Ausländer werden bevorzugt behandelt

Auf die Frage, wie mir Russland gefällt, antworte ich oft mit den Worten: Stranaya strana, seltsames Land. Die meisten Menschen lachen nach dieser Antwort. Sie finden ihr Land noch seltsamer als ich. Ich denke mir: Sich zu wundern ist allemal glaubwürdiger, als zu tadeln oder zu loben. Ersteres geziemt einem Gast nicht, nicht nach solch einer einleitenden Frage. Letzteres wäre billig.

Zwei Beispiele für Seltsamkeiten.
In der ersten Stadt hinter der Grenze, in Kantemirovka, lege ich meine russische SIM-Karte ins Telefon, um Freunden von meiner Ankunft zu berichten. Die Karte funktioniert nicht. Ich gehe ins Megafon-Geschäft, will einen Kredit kaufen. Die Verkäuferin erklärt, das sei nicht möglich, die Karte sei gesperrt worden, weil sie mehr als drei Monate lang nicht benutzt wurde.
Stranaya strana. Dann geben Sie mir bitte eine neue Karte.
Ob ich eine polizeiliche Registrierung habe, will die Frau wissen.
Nein. Ich bin ja erst zwei Arbeitsstunden in Russland.
Dann könne Sie mir keine Karte verkaufen. Ich könne es aber in der Post versuchen, dort brauche man keine Registrierung für den Kauf einer Megafon-Karte vorzeigen.
Stranaya strana. Welchen Sinn kann solch eine Regelung haben?
In der Post will die Verkäuferin nur meinen Pass sehen und wissen, wo ich wohnen werde, nach einer Registrierung fragt sie nicht.
Am nächsten Tag allerdings ruft die Firma Megafon an. Man müsse meine Karte sperren, da ich nicht im Besitz eines russischen Passes sei. Es sei denn, ich würde noch einmal zur Post kommen und mindestens eine polizeiliche Registrierung vorweisen.
Wir haben einen Vertrag unterschrieben, wende ich ein, außerdem habe ich Geld bezahlt. Mit welchem Recht wollen Sie meine Karte sperren?
Meine Gastgeberin nimmt mir das Telefon aus der Hand, spricht mit der Frau, erklärt, dass ich schon nicht mehr in Kantemirovka sei. Ob es vielleicht helfen würde, wenn sie ihren Namen und ihre Passnummer angeben würde, fragt sie.
Ja, so ließe sich das Problem lösen.
Doch am nächsten Tag ist die Karte gesperrt. Stranaya strana.

Ganz anders im Krankenhaus. Kaum bin ich in Saratow, muss ich wieder zum Arzt. Diesmal eitert eine Wunde am Finger, die Fingerkuppe hat sich schon blau gefärbt. Ein Freund hat mir eine Ärztin empfohlen, ich kündige mich telefonisch an. Der Freund hat ihr schon von mir erzählt.
Sie guckt sich meinen Finger an, ruft den Chirurgen. Der tastet den Finger ab und sagt, es müsse gleich operiert werden.
Die Ärztin sagt ihm, ich hätte keine Versicherungspolice, er solle aus menschlichen Gründen helfen. Nach einer Police hat sie mich gar nicht gefragt. Ich habe eine, könnte die Rechnung bezahlen und in Deutschland der Versicherung vorlegen.
Der Chirurg raucht auf dem Weg zur OP noch eine Zigarette, auch im Flur des Krankenhauses, wo gerade ein Verletzter auf der Liege vorbeigeschoben wird. Dann beratschlagt er sich noch einmal mit einem Kollegen, führt mich ins OP-Zimmer, setzt die Betäubungsspritze, schneidet mit einem Skalpell den Finger auf, zeigt mir den Eiter; eine Schwester assistiert. Morgen soll ich wiederkommen, zur Kontrolle und Wundbehandlung, auch die nächsten Tage.
Keine Frage nach Geld. Menschliche Gründe, stranaya strana.
Ewgenia, meine charmante Begleiterin, die im Deutschen Lesesaal von Saratow ein Praktikum absolviert und mir deshalb, wann immer ich es möchte, helfen soll, meint: Ein Russe hätte bezahlen müssen, Ausländer werden eben bevorzugt behandelt.
Man stelle sich dies für Deutschland vor, Ausländer werden bevorzugt behandelt …

Themen: Tour de Wolga

Kommentare

  • Honigdachs-Galerie

  • Themen