Der ukrainische Volksaufstand (5)

Lob der Oligarchen
Die Kritik an den Oligarchen hat immer auch etwas Lächerliches. Nach dem Zusammenbruch der Planwirtschaft, in welcher das staatliche Eigentum an den Produktionsmitteln garantiert war, blieb nur der Weg der Privatisierung. Viele Kolchosen wurden aufgelöst, Bauern bekamen wieder Land zur eigenen Bewirtschaftung. Anders wäre die Versorgung und Eigenversorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln gar nicht möglich gewesen.
Wem sollten fortan die Elektrizitätswerke, die Fabriken, die Verlage, die Zeitungen, die Bergwerke, die Hotels gehören? Wenn sie arbeiten und funktionieren sollten, musste jemand für sie verantwortlich sein, musste jemand als juristische Person für sie bürgen.
Die ursprüngliche Akkumulation des Kapitals, die sich in den westlichen über mehrere Jahrhunderte hinzog, musste in der ehemaligen Sowjetunion innerhalb kürzester Zeit bewältigt werden. Natürlich obsiegten dabei die Spielernaturen, diejenigen, die über VITAMIN B (gute Beziehungen) verfügten. Natürlich hatten Partei- und Komsomol-Funktionäre, Bürgermeister, Parteisekretäre, die besten Karten in dem Spiel, das Boris Jelzin unter dem Slogan zusammenfasste, „Bereichert euch!“
Es ist leicht, darüber moralisch zu urteilen und die Gewinner, die Oligarchen als Blutsauger zu verspotten. Aber fast alle der Spötter sind Neider. Fast jeder der Spötter wäre selbst gern reich.
Es sollte sich einmal jeder selbst befragen: Wäre ich so stark gewesen, auf die Chance zu verzichten, einen Fernsehsender zu besitzen? Jemand muss ja reich sein = die Verantwortung übernehmen = das Risiko eingehen, für Fabriken und Konzerne mit z.T. 10.000 Arbeitern juristisch zu bürgen.
Es sei denn, man will wieder Planwirtschaft, Gemeineigentum an Produktionsmitteln. Ein dritter Weg zwischen Sozialismus und Kapitalismus wurde bisher nicht gefunden.
Zwar müssen, wenn einer reich ist, einhundert andere Unglückliche arm sein. Ein besseres Modell hat es in der Moderne aber noch nicht gegeben.

Jensinski: „Die Kritik an den Oligarchen hat immer auch etwas Lächerliches?
Nein, das ist zu einfach und auch nicht richtig. Beispiel: Du sitzt doch in Berlin? Wann war Euer Nahverkehr besser? Als es noch in staatl. Hand war oder jetzt, nach der Privatisierung? Ich lese laufend in den Medien über die Berliner S-Bahn „kaputt gespart, kaputt gespart, kaputt gespart.“ Noch ein Stichwort: Stromversorger. Wie hoch wären die Strompreise, wenn diese noch in staatlicher Hand wären? Alles die Grundversorgung Betreffende gehört grundsätzlich in staatliche Hände! Hatte doch alles funktioniert – hast Du Dich mal gefragt, warum das privatisiert wurde?“

„Ja, ich habe mich schon gefragt, warum in Berlin und anderen Städten und Ländern „alles die Grundversorgung Betreffende“ privatisiert wurde. Unter anderem anlässlich der Abstimmung über die Re-Privatisierung der Berliner Wasserbetriebe, an der ich teilnahm.
Ich bin auch der Meinung, dass die Grundversorgung in staatliche Hände gehört. Ich konnte u.a. in Großbritannien mir von einem Ökonomen erklären lassen, wie sich die Privatisierung der Eisenbahn, großer Teile des Gesundheitswesens auswirkte – nicht gut für die Gesamtheit.

Jensinski: „Vieles musste in der Ukraine privatisiert werden, das wird keiner bestreiten. Aber wie sie es gemacht haben, das war keinesfalls richtig! Was hätte dagegen gesprochen, die Firmen ganz normal auszuschreiben? Kredite für den Kauf zu gewähren bzw. die Bezahlung auf Raten zu gewähren?“

Nun, dagegen sprach die konkrete historische Situation in allen GUS-Staaten. Die Betriebe wurden privatisiert, als es noch keine Rechtsanwälte und noch kein staatliches Personal gab, die in solchen Fragen ausgebildet waren. Es gab noch keine Privatbanken (in Russland gründete Chodorkowski die erste.) Die staatlichen Banken waren nicht selbständig genug / trauten sich noch nicht, Kredite für Privatisierungen zu vergeben.
Für die Privatisierung einer ganzen staatlichen Volkswirtschaft gab es in der Geschichte noch kein Beispiel. Deshalb lud die russ. Regierung die „Chicago Boys“ ein, um sich beraten zu lassen. Sicherlich keine gute Idee, aber eine bessere hatten sie nicht.

Jensinski: „Gab es wirklich nur die Möglichkeit, dass eine Handvoll Glücksritter sich die gesamte Wirtschaft unter den Nagel reißt?“
Nun, es wurde nicht alles von einer Handvoll Glücksritter unter den Nagel gerissen. Sondern in der UA von mindestens 100.000 Glücksrittern. In jeder Kleinstadt, in jeder größeren Siedlung gab es solche Glücksritter. Das Muster war oft: Ein Parteibonze, seine Familie und Freunde, übernahmen die örtliche Bäckerei, die örtliche Mühle, den Kolchos etc. So bildeten sich viele oligarische Strukturen im Kleinen aus. Aus sozialistischen Monopolen wurden kapitalistische.
Hätte man das verhindern können? Ich denke dabei an Fjodor, der in einem Dorf an der Wolga lebte (leider schon verstorben ist). Genau diese Frage stellte ich ihm, nachdem er mir erzählt hatte, dass in seiner Siedlung (ca. 2000 Einwohner) eine einzige Familie sich bei der Privatisierung die ganze Verwertungskette des Essens (Kolchos, Mühle, Bäckerei, Lebensmittelgeschäft) unter den Nagel gerissen hätte.
„Warum habt ihr das nicht verhindert?“ fragte ich. „Warum macht ihr das jetzt nicht rückgängig? Ihr seid doch viele, die Bonzen-Familie sind wenige?“ („Aristokraten an die Laterne!“ – singe ich beim Radfahren gern, wenn ich allein bin.)
Fjodor lachte. „Dummkopfland“, sagte er.
Ich verstand. Ein alter Russe sagte mir: Das ist ein Dummkopfland. Wir, unser Volk, ist dumm.
In der Ukraine höre ich oft bei solche Themen den Satz: „Wir haben keine Kultur!“
Der Satz tut mir weh, ich widerspreche, verstehe aber, was gemeint ist. „Wir haben keine Rechtskultur, keine starke Zivilgesellschaft, keine Tradition der Individualität.“
Wir mussten den Kapitalismus erst lernen – das ist auch so ein Schlüsselsatz.

„Was hat der Staat nun davon? Was haben die Menschen davon – immerhin war es Volkseigentum und jeder Mensch hatte somit einen Anteil!“
Schlecht ist das für die Menschen, für den Staat, ja klar. Du kennst mich. Glaubst du, ich hätte je anders darüber gedacht?

„Ich gehe jede Wette ein, dass bei einer halbwegs legalen Privatisierung die Ukraine nie und nimmer die aktuellen Probleme hätte und vielleicht die EU anklopfen würde und fragen, ob sie in dem Club mitspielen darf.* Nein mein Guter, mit der Ansicht bist Du total auf dem Holzweg.“
Tja, und ich gehe jede Wette ein, dass eine halbwegs legale Privatisierung nicht möglich war. Weil das Wissen und die juristischen und die kulturellen Voraussetzungen fehlten. Und nicht zuletzt auch die materiellen. Für alle reichte es nicht.

„Jetzt verstehe ich es besser. Eine Tragödie von Shakespeareschem Ausmaße!“
Ja. Danke für deine anregenden Fragen!

(Fragen: Jensinski)

Themen: Russland - Ukraine

Kommentare

  • Honigdachs-Galerie

  • Themen