Das Ziel ist klar (1)

Acht Uhr Start im Kornfeld. Der Boden ist schmierig und nass, an den Schuhen klebt nach wenigen Schritten der Dreck. Zelt und Schlafsack sind nass vom nächtlichen Regen und deshalb schwerer als sonst.
Noch zwei Tagestouren bis Saratow, noch etwa 350 Kilometer. Ich fahre auf die Trasse Wolgograd – Moskwa, kurz hinter Novonikolaevskiy. Wahrscheinlich ist diese Strecke etwas länger als jene aus dem Vorjahr, die über Mirny quer durch die Steppe führte, aber angesichts des Dauerregens möchte ich lieber auf asphaltiertem Boden bleiben.
Der heutige Tag scheint aber warm und sonnig zu werden. Ich fahre in kurzen Hosen. Die Straße ist zweispurig, der Verkehr mäßig. Die meisten LKW sind mit deutschen Firmennamen und Reklamesprüchen verziert. Fünf dieser Ungeheuer mit der Aufschrift Willi Betz fahren in einer Kolonne, die Erde bebt.
An einem Lieferwagen wird für Frische geworben, an einem anderen für noch mehr Geschmack. Ein Auto fährt sehr dicht an mir vorbei, es stammt aus dem Nordharz, vielleicht ist die deutsche Telefonnummer, die auf der Plane steht, sogar noch gültig. All diese Autos tragen russische Kennzeichen, sie wurden also geklaut oder regulär exportiert.
Ich muss an die Phrase denken, die in der Ukraine und hier in Russland so populär ist und die das Gitler kaputt inzwischen abgelöst hat: “Das ist fantastisch, ja, ja!” Lange Zeit konnte ich mir nicht erklären, weshalb ausgerechnet dieser deutsche Satz in Russland und in der Ukraine allgemein bekannt ist. Auch Menschen, die in der Schule kein Deutsch gelernt haben, begrüßten mich oft mit diesem Ausruf. Erst vor einer Woche wurde ich in Poltava in Gesellschaft von fünf Frauen – darunter eine Taubstummen-Dolmetscherin, eine Gefängnis-Wärterin und zwei Betreuerinnen von Prostituierten – aufgeklärt. “Das ist fantastisch, ja, ja!” war der Reklamespruch für eine deutsche Pornoserie. Die ersten Pornofilme nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion kamen aus Deutschland. – Die Geilheit hat Hitler besiegt, wie schön.
Nach etwa einer Stunde steht ein Restaurant am StraЯenrand. Ich bestelle Borschtsch und Tee; Brot und Käse habe ich noch bei mir. Ich blicke bewusst an den Leuten, die mich anstarren, vorbei. Ich will jetzt nicht reden, ich prüfe den irrsinnigen Gedanken, bis Saratov ohne Pause durchzufahren.
Zwei Hunde streunen um die Tische; im Borschtsch schwimmt ein zerkochtes Stьck Fleisch. Als ich es den Kötern anbieten will, jaulen sie längst an den Rädern des nächsten deutsch-russischen LKW. Ich werfe das Fleisch Richtung Papierkorb, sie werden es finden.
Noch etwa vierzig Kilometer bis Porovino. Fedja, der kluge Mann vom stillen Don, der Jessinin und Geinrich Geine (Ich weiss nicht, was soll es bedeuten, dass ich so traurig bin …) zitierte, hat mir den Weg auf der Karte gezeigt. Seine Tochter Julia empfängt heute ihr Diplom und darf sich zukünftig Ärztin nennen. Auf die Klage ihrer Mutter, dass sie als Ärztin kaum Geld verdiene, antwortete sie: “Aber Mama, du weisst doch, ich arbeite für die Menschheit!” – Bittere, böse, freie Ironie!
Wie dankbar ich aber bin, so viele interessante Menschen unterwegs zu treffen. Interessant, das ist klar, sind Menschen, deren WIDERSPRЬCHE mir sympathisch sind. Oder, schärfer formuliert: Ich liebe die, welche nicht zu leben wissen, es sei denn als Untergehende, denn es sind die Hinьbergehenden. – Michael, der Käptn, sprach die Erkenntnis aus: Es kommt nicht darauf an, dass du glücklich bist, sondern dass du anderen das Glück schenkst.

Beiderseits der Strasse ungenutzte Natur – priroda. Hartfasrige Gräser, deren Namen ich nicht kennen will; Blumen, die in botanischen Gärten bestaunt werden könnten – in Zeiten der Reaktion werden Landschaften schön.
Der nächste Anstieg. Ich blicke voller Sorge auf den hinteren Reifen. Schon dreimal musste ich den Schlauch wechseln. Der herzkranke Fahrradmonteur in Berlin spendierte mir für die Reise zwei Schläuche von der Firma CONTINENTAL, allerdings MADE IN CHINA. Die Firma steht für Qualität, der Zusatz KITAI erzeugt äußerstes Misstrauen – Billigprodukt, Schund, schöner Schein. Noch jeder Ukrainer, den ich bisher traf, lachte sich kaputt über die Scharlatanerie, die mit dem Signum Kitai verbunden ist. Dabei wurden sowohl mein Zelt, mein Schlafsack und meine Schuhe, die mir alle als besonders wertvolle Markenprodukte angeboten wurden, in China hergestellt.
Während sich am Himmel tintenblaue Wolken sammeln, bereite ich mich auf den Vortrag vor, den ich in Saratov halten möchte – Das Fiasko des Westens – Deutschland vor der Pleite.
Soll ich nun mit Hegels These / Beobachtung beginnen, wonach sich die Frontlinie der menschlichen Entwicklung von Ost nach West über den Erdball schiebt, oder mit ihr enden?
Besser: Mit ihr enden, denn sie bietet doch einen gelassenen Ausblick auf die Zukunft an. (Europa – USA – Japan – China – Indien – und dann, wie mein elfjähriger Schьler im Philosophieunterricht fragte, das Chaos, das Nichts, aber doch wohl nicht der Irak? – also im dreiundzwanzigsten Jahrhundert).
Gliederung: Situation heute; historischer Rückblick – geschenkte Siege sind gefährlich; was ist ein Staatsbankrott, welche Folgen hat er; weshalb sind die Nationalökonomen Jammerlappen; wer zahlt die Zeche; der Zynismus und die Hybris des Westens – Hegels Hohngelächter über das Dasein – er wollte Gott ohrfeigen, falls er ihm jemals begegnen würde; Bilanzen und Wirklichkeit, moderne Gespaltenheit, Diktatur des Scheins; optimistischer Schluss: die Werte des Westens als universelle Illusion.

Themen: Tour de Wolga

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