Über die Legende der angeblichen politischen und kulturellen Zerrissenheit der Ukraine (1)

Das erste Bierchen gönnt sich der Fahrradreporter ein paar Kilometer hinter der polnischen Grenze. Der Mensch, mit dem er an einem Blechtisch sitzt, antwortet auf die Frage, womit er sich beschäftige: „Mit dem Schmuggel von Zigaretten.“
„Ich wünsche Ihnen Erfolg!“, sagt der Fahrradreporter.
„Was soll man machen?“, fragt der Mann. „Die Kinder wollen studieren, und alle Fabriken wurden geschlossen.“
Der Fahrradreporter hat in der Ukraine und in Russland schon viele geschlossene Fabriken gesehen. Er erinnert sich an den Ausspruch eines US-amerikanischen Präsidenten, der gesagt hat: „Wir werden den Kalten Krieg gewonnen haben, wenn der russische Arbeiter kein Fleisch mehr in der Suppe hat.“
Am Nachbartisch trinken drei Arbeiter Bier, essen getrockneten Fisch, und der Fahrradreporter überlegt wieder einmal, weshalb er sich in der Ukraine viel freier fühlt als in Deutschland.
Wahrscheinlich liegt es an den weißen Streifen auf den Straßen, sagt er sich. Jedes Mal, wenn er auf der Rückfahrt aus der Ukraine in die EU einfährt, schockieren ihn diese Striche an den Straßenrändern. Welcher Idiot hat hier für Ordnung gesorgt? fragt er sich. Weshalb soll jede Straße so aussehen wie die andere? Soll es denn gar keine vergessenen Landschaften mehr geben? Hat noch kein Verkehrsforscher entdeckt, dass auch Autofahrer es als Abwechslung ansehen, wenn sie mal nicht funktionieren müssen und an einen Radfahrer, ohne auf weiße Streifen Rücksicht nehmen zu müssen, weiträumig vorbeifahren können? Muss auch die kleinste Gefühlsregung noch von Ingenieuren (der Seele) gestaltet, überwacht und kontrolliert werden?
‚Sieg Heil‘, flucht er innerlich, ‚es leben die Speichellecker!‘ Er kauft sich und dem Schmuggler ein zweites Bier und ermahnt sich. Seriös ausgedrückt sollte der Fluch natürlich lauten: Die westliche Kultur hat noch keine Alternative zu Auschwitz entwickelt.
Man soll ihr Zeit geben und nicht so viel fluchen, sagt sich der Fahrradreporter.
„Europa ist nicht weit“, sagt er zu dem Arbeiter.
„Europa denkt nur an sich selbst“, sagt der Schmuggler. „Die Polen würden uns ja gern helfen, aber sie haben keine Macht in der EU.“

Themen: Russland - Ukraine

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