholungen die wichtigsten Stilfiguren. Das genügt und ist stärker als jeder Symbolismus, als alles Bedeutenwollen.

Burkhard Spinnen, „Mittelgebirgselend“, FAZ, 10.08.94,
„Vater erziehen: Eine Kindheitsgeschichte von Christoph Brumme“:
„Das Buch heißt „Nichts als das“. Seine Hauptfigur heißt No. Das ist ein Junge, der im Verlauf des Textes älter wird; am Ende ist er vielleicht vierzehn. Er hat Geschwister, eine Mutter und, vor allem, einen Vater. No lebt in der DDR, in Elend. Den Ort gibt es, im alten Diercke Weltatlas, Karte Deutsche Mittelgebirge, liegt er südlich des Brockens, Luftlinie vielleicht vier Kilometer zu der Grenze, die der alte Diercke noch zeigt. Der Autor des Buches heißt Christoph D. Brumme, Jahrgang 1962. Mag sein, er hat in einem ersten Roman autobiographisches Material verarbeitet. Was geschieht in dem Buch? Verstörend wenig. „In der kargen, von großer analytischer Schärfe zeugenden Sprache entsteht durch No die DDR als Kindheitstraum.“ Sagt der Klappentext. Und der hat recht, obwohl er auf eine falsche Fährte lockt.
Tatsächlich liegen die Gründe dafür, daß man das Buch beinahe mit Spannung liest, weniger in der Geschichte als in ihrer Darstellung, im Sprachlichen. Allerdings: zitieren sollte man aus „Nichts als das“ besser nicht, Ausschnitte könnten nichtssagend wirken. Das Wesentliche und die Wirkung liegen im Ganzen, in einem kühlen, nüchternen, dabei doch immer wieder von scharfen Behauptungen und Urteilen gestörten Sprachklima. Das Buch konstruiert über weite Strecken ein kindliches oder heranwachsendes Bewußtsein aus einer gewissen Distanz, aber ohne Besserwisserei, intim, aber ohne falsche, anempfundene Naivität. Aufmerksamkeit für die vom Vater vorgeordnete Dingwelt, bisweilen auch für die Alltagsmythologie einer zerstrittenen Familie ersetzen vielfach die Introspektion in die problematische Innenwelt des Protagonisten. Und die negativen Urteile über No werden so subtil als das Sprechen anderer herbeizitiert, daß in der Schwebe bleibt, wieweit der Junge die Verdikte vor allem des Vaters bereits antizipiert hat.
Aber „Kindheitstraum“ DDR? Wenn er „Nichts als das“ war, dann gab es ihn nicht. Oder besser, nicht so, wie sich der Westdeutsche das ideologisch durchorganisierte Leben derer im Osten vorgestellt hat. Gelegentlich begegnen Russen auf dem Brocken, ein paarmal bricht der lächerliche Wahnsinn einer Suche nach „Grenzverletzern“ durchs Einerlei. Wer Aufdeckungen verlangt, den muß das enttäuschen.
Wenn nun doch mehr DDR in „Nichts als das“ ist, dann durch den Vater. Der ist entschieden problematischer als die Hauptfigur, und er ist so dominant, daß der Text sich zunehmend auf ihn konzentriert, ja um seinetwillen die Kindheitsgeschichte oft beinahe aufgibt. Dieser Vater, Jahrgang 1937, scheint auf den ersten Blick für nichts zu stehen, erst recht für keinen Staat. Nach mehreren Berufen schließlich ein geachteter Lehrer, ist er kritisch gegen alle Parolen, zu No bisweilen auch nachsichtig und sogar zärtlich. Indes unterwirft er seine Familie einer brutalen Alltags-Tyrannei, die immer wieder glauben macht, der Text sein nicht in der DDR der sechziger und siebziger Jahre, sondern ganz woanders angesiedelt. Das Erziehungs- und Herrschaftsmittel des Vaters aber sind Prügel; und diese Prügel kommen aus keinem System, aus keiner Ideologie. Sie erscheinen, wie fast alle Gewalt, ohne Begründung, als Absage an den Diskurs.
DDR in diesem Buch ist also vielleicht gerade die Abwesenheit eines regulativen Systems, einer korrigierenden Öffentlichkeit. Das Private existiert noch: doch nur als Abschottungsraum des Schrecklichen. Spät kann ein Bruder Nos sich mit Unterstützung der Behörden gegen den Vater durchsetzen, freilich nur, indem er sich verpflichtet, Offizier zu werden. Und No erhebt schließlich sogar einmal das Beil; daraufhin schlägt der Vater nicht mehr. Das ist, literarisch wie moralisch gesehen, kein recht organisches Ende einer Kindheitsgeschichte. Man dächte sich Emanzipation gerne anders. Ebenso wie das Ende der DDR.“

Robin Detje, „In Elend“, Die Zeit, 01.09.94,
„Nichts als das“ – ein Erstling von Christoph D. Brumme:
„Das Kind heißt No; ein Junge. Drei Brüder, eine Schwester, der Vater Lehrer. „Nichts als das“ lautet der Titel von Christoph D. Brummes Roman, der Nos Kindheit im Harz erzählt, in einem Dorf namens Elend an einem Fluß namens Bode (und in einem Staat namens DDR).
Nos Vater ist ein Sadist. Er prügelt seine Kinder nicht, er foltert sie, mit einem „Haselnußstock“, „am unteren Ende leicht geschwungen, da, wo Nos Vater den Stock anfaßte“. Im Keller, „damit das niemand hörte“. „Wenn ich pfeife, sagte Nos Vater, hast du zu springen.“ Der Vater pfeift. Der Sohn kommt nicht schnell genug. Der Vater schickt ihn zurück und pfeift wieder. Aber diesmal wartet er in einem anderen Zimmer. Der Sohn findet ihn nicht und kommt wieder zu langsam. Im Keller muß er im Dunkeln stehen und die Hosen herunterziehen, sobald der Vater kommt und den Haselnußstock schwingt.
Im Harz sind die Wälder düster. Soldaten warten auf Grenzverletzer. Urlauber brauchen einen Passierschein für jedes einzelne Dorf. Auf dem Brocken feiern die Hexen Walpurgisnacht. „Isegrimm“ nennt der Vater die böse Schwester seiner Frau. Auf dem Treppenabsatz steht die Schwiegermutter und brüllt den Vater an: „Du hast den Teufel im Leib.“ Bannflüche; auch der Sohn wird gebannt: „Weil er helle und krause Haare hatte, sagte seine Mutter, daß sie ihn im Krankenhaus verwechselt haben würden, nach der Geburt.“
Brutalität und Aberglaube. An den Wänden Sinnsprüche: „Wenn man alles haben könnt, / was man ohne Mühe fänd, / was man nie erreicht, / dann wärs leicht! // Doch man sieht allmählich ein, / man muß hübsch bescheiden sein. / Schweige und begnüge dich, / lächle und füge Dich.“ – „Er mußte“, schließt No, „wirklich bescheidener sein.“
Gebannt wird das Kind vor allem durch die Sprache des Vaters, die es sprechen lernt: Menschen, die wenig sagen, nennt man „ruhige Vertreter“, No selbst ist ein „falscher Fuffziger“. Tanzt der Vater durch die Küche, sagt man: „Das muß auch mal sein.“ Die väterlichen Erziehungsversuche enden stets mit „einer vernünftigen Einigung“: „No war vernünftig gewesen und hatte eingesehen, daß der Fehler bei ihm lag.“
Den Folterknecht lieben zu müssen, weil man kein Leben jenseits der Folter kennt, ist vielleicht der schlimmste Teil der Qual. No übt sich in Einsicht, weil er ganz ohne die Liebe des Vaters nicht überleben kann. Er versucht, seine unberechenbaren Winkelzüge vorauszuahnen, und trotzt der Kindheit (Schule und Arbeitsdienst, für den Vater Ziegelsteine schleppen und Nägel geradeklopfen) kleine Fluchten ab. Einmal träumt er, über den antiimperialistischen Schutzwall zu entkommen; aber hinter ihm winkt die Lehrerin: „Erst wenn er seine Hausaufgaben gemacht hatte, durfte er abhauen.“
Der Roman ist eine kurze Geschichte vom Verrat. Der Vater verrät seine Kinder; Nos älterer Bruder verrät den Vater, der sich in dumpf-staatskritischem Querulantentum übt, Briefe an die Regierung schreibt und die Erinnerung an Stalingrad in Ehren hält, und wird Offizier bei der Nationalen Volksarmee. Vor dem brutalen und sinnlosen Regime des Vaters bleibt nur die Flucht in das brutale, sinnlose Regime der Partei; aus dem engen Harzdorf ins enge Staatsdorf. Der Verlag schlägt das Buch in das Gemälde „Heimkehr der Jäger“ von Pieter Breughel dem Älteren ein. Eislandschaft. Gefrorene Herzen.
„Nichts als das“ ist keine Flucht, sondern ein Gegenangriff mit Mitteln der Sprache, ein kleines, ruhig und fein gearbeitetes Kunststück. Christoph D. Brumme beobachtet seine Hauptfigur von innen: Nos Qual, Nos Feigheit, am Ende Nos Mut. Es gibt keinen erleichternden Ausbruch von Wut oder Gewalt, keine Katharsis, nur Geschichten und Anekdoten. Berichtet wird auch, nebenbei und so undramatisch wie möglich, wie No die Axt gegen den Vater erhebt: „Seitdem schlug er ihn nicht mehr.“ Die Veränderung bringt keine Erlösung. Erst auf der letzten Seite des Buches denkt No daran, daß sein Heimatdorf Elend heißt. „Aber eigentlich fiel es nur selten jemandem auf, welche Bedeutung dieser Name hatte.“
Ob es No wirklich auffallen wird, ob er aus dem Eistal entkommt, bleibt offen. Man ahnt nur, daß er sich befreien könnte, wenn er das richtige Wort fände, sein Leben zu benennen. Wenn er den Bann bräche mit einem Fluch.
Wer weiß, wie autobiographisch dieser Roman ist – und wer weiß, ob und was der Autor nach diesem schmalen, fast zu sicher in sich ruhenden Band noch schreibt. Über ihn verrät der Klappentext nur: „Christoph D. Brumme lebt als freier Schriftsteller in Berlin.“ Als freier Schriftsteller – als einer, der so frei ist, das Elend Elend zu nennen.“

Sieglinde Geisel, „Deutsche Kindheit“, Freitag, 02.09.94,
„Nichts als das“ – Christoph D. Brummes eindrucksvolles Debüt:
„Kann es nach dem Verschwinden der DDR noch DDR-Literatur geben? Bei Christoph D. Brumme erscheint die DDR – im nüchternen Blick eines Kindes – als vieldeutige Metapher. Das Kind mit Namen No versteht nicht, erklärt nicht – es nimmt nur wahr, ganz ungestört, denn No ist allein. Nicht einmal der Erzähler ist auf seiner Seite.
No wächst in einem Landstrich auf, der seit der Walpurgisnacht in Goethes „Faust“ nicht mehr ganz geheuer ist: Auf dem Brocken zwischen Elend und Schierke tanzten einst die Hexen. Tiefstes Deutschland: Vor nicht allzulanger Zeit verlief hier im Harz die empfindliche Grenze der beiden deutschen Staaten – in Brummes Roman rückt diese Zeit in eine gläserne Ferne. No lebt tatsächlich in jenem Dorf namens Elend, zusammen mit seiner Familie, die noch namenloser ist als er selbst: Vater, Mutter, der älteste Bruder, der ältere Bruder, die Schwester, der jüngere Bruder. No bewegt sich, wie alle Kinder, als Fremdling in einer Welt, die er erst entdecken wird. No ist ein Nobody, ein Kind ohne Eigenschaften, noch jenseits von Gut und Böse. „No war eine Schachfigur, ein Springer nämlich. Er hatte ein Pferdegesicht und ein aus Holz geschnitztes Maul.“ Der hakenschlagende Springer allerdings ist die unberechenbarste aller Schachfiguren: eins grad, eins schräg. „No war ein falscher Hund, ein falscher Fuffziger: mal so und mal so. Er konnte jederzeit das Gegenteil von dem sagen, was er gerade gesagt hatte.“
Nos Vater ist ein professioneller Erzieher: Als Lehrer hat er Psychologie studiert („Das war eine Wissenschaft, mit der man lernte, wie es in Kindern innen aussah.“) und lehrt seine Kinder mit kalter Konsequenz das Prinzip Unterwerfung. Wutausbrüche oder Jähzorn gibt es bei ihm nicht: Im Gegensatz zur ständig heulenden Mutter ist ihm der Ärger nie anzumerken. Seine Erziehungsmethoden – zutiefst protestantisch deutsch – folgen kühler Berechnung. Wie das Schachspiel, das er der ganzen Familie beigebracht hat.
„Wenn No etwas kannte, dann den Stock. (…) Mit diesem Stock bekamen No und Nos Brüder öfter mal eine Tracht Prügel, wenn es nötig war, wie Nos Vater sagte. Es war oft nötig, eine Zeitlang sehr oft, eine andere Zeitlang weniger oft, aber immer noch oft genug.“ Nötig ist es dann, wenn das Kind „Fehler“ macht. In der pädagogischen Dialektik von richtig und falsch geht alles auf, ohne Rest, folgerichtig behält Nos Vater immer recht. Einzig Nos Brüder machen ihm Vorwürfe, als sie das Haus verlassen – der unsichtbare Erzähler dagegen hält sich raus. Ja es scheint gar, als stünde er auf der Seite des Vaters, zum Beispiel an jenem Neujahrsmorgen, als No seinen Eltern ein frohes neues Jahr wünschen will, nachdem er mit Knallerbsen den Teppich ruiniert hat. „Sein Vater holte aus, schlug zu, das saß. No flog mit dem Kopf gegen die Wand, neben den Kleiderständer. Benommen blieb er liegen. Das hatte er nun davon, daß er nicht achtgegeben hatte.“ Der letzte Satz klingt nach – so leise kann man rohe Gewalt erzählen. Der Schreck darüber hinterläßt im Text keine Spuren – er entsteht, mit Zeitverzögerung und um so wirksamer, im Kopf der Leser. Mit sanftem, kühlem Sog fließt diese Prosa von Szene zu Szene, sorgfältig komponiert, ohne Lücken für das Mitgefühl.
Sprechen ist eine Gratwanderung. Das erfährt No nicht nur in den spitzfindigen Dialogen mit dem Vater, sondern auch in der ewiggleichen Antwort der Mutter auf seine Kinderfragen.
Was fragst du?
Also ob er nicht fragen durfte.
Ich frage nur so.
Nur so fragt man nicht. Irgendwas willst du doch.
Ich will nichts.
Dann frage nicht.
Mit minimalen Mitteln zeichnet Christoph D. Brumme totalitäre Strukturen nach – so spiegelt der Vater-Sohn-Konflikt, im Kleinformat, ein intimes Portrait der DDR. Obwohl er ihn haßt, ist für No kein anderer Vater, keine andere Welt denkbar (außer in den Büchern, in die er sich hineinliest). Die Wörter „dürfen“ und „müssen“ haben einen geradezu magischen Klang, in dem die totale Autorität des Vaters nachhallt. Es gibt keine Utopie – weder für No noch für Nos Vater, der zwar „einen Rochus“ auf die Kommunisten hat, als Staatsbürger die Spielregeln der DDR jedoch niemals hinterfragt, im Gegenteil: Seit Jahrzehnten sammelt er Zeitungsartikel, um die Falschspieler der Regierung zu überführen: „Was die alles versprochen hatten und natürlich nicht einhielten!“, ärgert er sich und rechnet anhand des Erdbeer-Himbeer-Sirups pedantisch die Preiserhöhung nach, von der offiziell nicht die Rede sein darf.
Brumme ist in seinem Erstling das Schwierigste gelungen: eine reine Prosa, die einfach erzählt. Alles geschieht zur rechten Zeit, wie in einem Dokumentarfilm, souverän in Kameraführung und Schnitt. Unmöglich zu sagen, wie die Ironie in den Text gelangt. Sie ist so raffiniert hineingewoben, daß sie die düstere Erzählung nicht bricht, sondern in ein heiteres Drama verwandelt: eine Kunstwelt, die nur dem Eigensinn der Ästhetik gehorcht. Moralische Fragen (etwa nach der Schuld des Vaters) oder psychologische Mutmaßungen (etwa über die emotionalen Schädigungen der Kinderseele) stehen außerhalb des Romans. Der Vater kann als Erzieher genausowenig schuldig werden, wie er es als Schachspieler könnte. No bleibt ein Niemand, mit dem man nicht mehr Sympathie empfindet als mit einem Versuchstier: Er bleibt einsam, ohne zu wissen, was Einsamkeit ist – ein literarischer Einzelgänger ohne Vorbild.
No hat seinem Vater eines voraus: eine eigene Zukunft. „No wurde älter. Das ließ sich nicht vermeiden, weil er nicht tat, was er seinen Eltern angedroht hatte: daß er in die Bode springen würde.“ Das letzte Kapitel ist ein Scherzo, in dem sich No aus der Welt der Autoritäten davonmacht. Nichts leichter als das. Damit hat Brumme auch die letzte Klippe überwunden, an welcher dieser lichte Roman ins Larmoyante hätte abstürzen können.
Der Erzähler, der seinen Standort nicht preisgibt, offenbart seine Haltung im Stil: in der Behaglichkeit, mit der er die böse Mär aus dem Elender Grenzland erzählt, als müßte all das so und nicht anders sein. Ein literarisches Debüt von diesem Format ist – gerade angesichts de allseits ausdauernd beklagten Flaute in der deutschen Gegenwartsliteratur – ein Ereignis. Genau dies könnte dem Buch im gehetzten Literaturbetrieb allerdings zum Verhängnis werden: Es wäre nicht das erste Mal in der Literaturgeschichte dieses Jahrhunderts, daß ein Autor, der das Mittelmaß hinter sich läßt, dem Horizont der Literaturkritik entschwindet.“

Bruno Preisendörfer, „Wo jedes Gespräch mit dem Vater zum Verhör wird“, „Tagesspiegel“, 11.09.94,
„Elend oder Eine Kindheit im Harz – auf der Seite des Zauns, wo die Schüsse gefallen sind“:
„Lesenlernen in Elend? Elend liegt im Harz, im „Zonenrandgebiet“. Aber auf der Seite des Zauns, auf der geschossen wird. Die Mutter: “Seine Mutter hielt seinen Zeigefinger. Sie führte seinen Zeigefinger unter den Buchstaben entlang. Lies! sagte sie. No las nicht. Du sollst lesen. No beugte sich etwas vor, als würde er jetzt die Buchstaben sehen. Seine Mutter wartete. Sie preßte seine Finger mit ihren Fingernägeln. Sie hatte scharfe Fingernägel. Lies! No las nicht.“
Elend kommt aber nicht von Elend. Elend kommt von ellende, was Fremde bedeutet. Die elende Fremde der Kindheit? Der Vater: „Nos Vater pfiff. Das hieß: Herkommen! No stürzte zu seinem Vater hin. Das tat er, so schnell es ihm möglich war. Das war aber nicht schnell genug. Herkommen hieß: sofort herkommen, nicht gleich. Gleich war nicht schnell genug. Ja? sagte No, als er vor seinem Vater in der Küche stand. Was ist? fragte Nos Vater. Ich soll kommen, sagte No. Du sollst kommen. Ja. Und wie schnell sollst du kommen? No sagte nichts.“
Nos Vater ist Lehrer. Ein verbitterter, kaltgestellter Pädagoge, der das SED-Regime haßt und sich für dumm verkauft fühlt, permanent von Staats wegen übertölpelt. Und bevormundet wie ein Kind. Aber er macht sich dem gleich, was er verachtet. Er spielt in der Familie, gegen die Frau und gegen die Söhne, eben die Rituale der Macht als Sieger nach, durch die er außerhalb seiner vier Wände gedemütigt wird. Seine Rebellionen gegen den sozialistischen Vormundschaftsstaat, der sein Sorgerecht über die Untertanen auch mit Waffengewalt geltend macht, sind kleingeistig, pedantisch und verbohrt ins Ressentiment. Wie sein rechthaberischer und minutiös kalkulierter Strafvollzug an den Söhnen.
Vor einem solchen Vater gibt es in einem solchen Staat kein Entkommen. Nur ein Überlaufen. Nos „zweitältester Bruder“ flieht vor den Schlägen des Vaters aus dem Dorf. Er wird später Offizier, ein bewaffneter Arm des Staates, in dem der gestrafte Lehrer und abstrafende Vater gefangen ist.
Christoph D. Brumme, einer der Stillen vom Prenzlauer Berg, einer, der sich mit seiner Person hinter die Texte zurückzieht, erzählt Kindheit in einer Sprache, die dem sich noch formenden kindlichen Weltverständnis angeschmiegt ist. Einfach, klein und protokollarisch genau. Er bildet die mitunter ins Zeremonielle verstiegenen Sprechgewohnheiten der Erwachsenen ab und zeigt, wie sie für Kinder ihren Sinn verlieren – oder manchmal erst gefährlich deutlich zum Ausdruck bringen, wenn die Drohungen in den kindlichen Ohren die Floskeln übertönen, in denen sie versteckt sind. In vielen Dialogen zwischen No und seinem Vater – diese Dialoge sind in Wahrheit fast immer Verhöre – wird die allmähliche Überwältigung der Kindersprache und der Kinderlogik durch den gewalttätigen sprachlichen und gedanklichen Ordnungssinn des Vater demonstriert. No zieht sich auf die hinterste Linie einzelner Worte zurück, schweigt und wiederholt gezwungen die als Formulierungsvorschläge verschleierten Befehle des Vater. In anderen Passagen läßt Brumme Kindersätze auftreten. Auch so sieht die Welt aus, auch so kann man von ihr sprechen.
Artistisch nachgeahmter Kindermund läuft Gefahr, ins Infantile zu kippen, das Kindliche kindisch zu machen. Brumme geht ihr aus dem Weg, meistens jedenfalls, indem er ausreichend Abstand hält, sich weder psychologisierend hineinheimelt noch mit Autorität hineinhockt in die Seele seines No. Der Autor macht sich nicht breit in seiner Figur, aber er läßt sich von ihr auch nicht überwältigen. Er macht einfach schöne Worte über eine unschöne Wirklichkeit.
Brummes Kindheitserzählung ist exemplarisch. Es ist nicht nur die von No, dem eigentlich namenlosen Helden, von no-body, niemand und der eine, der für die vielen steht, die wie er beengt und bedrängt und bedrückt aufgewachsen sind. Nicht nur im Grenzgebiet auf der einen Seite. Und auch nicht nur im Grenzgebiet auf beiden Seiten. Deshalb ist die von Brumme aufgeschriebene Geschichte von einem in der Kindheit Gesperrten keine zu spät gekommene DDR-, sondern gültige deutsche Literatur. Dieser Text hat nichts Nachgereichtes. Er zeigt einer ganzen Generation von auf dem Land aufgewachsenen 30- bis 40jährigen, wie sie geworden sind. Manchmal faßt man es nicht: so schlimm war das? Ja, so schlimm.“

Holger Jens Karlson „Heimische Machtspiele“, Wochenpost, 03.11.94,
„Junge Ost-Autoren: private und ganz private Eindrücke“:
„Brummes Psychogramm einer Gesellschaft, die am Rande der ostdeutschen Welt existiert, nämlich an der innerdeutschen Grenze, ist erstaunlich. Durch die akribische Beschreibung vieler Details – vom Fußballspiel über den Schulalltag bis zur väterlichen Zeitungslektüre – formt er das Bild einer DDR-Gemeinschaft, ohne sie gänzlich enträtseln oder gar denunzieren zu wollen. Der Vater, ein vom Gärtner zum Oberschullehrer aufgestiegener Kleinbürger, wird nicht nur als Haustyrann mit ausgeklügeltem Disziplinarsystem geschildert, er ist auch – zumindest im privaten Raum – wortstarker Regimekritiker, der die „deutsche Ehre“ der Stalingradopfer verteidigt, und die „Lügen der Kommunisten“ entlarvt. Den Dialog zwischen DDR-Staat und Bürger konnte man so authentisch noch nirgendwo nachlesen: Machtspiele mit beiderseits begrenztem Risiko.
Brummes Text erlaubt einen Blick in das Innerste einer (teilweise noch immer) ge- und verschlossenen Gesellschaft, deren Widerspruch er nicht erklärt, sondern darstellt: Im privaten Raum wird politisiert, werden äußere Herrschaftsstrukturen reproduziert. Wer wie der Protagonist des Romans, ein Junge mit dem sprechenden Namen No, am Unterricht nicht teilnimmt, dem wird „passiver Widerstand“ unterstellt. Umrisse eines selbstinszenierten Feindbildes werden sichtbar. Brumme ist die Diagnose einer Gesellschaft gelungen, deren Machtapparat in der Tatenlosigkeit der Bürger keine Angriffsfläche findet.“

Roman „Tausend Tage“, 2007:

Bruno Hirsch: „Klüger wird man immer ein bißchen zu spät“, Berliner Morgenpost, 24.08.97
„Selbstironisch: Christoph D. Brummes literarische Bewältigung seiner NVA-Vergangenheit“:
Mögen sich die Gelehrten streiten, ob es eine DDR-Literatur gegeben hat; eine DDR-Bewältigungsliteratur gibt es gewiß, und sie ist erst jetzt so langsam im Kommen.
Der kleine Roman des 1962 in Wernigerode geborenen Christoph D. Brumme demonstriert aufs anmutigste, daß es einiges zu bewältigen gibt, und daß man vor allem eines dazu braucht: Abstand. In den frühen Neunzigern brachten die ehemaligen DDR-Autoren, von wenigen Ausnahmen abgesehen, Gestammel hervor, wenn sie es nicht vorzogen, zu schweigen.
Dann meldete sich eine junge Generation mit DDR-Biographien zu Wort, die es scheinbar leichter hatte, den Ballast einer verfehlten Ideologie abzuwerfen und eine eigene Sprache zu finden. Immerhin: Nicht das Ausstellen der Wunden, das Beklagen der Opfer und der Verluste erweist sich als Erfolgsrezept, sondern das befreiende Lachen. Die Erziehungsdiktatur DDR, die Menschen deformiert und auch zerstört hat, war heute besehen zu kleinkariert, zu einfältig, um diabolisches Format zu erlangen. Vielmehr sorgt der lächerliche Kontrast zwischen „welthistorischer Mission“ und stümperhaft-kläglicher Machtrealität für den Stoff, aus dem die Bücher sind. „Tausend Tage“, so der Titel des Romans, sind eben nicht tausend Jahre, aber auch sie können Schicksale besiegeln, wenn es sich wie hier um den dreijährigen „Ehrendienst“ bei der Nationalen Volksarmee handelt, zu dem sich der autobiographische Held freiwillig gemeldet hat.
Brumme ist wohl einer der ganz wenigen, denen es gelungen ist, das DDR-Jugend-Trauma NVA literarisch zu bewältigen. Viele der halbfertigen Erwachsenen, die da hineingerieten, konnten das nur durchstehen, indem sie ihren kritischen Verstand und ihren Stolz verleugneten. Wie soll man aber beschreiben, was man als nicht ganzer Mensch erlebt hat?
Der Autor nimmt Anlauf auf dieses schwierige Unterfangen, indem er eine Kunstfigur aufbaut. Kian, so nennt er sein Alter ego, wächst in einer Kleinstadt auf, naiv und ein wenig verträumt. Sein eingeengter Kinderhorizont soll zu einer Erzählinstanz werden, die Erinnerung in Sprache umsetzt, ohne daß sich ständig die Selbstzensur und der Drang zur Rechtfertigung dazwischen schiebt. Diese Naivität wirkt denn auch sehr gekünstelt – bis zu dem Punkt, wo sie plötzlich als präzises Instrument des Erinnerns erkennbar wird.
Kian ist ein lebensfroher Mitmacher, er leidet nicht unter politischer Unterdrückung, wohl aber unter dem permanenten Ehekrach seiner Eltern. In der Enge der Kleinstadt mit den fünf Kirchtürmen erscheint ihm die Unteroffizierslaufbahn wie ein Sprungbrett in die große Welt. Das war dumm, damals schon, und das Schöne ist, daß Brumme/Kian sich zu seiner jugendlichen Dummheit bekennt. So war er eben, so war die DDR, klug wurde man, wie auch anderswo, erst durch Erfahrung, also immer ein bißchen zu spät.
Beinahe hätte er sich in seinem Drang, eine wichtige Rolle zu spielen, sogar als Spitzel anwerben lassen, aber da war unmerklich schon etwas in ihm in Gang gekommen: Die Armee, anfangs nur als harter Drill empfunden, kam ihm immer widersinniger vor. Sein Versuch, mit Vernunft und Anstand durchzukommen, endet konsequent in einem halb gespielten, halb echten Anfall von Wahnsinn und dieser, ebenso folgerichtig, in der erfolgreichen Bewerbung an der Schauspielschule.
Ein Entwicklungsroman also, der aber leichtfüßig daherkommt, scheinbar ohne literarischen Anspruch; erst im weiteren Ablauf gewinnt der Text seine Gestalt und seine Abgründigkeit, dann allerdings auch rückwirkend auf Passagen, die anfangs noch überflüssig wirkten.
Daß man beim Lesen über das Prinzip DDR lachen kann, liegt an Brummes Fähigkeit zur Selbstironie. Jene, die heute in Ostalgie schwelgen und gleichzeitig auf ihre Opfer-Akte pochen, mögen anhand solcher Lektüre lernen, ganz unverklemmt mit sich und ihren Identitätsproblemen umzugehen.“

Jens Sparschuh, „tip“, 22/97:
„Eine Zeitlang interessierte sich Kian für Tischplatten.“ Wenn ein Buch schon so anfängt, sollte man sich auf einiges gefaßt machen, zumal bei einem Autor wie Brumme! Kian, von dem wir seit dem ersten Satz wissen, daß er öfter den Kopf merkwürdig gesenkt hält, wirkt wie ein herausgewachsener Wiedergänger des Helden No aus Brummes erstem Buch, das übrigens den für ein Debüt so verblüffend einleuchtenden Titel „Nichts als das“ trug.
Inzwischen ist der jugendliche DDR-Held also erwachsen und strebt nach Höherem. „Er wollte verblüffen, aber er wußte noch nicht, womit.“ Bald weiß er es… Sein Weg führt folgerichtig zu den ruhmreichen Truppen der Nationalen Volksarmee. Unteroffizier will er werden!
Daß es im folgenden die Innenansichten eines veritablen Irrenhauses sind – es geht um Leben und Überleben in der geschlossenen Anstalt „NVA-Kaserne“ -, sollte den Blick jedoch nicht verstellen. Zwar rückt Brumme hier das geheimnisvollste Wesen aller deutschen Armeen ins Visier: den Unteroffizier (sprich: “Uffz.“), doch ist der bei Brumme kein banaler Leuteschinder, sondern eher ein tragikkomischer Diener zweier Herren, der ebenso unter seinen Vorgesetzten wie unter seinen Untergebenen leidet. Opfer und Täter können auf diese Weise nicht vorzeitig in ihre jeweiligen Ecken retirieren. Es sind Konflikte zwischen Menschen, nicht zwischen Dienstgraden. Brummes Sprache ist von staunenswertem Lakonismus, halbgefrorene Partikel der Umgangssprache ragen bizarr hervor – ein auf unheimliche Art witziges Buch, das m.E. vorrangig zwei Lesegruppen zu empfehlen ist: 1. all denen, die bei der Armee waren – und 2. natürlich und in erster Linie all denen, die nicht bei der Armee waren.“

Renatus Deckert, Die innerste Zelle, „MERKUR“ 12/2004:
“Das Trauma sitzt tief. Wie anders lässt es sich erklären, dass die Flut bunter Bilder aus der DDR die Armee ausspart? Warum nimmt sich kein Erzähler dieses Stoffes an? Den einzig nennenswerten Roman über die NVA, der seit der Wende erschienen ist, hat Christoph D. Brumme mit  Tausend Tage geschrieben. Er erschien 1997, ohne auf große Resonanz zu stoßen. Erzählt wird von dem achtzehnjährigen Kian, der sich für drei Jahre verpflichtet und daran fast zerbricht. Bedenkt man, dass eit Einführung der Wehrpflicht fast dreißig Jahrgänge ostdeutscher Männer nahezu komplett zur Armee eingezogen wurden, ist das erstaunlich wenig. Es kann nur eine Frage der Zeit sein, bis dieses Thema von der Literatur wiederentdeckt wird.“

Constance Schirra, „Wenn Männerhorden auf Befehl das Klo scheuern“, „Badisches Tagesblatt“, 01.09.97:
Christoph D. Brummes „Tausend Tage“: Bericht über ganz normale Armee
„Der Held trägt den seltenen Namen Kian, ist 18 und entsprechend naseweiß. Er lebt in kleinen Verhältnissen, mit einem tyrannischen Vater, einer meckernden Mutter und einem Onkel im Rücken, der so „plem plem“ ist, daß er schon einmal einen Kirchturm vergolden wollte. Dazu kommt Kians biedere Freundin Kathrin, eine Miederwaren-Verkäuferin, die ihm zwar Pantoffeln schenkt, ihn aber nicht ranläßt.
Kian will ganz anders leben als die anderen. Maschinenschlosser langt ihm nicht, Bürgermeister wäre besser, oder: Warum nicht gleich Staatsmann? Weil das nur Träume sind, verpflichtet sich Kian für drei Jahre zur Armee. Dort, glaubt er, braucht man ihn, dort kann er seine Umwelt verblüffen. Und „wenn es allzu furchtbar werden würde, könnte er sich in die See stürzen und eben ertrinken“, denn Kian ist auf einer Insel stationiert. Er ertrinkt nicht. Er hält durch. Kian überlebt Schikanen, Willkür, und Brutalität in der Armee. Erst als seine zweite Freundin – Kathrin ist längst mit einem anderen Pantoffelhelden verheiratet – ihn verläßt, vergißt Kian jede Disziplin und ahmt den verrückten Onkel nach. Er dichtet der Freundin für seine „Stubengenossen“ Krebs an und läßt sie elendiglich daran sterben. Das schmerzt den Lügner und Selbstbetrüger nicht so sehr wie das Eingeständnis, verlassen worden zu sein und bringt ihm zusätzlich das Mitleid der Kameraden. Geläutert entschließt Kian sich, Schauspieler zu werden, und, schon immer vom Bösen fasziniert, besteht er die Aufnahmeprüfung als Mephisto.
Dem Berliner Schriftsteller Christoph D. Brumme ist mit „Tausend Tage“ ein beißend sarkastischer Roman geglückt. Präzise beschreibt er den militärischen Drill in der Truppe, lächerliche Befehle und verbohrte Ideologien. Es bleibt ungenannt, welcher Armee Kian dient und wo sein Stützpunkt ist – daß es sich um die Nationale Volksarmee und die Insel Rügen handelt, kann sich der Leser selbst zusammenreimen. Diese Anonymisierung ermöglicht es, Brummes scharfsinnige Beobachtungen auf jede Truppe der Welt zu übertragen. Respektlos macht sich der Autor über das „militärische Gefaxe“ lustig, ohne gleichzeitig den einzelnen Soldaten zu verachten. Im Gegenteil: Kians Entscheidung, zur Volksarmee zu gehen, wird nachvollziehbar vorgeführt – der Rekrut, ein nachdenklicher, sensibler, nur eben unreifer, unsicherer Jugendlicher, wird Opfer einer falschen Vorstellung. Brumme entlarvt die ehrenwerte Truppe. Der Autor begegnet Auftrag und Arbeit der Armee mit völligem Unverständnis. Er übernimmt Sprachduktus und Habitus der Soldaten und kann es sich so erlauben, nur sparsam lenkend einzugreifen – die militärische Männergesellschaft führt sich selbst ad absurdum. „Wahnsinn und Methode“, Komik und Gefahr liegen eng beieinander, wenn Horden erwachsener Männer das „Klo scheuern, weil ein anderer das sagte“, „ihre Unterwäsche wie Weihnachtspäckchen behandelten“ und „auf Pfiff im Dauerlauf in eine Turnhalle rennen“. Letztlich begreift sogar Kian: So „plem-plem“ kann allein kein Onkel sein. Für den allerdings haben sich alle geschämt.“

Burkhard Spinnen, „Vor den Wenden“ – Christoph Brummes Roman „Tausend Tage“, Basler Zeitung, 26.09.97:
„Tausend Tage“ ist Christoph Brummes zweites Buch. Sein erstes, „Nichts als das“, erschien 1994. (…) Die „Tausend Tage“ finden sich in „Nichts als das“ bereits angekündigt; dort flieht ein älterer Bruder des Helden vor dem Familienterror zur Nationalen Volksarmee. In Brummes zweitem Roman zieht der 18jährige Kian in die Tausend Tage, sprich die drei Jahre der Dienstverpflichtung; und auch er tut es in der Hauptsache, um seinen zerstrittenen Eltern und seinem verrückten Onkel zu entgehen. (…) Doch „Tausend Tage“ liefert weniger eine Innenansicht der NVA, der Roman ist vielmehr ein (weiterer) Versuch dieses Autors über das Individuum in nachideologischen Zeiten.
…die DDR (…) zerrt noch von der Eindeutigkeit des Feindbildes, und sie hält zumindest an der Oberfläche noch das Ideal des Kollektives gegen die hierarchischen Strukturen des Militärs hoch; man sagt: „Genosse Hauptmann“. Doch es fehlt der Armee, was vielleicht einmal „der revolutionäre Geist“ hiess. Wie in dem Staat um die Kaserne herum ist auch das Leben darin in die Unspezifik und Unkenntlichkeit des Alltags übergegangen, es herrscht das (in Armeen gängige) Gemisch aus Pflichterfüllung, Drückebergerei, Schikane, Widerstand und Indolenz. An sich also, so könnte man sagen, kein grosses Thema. Doch die Art, wie Brumme diesen Zustand im Spiegel seiner Hauptfigur zum Erscheinen bringt, verdient alles Interesse. Kian nämlich ist noch mit 18 ein fast unbeschriebenes Blatt, ein Spätentwickler, dabei eine Art Simplizius, dessen Vorstellungen und Absichten seine Kenntnisse und Fähigkeiten durchweg überschreiten. Ansätze zu philosophischen Überlegungen bezieht er aus Kriminalromanen; gewissermassen unberührt im mehrfachen Sinne tritt er seinen Dienst an, bereit und willens, die NVA zum Medium seiner eigentlichen Erziehung zu machen. Im Grunde ist er drauf und dran, die unter lauter Familienquerelen versäumte Genese zum Individuum inmitten des Kollektivs nachzuholen.
Doch das scheitert. Die Armee funktioniert zwar, so leidlich wie alles Beschäftigungslose, das auf einen Einsatz wartet, den jeder verhindern will. Doch als soziales Gefüge wirft sie nicht genug an Bedeutung ab, um Kian Halt zu geben. Zuerst wird er ein „guter“ Unteroffizier, doch inmitten des Ziellosen und Absichtslosen ist auch das nur ein weiteres Attribut seines Aussenseitertums. Und als in die bedeutungslos ineinandergefügten Segmente des Dienstes und der Routine ein wirkliches Ereignis gelangt, bricht er zusammen.
Kian hat nämlich eine Freundin gefunden, seine erste. Eine Zeitlang schreiben sie einander durchnumerierte Briefe und praktizieren an seinen Urlaubswochenenden eine merkwürdig sterile, dabei altklug-kleinbürgerliche Idylle mit Kaffee und Kuchen. Dann bricht die Freundin aus undurchschaubaren Gründen mit ihm, und dieses erste Ereignis muss Kian sofort zu einer Tragödie hochstilisieren, um es ertragen zu können. Er erzählt in der Kaserne, seine Freundin sei an Krebs erkrankt, schafft so eine Legende für seine nachlassenden Dienstleistungen, ja: Aus der fiktiven Katastrophe gewinnt er erstmals ein erkennbares, wenn auch zunehmend negatives Image. Fast könnte man sagen: Über die Inszenierung einer Lebenslüge kommt Kian zu sich, wird er so widerspenstig und spröde, wie er wirklich ist. – Brumme lässt den Roman auf eine Weise ausklingen, die den allegorischen Anspruch des Erzählten stark betont. Kian, der wegen seiner Disziplinlosigkeiten kurz vor einer unehrenhaften Entlassung steht, bewirbt sich, auf Anhieb erfolgreich, um die Aufnahme an einer Schauspielschule. Er macht die Verstellung zu seinem Métier. Was auch heissen könnte: Wo Wahrhaftigkeit nicht zu leben ist, da erscheint das Eigentliche in der Künstlichkeit, in der Verkleidung. Ich wünsche diesem Buch, einem deutschen Roman aus der Perspektive der letzten Generation vor den Wenden, aufmerksame Leser.“

Jörg Judersleben, „Die Welt“, 25.10.97:
„… Aber was ist Kian überhaupt? Ein Opportunist, ein Lügner, ein Schelm? Eingesperrt zwischen Büchertapeten, keifen sich seine Eltern an. Sein Onkel, ein skurriler Weltverbesserer, sitzt im Irrenhaus. Seine Freundin, eine Miederwaren-Verkäuferin, küßt ihn hin und wieder auf die Wange. Sein Lehrmeister meint, er werde es weit bringen, weil er so flüssig redet. Kian ist ein Kind des Sozialismus. Und unwillkürlich ist er Realist: Er flieht – geradeaus in die Kaserne.
Realist ist sein Erfinder auch. Der Lebensfeindliche Lebensraum, in dem Kian sich fortan behaupten muß, der Soldatenalltag in der Nationalen Volksarmee, schrumpft unter Brummes Händen nicht zum Projektionsfeld grobgestrickter politischer Leitbilder. Wenn diesen Alltag einst Walter Flegel und Jürgen Fuchs zum Anlaß nahmen, dem Sozialismus ihre Liebe oder ihren Haß zu erklären, so ist er für Brumme zunächst als konkreter sozialer Mikrokosmos von Interesse, als abgeriegelte Provinz in einer abgeriegelten Provinz. Wir erfahren von den sadistischen Initiationsritualen der Altgedienten, von Exzessen der Disziplin und des Aufbegehrens, von grotesken Wünschen und wunderlichen Obsessionen. Wir erleben den Todesreigen einer Welt, die sich nach außen mit Mauern panzert, weil sie im innern längst aus dem Leim gegangen ist. Und die sich doch weiterdreht.
Kian stammt, wie der Autor aus Sachsen-Anhalt. Er ist protestantisch geprägt. Weisungen befolgt und erteilt er zunächst mit einer gewissen Wollust. Warum auch nicht, wenn die Gedanken doch frei sind und der stupide Dienst genügend Zeit für Tagträume läßt? Was aber, wenn aus Tagträumen Alpträume werden? Wenn die Gedanken schließlich nur noch um die „Freiheit“ kreisen, um eine Freiheit zumal, die es auch zu Hause nicht gibt, weil es da, wie im „Objekt“, nach Dienstschweiß, Schnaps und Stiefelwichse riecht?
Kian fängt an, verschiedene Masken auszuprobieren. Er läßt sich gehen, simuliert den Irren. Und entschließt sich endlich zu einer Lüge, die ihn Kopf und Kragen kosten kann. Als er Schauspieler werden will, ist er schon lange einer. Ein Schauspieler aus Seelennot, weil all der Absurdität ringsum anders nicht beizukommen ist. Ein Schauspieler aus Überzeugung, weil es anders nicht erlaubt ist, auch einmal böse zu sein.
Womöglich ist er daran das Alter ego des Verfassers. Kian steht Brumme jedenfalls ebenfalls so nah wie No, der Held seines Debütromans „Nichts als das“. Fast könnte man „Tausend Tage“ als dessen Fortsetzung lesen. Aus dem kleinen Jungen, der vor der harten Hand des pedantischen Vaters in innere Wunschwelten flüchtet, ist ein junger Mann geworden, der auf ähnlich unehrliche Weise gegen die Armseligkeit der Verhältnisse opponiert. Beide Bücher sind einprägsame Zeugnisse einer inneren Emigration.
Brummes Stil ist lakonisch und unsentimental, oft nahezu dokumentarisch. Dem militärischen Dienst- und Freizeitjargon, den er einbezieht, ist Authentizität zu bescheinigen. Die lapidare Komik des Romans erwächst aus der präzisen Schilderung von Umständen und Konflikten, die zu schäbig sind um wirklich tragisch zu sein. Brumme hat es nicht nötig, traurige Witze über diese Dinge zu reißen, sind sie doch selbst schon ein trauriger Witz. Oder wie soll man es sonst nennen, wenn die Maschinenschilder an Stromaggregaten heimlich ausgetauscht werden, damit niemand merkt, daß sie schon im zweiten Weltkrieg gedient haben? Wenn ein überdrehter Unteroffizier nachts lautstark Raumschiff spielt? Wenn Kian, um seine Apathie zu entschuldigen, den Krebstod der Freundin erfindet und von seinem Major die Beileidsbekundung kassiert: „Widmen Sie sich mit vollen Kräften Ihrem Dienst, so vergessen Sie am besten ihre Erlebnisse.“? Wer je für die DDR auf Friedenswacht stand, weiß daß es so etwas gegeben hat.
Doch die Enge des Rahmens in diesem Roman ist nur vorgetäuscht. Insofern sein Held nicht unmoralisch, sondern amoralisch handelt, weil er Moral nur in altbackener oder verlogener Form erlebt, weist er über die Kasernenmauern hinaus. Es ist vielleicht das erste Mal, daß die DDR in einem nicht experimentellen Text aus einem derart existentialistischen Blickwinkel betrachtet wird.
Gleichwohl korrespondiert sein Gegenstand mit populären Vorläufern. Bekanntlich zerfielen die Freunde der sogenannten Wendeliteratur vor zwei Jahren in eine Thomas-Brussig- und eine Jens-Sparschuh-Fraktion. Man las Brussigs „Helden wie wir“ oder Sparschuhs „Zimmerspringbrunnen“, schoß damit beide Bücher in die Hitlisten und sprach einander gegenseitig Humor und Urteilsvermögen ab. Als Argument war häufig zu hören, man erfahre von der inneren Entwicklung eines Klaus Uhltzscht oder aber eines Hinrich Lobek einfach zu wenig.
An Christoph D. Brumme läßt sich dieser Vorwurf nicht richten. Sein Kian entwickelt sich aus der ständigen Konfrontation von Außen- und Innenwelt, wobei die Innenwelt von der Außenwelt auf Dauer beschädigt wird. Darin ähnelt er Uhltzscht, Lobek und uns Lesern vermutlich auch.“

Oliver Pfohlmann: „Wessis, Ossis und allerlei Ironie“ (Fränkischer Tag, 18. 12. 98)
„Künstlerhaus-Stipendiat Christoph D. Brumme las in der Bamberger Universität“:
„Was haben guter Wein und gute Dichter gemeinsam? Sie werden besser mit der Zeit. So auch Christoph D. Brumme, der (…) zwei Kapitel aus seinem gegenwärtig in Bamberg entstehenden dritten Roman mit dem Arbeitstitel „Dalmatinische Austern“ (las).
Keine ganz leichte Kost. Denn was so schmackhaft klingt, steht, wie Brumme verriet, bildhaft für menschliche Augäpfel. Und überhaupt sei der neue Roman „ganz anders“ als der erste. Was sich den Zuhörern vor allem am Erzählstiel zeigte. Anspruchsvoller, komplexer, reflektierter ist Brummes Prosa geworden; ein Unterschied, der jedoch durch die getragen-sonor-monotone Vortragsweise des Autors, die die Zuhörer merklich in ihren Bann schlug, etwas nivelliert wurde. Brummes Interesse für die jüngste deutsch-deutsche Vergangenheit ist freilich geblieben. Und seine Vorliebe für lakonischen Humor, Ironie und Witz. Die ihm mit Jens Sparschuh und Thomas Brussig verbindet, deren Erfolg bei Publikum und Kritik Brumme zu wünschen ist.
Hauptfigur von Brummes work in progress ist Danien, ein Student der Ethnologie, der mit seinem für fremde Völker geschulten Blick seine Landsleute und die Fremdlinge aus dem Westen studiert. Das Verhalten der Ostdeutschen beim Fall der Mauer erinnert ihn an den Goldrausch in Alaska. Heimlich nähern sich die Ossis der Grenze, mit angestrengt gleichgültigem Blick. Niemand will Aufmerksamkeit erregen, ein jeder macht nur einen ganz alltäglichen Feierabendspaziergang – auch wenn manch einer nicht verbergen kann, unter dem Mantel noch den Schlafanzug zu tragen, so eilig war der Aufbruch. Und dann, an der Mauer, sorgt die Masse für Mut, packt alle der Rausch, will jeder als erster seinen „Claim“ abstecken, wird die Grenze einfach überrannt. Und der Ku’damm wird zum Yukon River.
Der Auszug aus dem zweiten Kapitel verriet, daß Brummes Buch auch vollgepackt ist mit witzigen Beobachtungen der Wessis. Warum riechen Westdeutsche anders aus dem Mund als Ostdeutsche? Warum gehen sie anders, verstecken nicht die Hände in den Taschen? Warum sind Menschen, die aus einer „Sparkasse“ (welch magischer Name!) kommen, nicht braun und glücklich, wie man es sich im Osten immer vorgestellt hatte? Manches freilich ist hüben nicht anders als drüben: Findet etwa eine Ehefrau in der DDR Spermaspuren in der Unterhose ihres von einer Reise zurückgekehrten Mannes, reicht auch sie folgerichtig die Scheidung ein…
Brummes Lesung war die erste, die aufgrund einer Kooperation zwischen dem Künstlerhaus Villa Concordia und der Universität Bamberg stattfand. Mögen weitere folgen.“

Katharina Döbler, Die Zeit, Christoph D. Brumme: Süchtig nach Lügen:
Es fängt so harmlos an. „Gestern rief Nadia an. Es war unser dritter Versuch uns zu verabreden.“ Aha, denkt man, boy meets girl, es wird wieder so eine von diesen Liebesgeschichten, die man in den letzten Jahren so häufig lesen konnt, mit hyperrealistischem Anti-Pathos und viel Sex. Möchte man eigentlich nicht lesen, die Medienwelt ist ohnehin voll davon.
Das geht so zwei, drei Seiten und man liest doch weiter, denn die Tonlage wird interessant, ähnlich der, die Christoph Brumme schon in seinem ersten Roman „Nichts als das“ anschlug: die Schärfe und extreme Deutlichkeit der Untertöne, das Fiese im Detail.
Ein nicht näher definierter Ich-Erzähler versucht sich mit Nadia zu verabreden, die sich ihm entzieht. Nach sechzehn Seiten nimmt das Buch eine scharfe Wendung und Hannah tritt auf, schrill, kühn und neurotisch. Noch ein kurzes Kapitel lang könnte man meinen, es wird doch noch eine Art Liebesgeschichte daraus; eine, von denen es in den Klappentexten zu heißen pflegt, es gehe um die Unfähigkeit zur Liebe und das Scheitern großer Gefühle. Solche Zeugnisse des postmodernen Romantizismus – zugleich lakonisch und wehmütig, ein bisschen zynisch und ein bisschen tragisch – stellen ja seit Kunderas Erfindung der unerträglichen Leichtigkeit des Seins die Schundheftchen der gehobenen Gegenwartsliteratur. Das Leiden an der Leichtigkeit ist der Schlüssel, mit dem zahllose jüngere und ältere Autoren am Schloss zu Blaubarts letzter Tür herumpolken, hinter der – das ist das Romantische daran – das Geheimnis der beschreiblichen Liebe vermutet wird. Aber lassen wir das.
Christoph Brumme hat etwas ganz anderes, eher offen als versteckt Misanthropisches im Sinn: Ab dem vierten Kapitel, nach noch nicht einmal dreißig Seiten, ist dieser Roman da angekommen, wo eine Liebesgeschichte irgendeiner Art bereits am Ende wäre, nämlich in einer Einzelzelle, in die ein Mann und ein Frau, auf der Flucht vor der puren Unerträglichkeit des Seins geraten sind. In diesem Moment merkt man, dass man es weniger mit einem epischen Werk als mit einem dramatischen zu tun hat und gerät in den Bann eines raschen Wechsels von Szenen, ein Feuerwerk von Gesten und Dialogen, funkelnd und von Anfang an überhitzt, böse, exzessiv.
Dies ist also keine Liebesgeschichte, weder postmodern noch sonstwie. Es ist die minutiöse und dramatische Schilderung einer gegenseitigen Tortur, die deshalb so erschreckend und überzeugend wirkt, weil in der ganzen Hysterie und Überspitztheit der Figuren, in der dumpfen und unterwürfigen Unerschütterlichkeit des Mannes und in der lauten Inanspruchnahme exzessiver Gefühle durch die Frau, Teil einer Gefühlsrealität aufgedeckt wird, die man – wenn nicht aus der eigenen Erfahrung, dann aus der Literatur – kennt. (Und die Literatur hat sie nicht aus sich selbst erfunden.)
Der brave, suchtpräventive Titel dieses Buches wird seinem explosiven Inhalt in keiner Weise gerecht, denn es ist tatsächlich bar aller Harmlosigkeit. Die einzige Gnade, die Brumme seinen Figuren und seinen Lesern gewährt, ist die der Lächerlichkeit, und das eher selten. Die rare Komik, die dieses einander in Erwartung und Enttäuschung, in Verachtung und Machtgelüsten verbundene Paar erzeugt, ist so ähnlich wie die der Irrenwitze, die wir uns als Schulkinder erzählt haben: die Irren haben Recht, aber nur der Erzähler und sein Publikum begreifen es.
Brummes Wahnsinnsdialoge, wenn sie im Diskant entfesselter Wut vorgetragen werden, besitzen gelegentlich Qualitäten wie gewisse Stellen in Edward Albees Beziehungsdramen-Klassiker „Wer hat Angst vor Virginia Woolf“.  Nach Höhepunkten luzider Tobsucht  folgen dann wieder Passagen von trügerischer Ruhe, Dialoge von banalster Alltäglichkeit,  vom Autor in einen poetischen und langsamen Rhythmus gefasst, der an das regelmäßige Klappern von Geschirr erinnert.  Doch immer sind die scharfen Untertöne da, dergestalt, dass man als Leser mit eingezogenem Kopf auf das Klirren und die Scherben wartet.
„Weshalb bestellst du immer Rotwein? fragte Hannah./
Weil mir Rotwein schmeckt, antwortete ich./ Aber dann muss ich auch Rotwein trinken! antwortete sie./ Weshalb musst du auch Rotwein trinken? fragte ich./ Damit wir etwas Gemeinsam haben, sagte sie.“
Der Dialog erstreckt sich insgesamt über zwei Seiten mit zunehmender Schärfe, schlägt Volten und nimmt überraschende Wendungen.  „Wenn du mich lieben würdest, könntest du jetzt keinen Rotwein trinken“.  Es ist wie beim Fechten – Ausfälle und Finten; gewinnen wird keiner, aber verletzen – mit geschliffenen Bemerkungen, die abwechselnd in die Herzgegend und unter die Gürtellinie zielen.
Der („Anti“-)Psychiater Ronald D. Laing hat in den siebziger Jahren in seinem Gedichtband „Liebst du mich?“etwas Ähnliches unternommen – allerdings eher in aufklärerischer Absicht und mit viel Empathie.
Brummes Innansichten einer Beziehung sind vergleichbar treffend, aber ganz und gar mitleidslos.
Die Außenansichten behandelt er eher flüchtig, fast wie Regieanweisungen: Sie ist, erfahren wir, sehr schön. Er ist rücksichtsvoll. Sie wollen heiraten. Sie fahren zusammen in Urlaub.
Es ist die perfekte kleine Hölle unter Palmen am Meer. Wenn sie nicht übereinander herfallen, reden sie aneinander vorbei.
In beider Vergangenheit  herrscht eine düstere DDR, wie ein vager Vorwurf an das Leben: beide wetteifern erzählend um den Anspruch auf die wahre Opferrolle, wenn auch unter verschiedenen Vorzeichen.  Sie taucht alles in rosiges Licht, mit einem Stich ins bedrohlich Neongrelle. Er bevorzugt als Grundfarbe ein solides Grau. Gefärbt scheint beides, schön oder schwarz.
Das ist eigentlich alles, was man Brummes Buch ankreiden könnte: dass die Verteilung der Farb- und Grundmuster recht lange sehr eindeutig scheint. Erst als das Gleichgewicht des Schreckens ins Wanken gerät, lösen sich die traditionellen Strukturen des Männlichen und des Weiblichen auf und die Kampfmethoden werden weniger konventionell.
„Ich sagte zu ihr: der Urlaub ist zu Ende. Ich reise ab. Ich trenne mich von dir. / Wir hatten noch keinen Analverkehr, sagte sie.“
Im letzten Drittel – man möchte fast sagen im dritten Akt –erreicht Christoph Brumme endgültig die Sphäre der gestalteten Neurose als hohe Kunst. Das Spiel der gegenseitigen Erniedrigung und Selbsterniedrigung setzt sich konsequent körperlich und konkret fort – und bekommt dabei etwas düster Lustvolles. Auch so kann man Lust und Liebe zusammenbringen. Der namenlose Ich-Erzähler, als Protokollant des Ganzen bisher im scheinbaren Besitz der Deutungshoheit, gibt seine einzig wirksame Distanzwaffe, die Vernunft, endgültig auf.
Aus der viktorianischen Literatur stammt die Figur der „verrückten Frau auf dem Dachboden“;  als Schlüsselgestalt unberechenbarer Weiblichkeit spielte sie lange eine wichtige Rolle im  gender – Diskurs.
In diesem Buch ist sie als Gegenspielerin des verzweifelt vernünftigen Narzissten, der von jeher die Belle Etage der Literatur bewohnt, vom Dachboden heruntergestiegen.
Und in der von Christoph Brumme mit äußerster Sorgfalt ausstaffierten Schreckenskammer duellieren sich die beiden 168 hochdramatische Seiten lang mit allen sprachlichen Mitteln einer kunstvoll zugespitzten Banalität  in Dialogen von leuchtender Schwärze.

© Matthias Penzel, „Mit einer Stimme wie aus einem anderen Jahrzehnt beschreibt Christoph D. Brumme die Unmöglichkeit des Liebesglücks“, Original erschien dieser Artikel in Rolling Stone 10/2002:
Jahre bevor er auf Farbdosen schoss, stellte William S. Burroughs fest, dass die Literatur der darstellenden Kunst um Jahrzehnte hinterherhinke. Denn die meisten Bücher lesen sich wie vor hundert Jahren, ganz unberührt davon, wie industrielle Perfektionierung und individuelle Entfremdung voranschreiten, wie sie die Welt und deren Darstellung verändern. Ein Trick, aktuell auszusehen, voll auf der Höhe der Zeit, sind Referenzen an den Zeitgeist, evtl. ein Stilknicks zu aktuellen Trends in Werbung, Kino, Fernsehen. Aber es ist ein Taschenspielertrick, Simulation statt Stimulation. Neue Kulissen und Kostüme sind nicht mit neuen Formen oder Inhalten zu verwechseln.
Modisch oder zeitgemäß im Sinne der Zeitgeistkatalogisierer ist Christoph D. Brumme sicher nicht. Stundenlang kann man sich mit ihm unterhalten – idealerweise in einem Café, wo es noch Kaffee statt Zimt-Latte gibt, ganz ohne Erlebniswelt und Bistroschnickschnack – über Kafkas Der Process als Echo auf Dostojewskijs Rodion Raskolnikoff (zu studieren anhand der Ausgaben von Stroemfeld und R. Piper, München u. Leipzig 1908).
Suchte Burroughs nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten in der Literatur, weil er die Welt als zunehmend mechanisiert wahrnahm, so fühlt sich Brumme, Jahrgang 1962, eher von dem überrollt, was Alvin Toffler „Die dritte Welle“ nannte, den medial angeheizten Informations-Overkill. „So wie die Malerei mit Erfindung der Fotografie einen Abstraktionsschub erfuhr, sollte sich die Literatur der Konkurrenz des Fernsehens stellen“, findet Brumme. Seiner Diktion ist das anzumerken, in Süchtig nach Lügen, seinem dritten Roman, liest sich das dann so: „Du musst nicht weinen, sagte sie, du bist nicht dein Onkel. / Ich weinte gar nicht. / Es regnet nicht mehr, sagte ich. Wir können unseren Urlaub fortsetzen. / Ich habe Kopfschmerzen, sagte sie.“ Was mit minimalistischer Instrumentierung begann wie ein Kniefall vor Kafka (wogegen sich Brumme wehrt, viel zu sehr schätzt er diesen Amokläufer gegen die zweite Welle, die Bürokratisierung der Gesellschaft) wird absurd, fast dekonstruktiv. Und es ist eben, in seinem zeitlosen Gewand hochmodern: eine Beziehungskiste, in der der Ursprung der Liebe unklar bleibt, beide Partner mehr wollen als sie selbst geben wollen und können, in der sie zugleich vom anderen die totale Hingabe einfordern.
„Beiden fehlt ein inneres Zentrum. Sie sagen zu jedem Augenblick, er soll ewig bleiben und gleichzeitig niemals wiederkehren“, so Brumme. Die Paradoxe, die sich daraus ergeben (Paradebeispiel: die Aufforderung, spontan zu sein) sind nicht nagelneu, Paul Watzlawick hat sie in Wie wirklich ist die Wirklichkeit? analysiert, anhand von Beispielen aus dem Leben, aber auch der Literatur von Joseph Heller (Catch 22), Ronald D. Laing (Du liebst mich nicht) und eben Dostojewskij und Kafka. Brumme geht aber in seinen wie Verhören arrangierten Dialogen (wie schon bei seinem Debüt Nichts als das) weiter. Tempo, Schnitte und Wechsel sind schnell, alles ohne Fett, fast ohne Adjektive. Kurz vor Veröffentlichung hat Brumme den Roman noch einmal um hundert Seiten verschlankt. Das Finale kommt dann zwar nicht ganz wie befürchtet, aber doch anders als erwartet – oder erhofft?, schließlich geht es ja immer und überall auch um die Lügen, mit denen man sich durchs (Liebes-)Leben hangelt…
Von der Kindheit in dem winzigen Örtchen Elend an der deutsch-deutschen Grenze geprägt, hat Brumme als Schauspieler am Theater gearbeitet, Philosophie studiert. Ihn als Ost-Stimme zu bezeichnen, wäre verkehrt, würde falsche Erwartungen hervorrufen, und doch ist anzunehmen, dass die Ereignisse Blick und Sinne geschärft haben. „Wer spricht“, so Brumme, „sollte nicht hoffen, verstanden zu werden.“ Wenn Brumme weiterhin Romane schreibt (zurzeit über eine Seelenwanderung), dann sicher immer mit einem Lächeln über die Verzweiflung, die Dilemma des Lebens, der Menschen und ihrer Gefühlswelten. Da verwundert es kaum, dass Süchtig nach Lügen mit einem Traum des Autors begann: „Ich wachte auf und fühlte mich wie eine Figur aus einem Roman Dostojewskijs“, lautete denn auch der erste Satz des Originalmanuskripts.
© Matthias Penzel, 2004. Original erschien dieser Artikel in Rolling Stone 10/2002

Claudia Kramatschek, Liebe und rede darüber
Christoph Brumme: «Süchtig nach Lügen» Neue Zürcher Zeitung, 6. März 2003,
Im Falle von Hannah und dem namenlosen Erzähler in Christoph Brummes neuem Roman «Süchtig nach Lügen» ist es die Sprache, die bindet und zugleich trennt. Denn Hannah wird ihr
Opfer verführen, indem sie ihm auf einer Party Geschichten auftischt zu den fünf Ringen,
die sie an den Fingern trägt. Dass alle Geschichten von Fluchten handeln, ist nur die erste Warnung, die er mit offenen Ohren ausschlagen wird. Noch am Abend werden sie ein Paar. Und ebenso rasch wird dem Erzähler klar, dass nichts mit Hannah so ist, wie er es erwartet. Allein das Ausmass und die Abgründe des Katz-und-Maus-Spiels, das von nun an unerbittlich seinen Lauf nehmen wird, kann auch der Ich-Erzähler nicht erahnen.
Bei Hannah zeigt sich die Liebe launisch und unberechenbar, masslos und pedantisch zugleich. So ist, was immer auch der Ich-Erzähler sagt und macht, für sie nie das Richtige.
Vor allem aber vollzieht Hannah die Liebe, indem sie darüber redet – und sie wie eine Süchtige einer unablässigen Prüfung in Worten unterzieht, aus deren Schlagabtausch die Liebe und der Geliebte immer nur als Verlierer taumeln können. Man kennt diese Wort- und Scheingefechte nur zu gut. Doch Brumme gewinnt dem Allbekannten mit (überraschend) schwarzem Humor und einem wunderbaren Sinn für das groteske Detail einen eigenen Ton ab, indem er die Endlos-Dialoge dieser verhängnisvollen Affäre in einer sophistischen Ausgefeiltheit zuspitzt, die von der (unfreiwillig) waltenden Tragikomik ebenso Zeugnis ablegt wie vor allem vom bitteren Geschmack der untergründigen Grausamkeit, an die man die Liebe schon verrät, noch während man nach ihr fragt. Auch um Hannah und den Ich-Erzähler zieht sich die Schlinge immer enger. Sie trennen sich – nur um sich noch vehementer zu streiten; schliesslich wird aus Grobheit körperliche Gewalt. Das aber ist, auch für den Leser, ein überraschender Wendepunkt in ihrer Beziehung: Nicht allein scheint plötzlich alles am richtigen Platz, als er zum ersten Mal den Gebieter spielt, den sie ihm doch immer versagte. Schlagartig erscheint – und das ist die Kunst dieses Romans – das fragile Gefüge, das beide zusammenhielt, in gänzlich neuem Licht. Und plötzlich stellt sich die Frage, wer der eigentlich Süchtige ist – umso mehr, als ein Remake mit einer anderen Frau den Roman eröffnet, ein weiteres Ende an seinem Anfang steht.

Matthias Eckoldt, Boy meets girl and girl meets boy, Deutschlandradio Kultur, 8.11.2002:
Was gibt es in einer Welt, deren Träume in Hollywood oder einer seiner vielen Zweigstellen produziert werden, mehr zu erzählen? Was bleibt übrig von den großen Menschheitsrätseln, nachdem sie den exakten Wissenschaften überantwortet wurden? Welche Gegenstände sollte sich die Literatur erschließen, an einem Punkt ihrer Entwicklung, da allgemeiner Konsenz ist, dass sie sich bereits alles erschlossen hat? Hier paßt einmal mehr die Antwort des modernen Systemtheoretikers: Es kommt nicht auf das Was an, sondern auf das Wie. Nicht der Inhalt ist interessant, sondern die Perspektive auf den Inhalt. Also, einmal mehr boy meets girl and girl meets boy. Nun erzählt von Christoph D. Brumme, der mit „Süchtig nach Lügen“ seinen dritten Roman vorlegt.
Hannah und der Ich-Erzähler treffen sich, wo sich heute Singles treffen. Auf einer Party. Sie streift die Ringe von ihren Fingern und erzählt zu jedem eine Geschichte. Tragische Geschichten, die von Flucht, Tod und Einsamkeit handeln. Eine Beziehung zwischen zwei Menschen beginnt, die von Anfang an nicht fürs Glück taugt, so sehr es die beiden Liebenden auch ersehnen. Brumme versteht es unnachahmlich, schon im ersten Glück die Vorzeichen der Katastrophe auftauchen zu lassen, die sich von nun an entfalten wird.
Ich streckte meine Hand aus, um nach ihrer zu greifen. Sie umklammerte ihr Glas. – Ich bin nicht der Typ fürs Händchenhalten, sagte sie. – Ich zog meine Hand zurück. – Bist du beleidigt? fragte sie. – Nein, sagte ich. – Nun gib deine Hand schon her, sagte sie. – Sie kratzte mit ihren Fingernägeln meine Lebenslinie entlang.
Am Detail wird das Ganze deutlich: Die Zärtlichkeit ist roh. Gerade dadurch aber stößt sie nicht ab, sondern bindet, weil sie das Ersehnte offen lässt. Jede kratzende Berührung stachelt die Sehnsucht an und wird zu einer Art Versprechen auf eine vollkommene Zukunft. Ein paradoxes Prinzip, das Hannah und den Ich-Erzähler in einen Höllenkreis einschließt. Sie gehen miteinander ins Bett, doch Hannah weigert sich in den ersten beiden Wochen, ihre Kleidung abzulegen. Als er sich auszieht, da es ihm angeblich unter der Decke zu warm wird, kritisiert sie Farbe und Schnitt seiner Slips.
Brumme erzählt den Wahnsinn, ohne dass seine Figuren verrückt wären. Dabei spielt er wie nebenher furios auf der Klaviatur des Thrillers. Die Katastrophe wird durch kleine Hoffnungsschimmer zurückgehalten. Ein Effekt, den man von Hitchcock kennt, wenn am Morgen nach einer grausiger Nacht die Sonne in einer freundlichen Landschaft aufgeht und keine angriffslustigen Vögel mehr zu sehen sind. In „Süchtig nach Lügen“ gibt es in fast jeder Szene solche Ritardandi, eingefangen in nur einem Satz, wie: „Rasch ergab sich ein Rhythmus: an einem Tag sahen wir uns, am nächsten nicht.“ Wo ein Rhythmus ist, muß es auch einen Gleichklang geben, so denkt man als Leser. Vielleicht sind es doch nur kleine Missverständnisse, normale Abgleichbewegungen, die bislang nur so unheilschwanger wirkten. Doch nur Sätze später wird die Hoffnung zunichte gemacht. Wie bei Hitchcock ein einziger Vogel die friedliche Morgenstimmung zerstört, so ist es bei Brumme Hannahs erste Replik am Telefon. Anstelle einer Begrüßung fragt sie: Weshalb rufst du an? Und schon greift die paradoxale Logik einer Beziehung, die unter der Last der in sie hineinprojizierten Hoffnungen und Erwartungen zusammenbrechen muss.
Sie erreichen sich nicht. Es gibt keinerlei Möglichkeit, einen verlässlichen Kontakt zueinander aufzunehmen. Dazu Brumme: Und das Furchtbare ist, und das ist für mich auch sehr modern, sie bieten Verhaltensweise wie Versatzstücke an und merken nicht, dass sie nur mit dem Verhalten des anderen experimentieren. Sie bietet das ganze Programm. … Alles ist möglich sagt sie, und tatsächlich ist gar nichts möglich außer Qual, Selbstqual, Selbsthass. Der Verlag hat es meines Erachtens sehr genau beschrieben. Es treffen Bindungsangst und Lebensgier aufeinander. Zwei sich ausschließende Prinzipien. Sie wollen alles und bekommen nichts. Sie glauben frei zu sein und sitzen in der Zelle. Und im anderen suchen sie immer nur den Wächter. Der andere muss alles bieten. Ein Kulturprogramm, geilen Sex, Unterhaltung, sinnliche Bedürfnisse erfüllen, für Nahrung und Kleide und Miete sorgen, Reisen bezahlen. Der andere soll alles bieten. Schön sein, attraktiv sein. Und genau diese Maßlosigkeit – wie im Märchen: Man sucht einen großen Schatz und hat am Ende nur Sand in der Hand. Wer zu viel will, bekommt gar nichts.
Aufschlussreich für den Roman ist die Rahmenhandlung. Der Ich-Erzähler geht mit drei Bekannten ins Kino. Sie sehen die Truman-Show. Mit der Wahl dieses Filmes gibt Brumme den Interpretationshorizont seines Werkes vor. Truman ist der Mensch, der sein Leben nicht in eigener Regie führt. Er ist das Produkt einer gewaltigen Inszenierung. Der Kampf der beiden sich quälend Liebenden in Brummes Roman steht mit dem Film in enger Beziehung. Auch sie agieren wie ferngesteuerte Wesen, nur dass, anders als im Film, der Regisseur seinen Platz verlassen hat und nicht mehr für die dramatische Ordnung sorgen kann. Die Figuren sind allein mit ihren fremdgesetzten Zwängen. Fremdgesetzt von einer unglücklichen Kindheit, von der besonders der Ich-Erzähler nicht müde wird zu berichten, und fremdgesetzt von einer Gesellschaft, die Glücksversprechen wie Gott einst das tägliche Brot gibt. Hannah und ihr Geliebter wollen nichts so sehr wie glücklich sein, endlich glücklich sein und merken, in jedem Moment, dass sie das Ziel verfehlen werden. Ihr Scheitern ist miteingeschrieben, wenn er auf Hannahs Frage, ob er überhaupt glücklich sein kann, antwortet:
Ich hoffe, dass ich es kann. Vielleicht hilfst du mir, glücklich zu sein.
Der andere, der sich selbst nicht ertragen kann, solls richten.
Brumme: Ich denke, dass zu keiner Zeit Menschen in einer derart trostlosen Einsamkeit gelebt haben wie heute. Die Sprache ist entleert. Viele werden von den Ansprüchen, die die Gesellschaft einflüstert, unendlich verhöhnt, niemand hat den perfekten Körper, niemand entgeht dem Altern, keiner erlangt die Unsterblichkeit. Wir kleben alle wie an Sekundenklebern. Nie waren Schritte, waren Spaziergänge derart mit Lasten beschwert wie heute. … Es ist zweifellos eine grauenvolle Geschichte, dass Menschen die Religion nicht mehr praktizieren. Das ist die größte Katastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts gewesen. … Das Dasein hat keinerlei Sinn, wenn Ideen, Träume und Hoffnungen nicht über das Unmittelbare hinausgehen. Dann gibt es keine Hoffnung, keine Lust, keine Intensität. Dann gibt es nur die Selbstquälerei zum Tode.
In seinem Roman gibt Brumme keinen Hinweis darauf, dass die Lasten, die der moderne Mensch stets mit sich herumschleppt, mit dem Tod Gottes zu tun haben könnten. Eben so wenig versteigt er sich dazu, als Religionsstifter à la Botho Strauss aufzutreten. Brumme diagnostiziert mit einer Kälte, die an den Krieger Ernst Jünger erinnert, die Blindstellen einer aufs Diesseits verpflichteten Glücksmaschinerie. Hannah und der Ich-Erzähler werden von ihr erfasst und scheitern. Am Schluss des Romans kommunizieren sie nur noch über Demütigungen, die teilweise so extrem sind, dass sie hier mit Verweis auf das Jugendschutzgesetz nicht ausgeführt werden.
Brumme hat nach seinen Romanen „Nichts als das“ und „Tausend Tage“ mit „Süchtig nach Lügen“ wiederum ein Sprachkunstwerk geschaffen. Die Kunst jedoch besteht nicht in einem manirierten Sprachgebrauch, sondern im genauen Gegenteil. Brummes Schreiben ist bestimmt von einer selten gewordenen Sprachökonomie. Kein überflüssiges Wort findet sich auf den hundertachtundsechzig Seiten. Der weitest mögliche Verzicht auf Adjektive dünnt die Sätze aus, bis sie wie nackt dastehen. Diese Methode hinterlässt beim Rezipienten starke Wirkungen. Denn er selbst muss beim Lesen die Lücken ausfüllen und wird so Akteur in einer Geschichte, die ihm lange nicht mehr aus dem Kopf gehen wird.
Ich legte mich ins Bett. Hannah stürmte mit einem Messer ins Zimmer. Jetzt schrie ich. Schreien kann ich. Sie blieb stehen, drehte sich um, lief wieder hinaus. Ich löschte das Licht und schlief ein. Ich wachte erst am nächsten Morgen auf. Hannah saß schon am Frühstückstisch. Sie zerschnitt einen Apfel. Ich sagte zu ihr: Der Urlaub ist zu Ende. Ich reise ab. Ich trenne mich von dir. Wir hatten noch keinen Analverkehr, sagte sie.

Themen: Presse

Kommentare

  • Honigdachs-Galerie

  • Themen