Nutzpflanzen – und Zierpflanzenbesitzer (Notizen – 3)

Falls es, wie Immanuel Kant meinte, einen Nationalcharakter gibt, so kann man den ukrainischen als lässig, gewitzt und fatalistisch bezeichnen, den russischen als von tiefschwarzem Sarkasmus und fast femininer Bescheidenheit geprägt, den deutschen inzwischen als neurotisch und ahnungslos.

„Ich habe noch nie eine Gesellschaft gesehen, die sich dermaßen überschätzt und so wohlgeordnet und still kurz vor dem Wahnsinn steht“, sagte der 70jährige Hans Neuenfels im Gespräch mit der ZEIT.
Die Deutschen haben keine Identität mehr, seit ihnen die D-Mark genommen wurde. Da sie zuallererst ökonomische Wesen sind, Ich-Aktiengesellschaften, fühlen sie sich unmittelbar den Stürmen der Weltwirtschaft ausgesetzt. Vielleicht kauft morgen ein arabischer Scheich oder ein chinesischer Parteisekretär die Ich-AG auf? Alles ist so abstrakt geworden, der Euro bietet keine Heimat mehr.
Die Deutschen haben trainiert, jede menschliche Handlung in Geld zu messen. Ob Krankenschwester, Kassiererin oder Autoschlosser, ihre Handbewegungen werden minütlich protokolliert. Zeit ist Geld, es muss sich rechnen. Die Rente ist nur sicher, wenn die Rentenkasse profitabel arbeitet, weiß der durchschnittliche Deutsche.

Viele Russen und viele Ukrainer haben – aus deutscher Sicht – ein gestörtes Verhältnis zu Zahlen. Wer nicht rechnen muss ist freier, sagt man. Zahlen klingen oft so fordernd und erzeugen Misstrauen. Wenn man wenig hat, will man gar nicht so genau wissen, wie wenig es ist. Zahlen machen nicht satt. Mit Hilfe von Zahlen kann man hingegen kontrolliert und auf etwas verpflichtet werden.
In der Ukraine dürfte der Anteil der Schatten- an der Gesamtwirtschaft bei siebzig Prozent liegen, in Russland vielleicht bei fünfzig. Verträge werden per Handschlag geschlossen und Löhne nicht oder weit unter Vereinbarung ausgezahlt. Nachbarschaftshilfe wird mit Naturalien entlohnt, der Tausch Ware gegen Ware ist gerade auf dem Land noch weit verbreitet. Korruption dient als Demokratie-Ersatz für die oberen zehn Prozent, für die anderen gelten die Gesetze.
Die harten Lebensbedingungen prägen die Mentalität: Identitätskrisen gehören nicht zu den
Volkskrankheiten. Die meisten Leute sind stolz auf ihre Nationalität, auf die entdeckten Traditionen, und ansonsten ist das Leben Kampf. Die Krisen enden nicht, sagt die Erfahrung.
Die Familie ist der Ort der Sicherheit und Heimat, hier wird gebeichtet und es werden die Gerüchte über das Chaos auf den Straßen besprochen. Der Staat ist ein Irrenhaus, das weiß jedes Kind, und wenn Opa krank ist, wird er gepflegt, und die Großmutter erzieht die Enkelkinder, damit die Mutter arbeiten kann.
Man kennt die Diebe und die Schuldigen an der Misere. In Kiew stank das Leitungswasser nach Fisch. Sieben Millionen Euro würde die Sanierung kosten, hieß es in den Zeitungen, jedoch fehle den Stadtwerken das Geld. In der gleichen Woche wurde der Tochter des Kiewer Bürgermeisters in Paris die Handtasche gestohlen, in der sich sieben Millionen Euro befunden haben sollen.

Aus Sicht vieler Russen ist der typische Ukrainer ein leichtlebiger Geselle, viel zu fröhlich für einen Slawen. Der fremde Bruder hat überhaupt keine missionarischen Ansprüche, er will die Welt nicht bekehren und nicht besser sein als andere; er will sein Vaterland nicht beschützen, weil er meint, dass es nicht bedroht sei. Ukrainern kann man nicht trauen, die seien zu individualistisch, sagt der Volksmund. Ukrainer meinen, die Russen träfen schneller als sie Entscheidungen, sie neigen zum Befehlen, Ukrainer zum Zweifeln. Nationale Neurosen und Komplexe unterstellen sich beide gegenseitig.
Und beide bewundern die Deutschen. Mit den Deutschen verbindet man Ordnung und Sauberkeit, Pünktlichkeit und Disziplin. Der deutsche Mann gilt als nachdenklich und belesen, als weich und formbar. Von deutschen Frauen hat man gehört, dass sie nicht heiraten und keine Kinder haben wollen. Dass die Häuser in deutschen Dörfern selten von Hunden bewacht werden, erscheint den meisten als ein Wunder.

Themen: Russland - Ukraine

Ein Kommentar to “Nutzpflanzen – und Zierpflanzenbesitzer (Notizen – 3)”

  1. Nadja schreibt:
    16th.September 2011 um 17:52

    Zu der Bezeichnung des russischen Nationalcharakters als „von tiefschwarzem Sarkasmus und fast femininer Bescheidenheit geprägt“ würde ich unbedigt „abgebrüht und rührselich gleichzeitig“ hinzufügen. Was Sie zum Deutschen Charakter sagen, ist wohl ausschließlich durch Ihre individuelle Wahrnehmung geprägt. Andere Völker sehen die Deutschen anders. Ja, aber das mit Bewunderung stimmt, wir bewundern die Deutschen. Auch die spießigen Eigenschaften finden wir nett: gemütlich, pünktlich, ordentlich. 🙂

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