Volksaufstand in der Ukraine (1)

In Deutschland verboten, in der Ukraine eine wirksame Drohung, den verhaltensgestörten Präsidenten aus dem Amt zu jagen – das ist der Generalstreik.
Nachdem Janukowitsch sich überraschend weigerte, das lange vorbereitete Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterzeichnen, fühlen sich viele Ukrainer betrogen.
Aus den Demonstrationen ist nunmehr ein Volksaufstand geworden. In der Nacht zum Samstag prügelte die berüchtigte Sondereinheit „Berkut“ auf schlafende Studenten ein, damit war für viele Menschen eine rote Linie überschritten worden. „Wenn er unsere Kinder schlagen lässt, jagen wir ihn aus dem Amt“ – so eine weitverbreitete Meinung.
Gestern haben in Kiew mindestens 100.000 Menschen protestiert, glaubwürdige Schätzungen sprechen von bis zu 300.000. Auch in anderen Städten kam es zu Demonstrationen, Straßenblockaden und gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei.

Ich selbst sprach in den letzten Tagen mit mehreren ukrainischen Freunden, auch beteilige ich mich an Diskussionen im „Ukraine-Forum“. Einige der dortigen Foristen beteiligen sich an den Demonstrationen in Kiew bzw. beobachten diese. Auch können die Eeignisse über mehrere Livestreams mitverfolgt werden. Der Internet-Nutzer kann den Aufstand multi-perspektivisch sehen.
Im Folgenden einige Auszüge aus meinen Beiträgen.

Ich verstehe gut, dass es gewichtige Argumente gegen das Assi-Abkommen mit der EU gibt. Aber ich kann nicht akzeptieren, dass Ukrainer als Europäer 2. Klasse behandelt werden, dass sie sich erniedrigen müssen, um nach Westeuropa reisen zu können. Ich möchte, dass meine ukrain. Freunde mich besuchen können, ohne ihre „Rückkehrwilligkeit“ nachweisen zu müssen.
M.E. spielen alle drei beteiligten Mächte bzw. deren Regierungen – EU, RU, UA – mit falschen Karten. Die EU verfolgt in erster Linie wirtschaftliche Interessen, die ukrainischen Menschen sind ihr weitgehend gleichgültig. Es geht um Absatzmärkte und darum, W. Putin bzw. Russland „zu ärgern“. Wäre es anders, hätte man schon längst die Visa-Pflicht aufgehoben und sie nicht nur als taktisches Mittel in den Verhandlungen genutzt. (s. dazu die schwammigen Bestimmungen im Assi-Vertrag im Verhältnis zu dem, was man den Moldawiern vor 2 Wochen, vor 1 Woche, heute anbietet -„Die EU-Kommission sprach sich am Mittwoch für die Aufhebung der Visa-Pflicht für die Bürger Moldawiens aus. Die demonstrative Geste von Brüssel soll Kiew zeigen, was es verloren hat und was es bekommen kann, wenn der Prozess der EU-Integration wieder aufgenommen wird“.)
Weil der Versuch, die UA in die NATO zu holen, gescheitert ist, gilt nun das Assi-Abkommen als weiche Variante, die westl. Einflußsphäre zu erweitern. Im Hintergrund agiert Big Brother USA, der „ein Verbot der Einfahrt in das Territorium von Amerika und der Europäischen Union für Janukowytsch und Mitglieder der Regierung“ erlassen möchte. Es ist ein offenes Geheimnis, dass die NSA-USA ein „Gemeinsames Haus Europa“ (M. Gorbatschow) fürchten, wie der Teufel das Weihwasser.
Über Putin muss man in diesem Zusammenhang m.E. nicht lange reden. Wäre er wirklich ein „slawischer Bruder“ des ukrain. Volkes, würde er nicht einen Handelsboykott gegen ukrain. Waren anweisen und mit dem Staatsbankrott der UA spielen. Der einzige rationale Impuls, der sein Handeln entschuldigt, ist das verlogene Verhalten des Westens, s. NATO-Osterweiterung und die angeblich gegen den Iran und Nordkorea gerichtete Raketenabwehr.
Dass der Boxer Janyk ein übler Geselle ist, ein Gauner und Bandit, dem es wichtiger ist, auf goldenen Kloschüsseln seine Notdurft zu verrichten, als die Renten zu erhöhen, sollte ebenfalls allgemein bekannt sein. Dennoch kann man anerkennen, dass dieser Dr. Jekyll and Mr. Hyde sich von zwei Seiten erpresst fühlt – von der Arroganz des Westens („die Heiz- und Wassertarife müssten erhöht und die Löhne und Renten dürften nicht mehr erhöht werden“ – Forderung mindestens des IWF) und dem Handelsboykott und den Drohungen Russlands. –
Die Forderung des Tages sollte m.E. dennoch lauten: Das Assi-Abkommen muss unterschrieben werden! Wer die UA näher kennt, der weiß, dass den meisten Ukrainern westeurop. Verhältnisse viel lieber wären als die gegenwärtige bittere Wirklichkeit. Natürlich würden nicht „über Nacht“ westeurop. Rechtsstandards in der UA Einzug halten. Aber durchlässigere Grenzen, etwas freierer Handel böte vielen Menschen die Freiheit der Wahl.
Deshalb: Ein Generalstreik wäre berechtigt und angemessen! Und hoffentlich erfolgreich.
Dabei kann ich mir die bittere Nachbemerkung nicht verkneifen, dass ein solcher in Dt. rechtswidrig wäre. („In Deutschland sind Generalstreiks, anders als etwa in europäischen Staaten wie Frankreich oder Italien, juristisch nicht vom Streikrecht gedeckt und somit rechtswidrig. Der Politische Generalstreik ist allerdings nicht ausdrücklich im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verboten, sondern wurde durch Gerichtsentscheidungen ausgeschlossen. Diese Entscheidungen basieren letztlich auf einem Gutachten (1952) und dem Urteil des BFG aus dem Jahre 1955, an denen beide Male Hans Carl Nipperdey zentral beteiligt war.“ – Wikipedia)

„Wo befindet sich denn das Kabinett und die Präsidentenadministration zur Zeit?“
Wenn diesem Präsidenten das Schicksal „seiner“ ukrain. Familie so am Herzen liegen würde, hätte er längst vor die TV-Kameras treten und versuchen müssen, die Lage zu beruhigen, etwa durch den Vorschlag, so bald als möglich eine Volksabstimmung durchzuführen.
Aber klar, wird er abgewählt / gestürzt oder was auch immer, müsste er selbst damit rechnen, für seine Diebstähle und illegalen Geschäfte zur Rechenschaft gezogen zu werden.
Hoffentlich kommt keine Ausgangssperre. Die Vernunft sollte regieren, nicht Hass und Wut. Diese Bagger- und Molotow-Szenen machten mir Angst. Ich kann verstehen, dass man die Berkut-Schwarze-Garde bekämpfen will. Aber weise ist das nicht. Davon kann die Idee der Freiheit und Gerechtigkeit tatsächlich verdorben werden, wie Marco schon schrieb.

Manches erkennt man „am Fernseher“ besser, manches als Augenzeuge, das ist doch immer so. Auf jeden Fall Respekt und Dank denen, die sich vor Ort vergewissern. Passt schön auf euch auf! Hoffen wir, dass es „im Schutze der Dunkelheit“ nicht zu solchen bösen Prügelszenen kommt, wie letzte Nacht. Es ist abgrundtief feige, auf Zivilisten einzuschlagen, wie es auch feige ist, Molotow-Cocktails zu werfen.
Da ich Ehrenmitglied der ukrainischen Miliz bin, schlägt mein Herz sowieso für beide Seiten – für den berechtigten Protest gegen den Präsidenten, aber auch für die Feuerwehrleute und Milizionäre, die ihre Köpfe für eine unfähige Politik hinhalten müssen. Viele der Milizionäre sind selbst Gewissenskonflikten ausgesetzt. Die Berkut-Leute nehme ich von diesem Verständnis aus.

Redner und Recht
Wer sind eigentlich die Redner? Gibt es Quoten unter den Oppositionsparteien für die Redezeit? Wie viele parteiunabhängige Redner sprechen? Führt jemand Regie? –
Weiß jemand, ob ein Generalstreik verfassungswidrig wäre? (wie in Dt.) Oder ist die Frage zu deutsch – nach dem Wort Lenins, wenn die Deutschen eine Revolution machen wollen, lösen sie erst eine Bahnsteigkarte.
Generalstreik – auch so eine gefährliche Sache. Als ob es der Wirtschaft nicht schon schlecht genug ginge. Welchen Preis muss und kann man zahlen, um mehr Mitsprache zu erreichen, um demokratische Rechte einzuklagen?
Fragen über Fragen. Dabei ist kaum zu entscheiden, ob der Assi-Vertrag nicht ein Danaergeschenk ist.

„Leider geht es weder ohne Geschenke oder Zuwendungen weiter, es wird ein Ausweg aus einer zukünftigen Wiederholung einer erneuten russischen „Leibeigenschaft“ gefunden werden müssen!“
Russland-Versteher
Das Schlimme ist das Entweder-Oder – entweder die UA entscheidet sich für EU oder für RU bzw. Eurasische Union. Im Interesse der meisten Menschen ist das nicht. Russland ist nicht Putin, und die Ukraine nicht Janukowitsch. Die Personalisierung von Politik / von gesell. Konflikten dient natürlich dem Verständnis komplexer Vorgänge, aber man sollte im Hinterkopf behalten, dass auch in Russland viele Menschen W. Putins Politik verurteilen. Stichwort Gewaltenteilung und Verantwortungsdelegierung.
Ich kenne die Grenzregionen der UA im Osten wie im Westen ganz gut – natürlich will man als Lugansker BürgerIn offene Grenzen zu Russland, weil das nur ein paar Kilometer entfernt ist, und natürlich ist man als BürgerIn Lwiws deprimiert, so nah vor der polnischen bzw. EU-Außengrenze zu leben und doch nicht die gleichen Rechte zu haben wie etwa polnische Verwandte.
Aber das bedeutet noch lange nicht, dass die UA in einem Kulturkonflikt (Sprachenstreit) zerrissen oder befangen sei. Diese Behauptung ist die verhängnisvollste, die ich über die Ukraine kenne. Man frage sich, wem sie nützt. Vor einigen Jahrzehnten hätte die Frage gelautet: Wem nützt die Spaltung der Arbeiterklasse? – der arbeitenden Menschen. Den Kapitalisten, den Oligarchen.
Die schlimmsten Konflikte in der UA sind soziale und ökonomische, keine kulturellen. Die Feinde der Bauern bei Lutzk sind nicht die Bauern im Donbass – abgesehen davon, dass dort viele Griechen leben.
Das ändert natürlich nichts daran, dass heute zwei Symbole zur Wahl stehen – Pleitegeier EU und Sowjetunion light. Keine schöne Wahl.

Ich danke dir auch! Für den Lesetipp und deine Links und Berichte und Fotos. Wir sollten uns alle vor Vereinfachungen vorsehen. Mein Freund Fjodor Michailowitsch Dostojewskij hat gern gesagt: Nichts ist so fantastisch wie die Wirklichkeit.
Lieber zweimal länger nachdenken, als gar nicht. Kein Volk ist besser als das andere, keines kultivierter oder höher entwickelter oder rückständiger als irgendein anderes. Volk – das ist  schon eine Fiktion.
Konkret auf die Ukraine bezogen, habe ich hier aber auch die schöne Erfahrung gemacht, dass in den letzten 20 Jahren ein gesundes Nationalbewusstsein gewachsen ist. Auch viele Menschen, deren Muttersprache das Russische ist, sagen: Zuerst bin ich Ukrainer! Wie schlimm wäre es, wenn man diese Menschen zwingen würde, „sich für Russland zu entscheiden“.
Und es gibt z.B. auch viele junge ukrainische Männer, die froh sind, dass sie nicht in innerrussische Konflikte á la Tschetschenien hineingezogen wurden. Die ukrain. Armee scheint mir geradezu eine gemütliche Einrichtung, verglichen mit der russischen.
Viele, viele Gründe könnten wir aufzählen, um vor dumpfen Nationalismus zu warnen. Auch bei den Protesten am heutigen Tag geht es m.E. vor allem um Würde, um die Würde des Einzelnen, um die Freiheit der Wahl, um das Ende des Betrugs durch die gierige Bande Janukowytsch.

Themen: Russland - Ukraine

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