Letzte Etappe (2)

Von der Pilzsuppe löffle ich nur die Brühe, die Pilze schmecken nach nichts. Ohnehin wird am Essen immer mit Gewürzen gespart. Ich stamme doch aus Indien und liebe es scharf!
Hinter mir betätigen sich Bauarbeiter, sie bauen ein neues Fenster ein, das heißt für mich: Fliehen vor dem Lärm.
Aufs Fahrrad, runter zum Choper. Das Wasser scheint nicht zu fließen, sondern vor sich hin zu stinken. Mehrere Leute haben mir schon erzählt, dass es in Russland in diesem Jahr keinen Frühling gab, der Sommer den Winter ablöste und seit dem Monat Mai dauerhaft Temperaturen über dreißig Grad herrschten.
Da ich Zeit habe, formuliere ich einen Brief an eine Leserin. Sie kämpft für den Gebrauch der ukrainischen Sprache und gegen die Benutzung des Russischen in der ukrainischen Öffentlichkeit, besonders im Fernsehen. Alter Schwede, wie verbohrt ist das denn! Die Menschen, mit denen ich in der Ukraine befreundet bin, spielen normalerweise mit beiden Sprachen, denn es sind schöpferische Geister.

Dieser sogenannte Sprachenstreit ist ein typisches Onanie-Thema für zweitrangige Intellektuelle und demagogische Politiker. Die Leserin ist jung, sie weiß nicht was ich weiß, der ich seit fast dreißig Jahren trampend oder radelnd durch Osteuropa reise: dass nicht nur in der Ukraine, sondern in allen Ländern die Kulturen und Sprachen sich nicht an staatliche Grenzen halten, vielmehr fließend ineinander übergehen, so zwischen Weißrussland und Polen, zwischen Polen und Deutschland, zwischen der Slowakei und Ungarn, zwischen Ungarn und Rumänien, zwischen Rumänien und der Ukraine, zwischen Bulgarien und Rumänien und der Türkei usw. usf.
Andererseits verstehe ich ihren glühenden Patriotismus: Sie stammt vom Dorf, wo ukrainisch gesprochen wurde, sah sich als Studentin in der großen Stadt dann in der Minderheit. Dabei ist der ukrainisch-russische Gegensatz in der Ukraine schon jahrhundertealt; alle zehn Jahre schlägt das Pendel mal in diese mal in jene Richtung.
Juschtschenko versuchte es mit Gewaltakten und erließ zum Beispiel ein Gesetz, wonach an ukrainischen Theatern die Bühnensprache Ukrainisch zu sein habe. Einzig russische Klassiker dürfen auf Russisch gespielt werden. Ich war lange genug Schauspieler um zu verstehen, wie krank das ist: Shakespeare oder Moliere auf Ukrainisch spielen zu müssen, statt die Übersetzungen von Puschkin oder Mandelstam ins Russische benutzen zu dürfen, nur um der politischen Korrektheit willen. Das Gesetz ist lustfeindlich und deshalb blöd, so einfach ist das.

Was ich der Leserin eigentlich übel nehme ist ein opportunistischer Ratschlag, den sie mir erteilt hat. Ich solle doch die Frage, weshalb in der Ukraine Russisch nicht als zweite Amtssprache zugelassen werde, aus meinem Artikel „Fragen an die Ukrainer“ streichen, denn diese würde nur böswillige Reaktionen in der westlichen Ukraine hervorrufen. Wie Wilhelm Schlegel schon wusste ist derjenige ein Hundsfott, der nach dem Beifall des Publikums schielt. Den Teufel werde ich tun. Man darf als Autor alles sein, aber nicht feige (und nicht langweilen).
Diese ukrainischen Nationalisten schlagen mit dem Wort Europa viel Schaum, aber wenn etwas ihren eigenen Gefühlen und Bedürfnissen widerspricht, verlieren sie den Mut, ihren eigenen Verstand zu gebrauchen.

Wie hübsch ist aber die Pointe, dass die deutschsprachigen Medien sich empört haben über das neue Sprachengesetz, mit dem auch Deutsch de facto als Amtssprache in der Ukraine zugelassen werden soll. Ach, ich liebe die Doofen, ohne sie wäre die Welt doch arm dran, worüber sonst sollte man sich amüsieren, wenn nicht über die menschliche Dummheit.

Balaschow. Ich fahre nicht in die Stadt, sondern biege am südlichen Rand auf die Fernstraße nach Saratow ein. Noch etwa 220 Kilometer bis zur Matuschka. Je näher die Wolga kommt, desto kürzer werden die Entfernungen. Längst habe ich mir vorgenommen, die Nacht durchzufahren. Inzwischen ist der Himmel wieder fast frei von Wolken, die Sonne brennt im Rücken.
Ich bin etwas leichtsinnig, was das Trinken angeht. 7 – 10 Liter am Tag muss ich schon aufnehmen, sonst quält mich Sodbrennen und im Kopf setzt ein Unterdruck ein, der sicher ein Warnzeichen ist. Ich habe nur noch einen halben Liter bei mir. Bis zur nächsten Tankstelle sind es etwa 20 Kilometer.
Ich höre mehrmals hintereinander „This ist the End“ von The Doors. Außerdem die Saratow-Hymne, die zwischen Lwiw und Wladiwostok jedes Kind kennt – trotz des verlogenen Textes ein geniales Lied.

Themen: Tour de Wolga

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