Letzte Etappe (4)

Noch etwa 120 Kilometer bis Saratow. Es ist achtzehn Uhr, 160 Kilometer bin ich gefahren. Durchschnittliche Geschwindigkeit heute: 19,5 km/h. Noch etwa sechseinhalb Stunden reine Fahrzeit. Vielleicht sieben. Etwa neunzig Minuten für Pausen, zum Trinken, Lesen und Träumen. So rechne ich.
Doch was soll ich nachts um zwei oder drei Uhr in Saratow? Mich an die Wolga setzen und singen? Mich zu den Kiffern gesellen und mit ihnen rauchen? In die Rock-Kneipe am Hafen gehen und verrauchte Luft einatmen?
A.S., der Zwerg, hat Urlaub; ihn zu wecken und mit ihm zu saufen, würde mir Spaß machen; doch da er Urlaub hat, kommt diese Variante nicht in Frage.
Kashmar. Jolki-palki. Blin. Blatch. Ich weiß es noch nicht. Ich werde spontan entscheiden. Ich bin ein bisschen stolz darauf, dass ich inzwischen russisch fluchen kann. Durak. Suka. Piderast. Musik in meinen Ohren.
Früher dachte ich, man sei in einer Sprache angekommen, wenn man in ihr Witze erzählen kann. Nein, man muss fluchen können wie ein Autoschlosser.

Mein schönster Versprecher, ich erzähle ihn gern:
Ich gehe ins Geschäft, will sagen: Daitje mne, poshaluista, nazoz. Geben Sie mir bitte eine Luftpumpe. Ich sage aber: Daitje mne, poshaluista, sazoz. Geben Sie mir bitte einen Knutschfleck.
Die Verkäuferin, eine junge Frau, scheint einen Moment lang zu überlegen, ob sie mir eine knallen soll. Dann lacht sie.
Wirklich? fragt sie. Pravilna? Vy chotitje sazoz?
Da, ya skashu. Ja, sage ich.
Njet, sagt sie, eta nelsja. Nein, das ist unmöglich.
Wenn ich gewusst hätte, was ich da gesagt habe, hätte ich geantwortet: Schade.
So aber antworte ich: Potshemu nelsa? U vas est net sazoz? Warum ist es unmöglich? Haben Sie keinen Knutschfleck?
Es ist doch ein Fahrradgeschäft, und da soll es keine Luftpumpen geben?
Sie zeigt ihren Hals um mir zu beweisen, dass es keine Luftpumpen gibt.
Ich bin so klug als wie zuvor.
Inzwischen eilt ihr Chef herbei.
On chotel by sazoz,  sagt sie. Er will einen Knutschfleck.
Vy manjak? fragt er. Ili velozepidist? Sind Sie ein schmieriges Schwein oder ein Fahrradfahrer?
Velozepidist.
Die Frage erübrigt sich eigentlich angesichts meiner Kleidung.
Vam nado nazoz, on skashit. Sie brauchen eine Luftpumpe, sagt er.
Was sazoz heißt weiß ich noch immer nicht.
Der Chef reißt seinen Mund auf, als wolle er Hannibal Lector spielen.
Seltsame Leute, denke ich.
Ich bekomme die Luftpumpe und verlasse ohne Knutschfleck das Geschäft. –
Die geschmeidigen Präpositionen: Na – auf, an, für, zu. Sa – hinter, für, um, wegen.
Luftpumpe, eigentlich: vosdushniy nazoz. Knutschen: obnimatj.
Egal, ich bin Autodidakt und rede wie ein Straßenköter. Die Kurzformen versteht jeder.

Ich muss geträumt haben, ich habe wieder kein Wasser gekauft. Das war wirklich ein bisschen dumm.
Das nächste Restaurant, von Armeniern betrieben, ist mindestens 60 Kilometer entfernt. Und diese Leute schließen früh und öffnen spät. So war es im vorigen Jahr und wohl auch im Jahr davor.
Dörfer gibt es hier nicht. Ich habe noch Fishermans Friends bei mir, wenigstens kann ich etwas lutschen und so den Speichelfluss anregen.
Ich tröste mich mit meiner Enthaltsamkeitstheorie: Verzicht fördert den Genuss. Desto glücklicher werde ich sein, wenn ich wieder Wasser bekomme. Man muss nur fasten, um sich aufs Essen zu freuen.
Und tatsächlich, die Armenier schlafen bereits um zehn Uhr nachts. Eigentlich sind es Armenierinnen, ich habe dort noch nie einen Mann gesehen. Gegenüber am See war ich schon Gast einer tatarischen Hochzeit. Jetzt dringen von dort seltsame Laute herüber. Ein Fabelwesen, ein Kreuzung zwischen Frosch und Reh, scheint mich zu verspotten. Oder Beifall zu murmeln.
Ich versuche ein Gespräch zu rekonstruieren, das ich vor zwei Tagen mit einem Offizier der Polizei, wie die Miliz seit zwei Jahren in Russland heißt, geführt habe.
Ich hatte mich natürlich „naiv gestellt“, um ihn zum Reden zu bringen.
Sie haben einen neuen, alten Präsidenten?
On Päderast, sagt er.
Das ist nun wirklich das hässlichste Wort, mit dem man in Russland einen Menschen bedenken kann.
Die letzte Wahl war wohl eine Komödie? frage ich. Ich habe im Fernsehen gesehen, dass es im Oblast Woronesh eine Wahlbeteiligung von 140 Prozent gab.
Auch im zweiten Wahlgang wurde betrogen, trotz der Kameras in den Wahlkabinen, sagt er. Ich war achtzehn Uhr wählen, und zwanzig Uhr wurden die Wahlergebnisse bekannt gegeben, wie soll das möglich sein?
Dann regt er sich darüber auf, dass sein Chef ihn aufgefordert habe, Edinaja Rossia zu wählen, die Partei der Diebe und Gauner. Er habe sich geweigert, wie auch einige seiner Kollegen.
Er erzählt, dass selbst die Offiziere bei der Arbeit jetzt mit Kameras überwacht werden. Offizieller Grund: das Rauchverbot. Selbst auf den Toiletten dürfe man nicht mehr quarzen. Dort stehe ein Wachposten, der dies kontrolliere.
Wenn ich aber nicht rauchen, sondern nur pissen will, werden Sie mir auch zusehen?, habe er den Bewacher gefragt.
(Je größer die Widersprüche in einer Gesellschaft, desto absurder die Verbote, mit denen eine staatliche Bürokratie den Zusammenhalt einer Gesellschaft sichern will.)
Dann erzählt er, dass er einen Autounfall gehabt habe; eine Frau habe die Vorfahrt missachtet und sei ihm ins Heck gefahren. Obwohl er unschuldig gewesen sei und keinen Alkohol getrunken habe, zähle dies als Dienstvergehen.
Dann schimpft er, dass er nicht mit Journalisten über seine Arbeit dürfe. Die Wahrheit dürfe nur eine Zeitung berichten, die einem nach Israel geflüchteten Oligarchen gehört, einem lokalen Beresowski. Der regiere eigentlich noch immer den Oblast, der Gubernator sei nur eine Puppe für die Öffentlichkeit.
In der Opposition sehe er allerdings auch keine Alternativen. Die Kommunistische Partei, deren Sozialprogramm einigermaßen glaubwürdig sich lese, werde von eben jenem nach Israel geflüchteten Verbrecher gesponsert. Die Liberalen seien Kasperköpfe, die niemand ernst nehmen könne. Navalny sei ein gefährlicher Nationalist. Kasparow ein in den USA geschulter Diversant.
Ich muss mir zwischendurch ins Bein kneifen, um mich zu vergewissern, dass ich mit einem Major rede, der Recht und Gesetz durchsetzen soll.  So verrottet ist das Staatswesen also im Innern.

Themen: Tour de Wolga

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