Torten aus Slawjansk

Selbst einige meiner ukrainischen Freunde zeigten sich in den letzten Tagen etwas besorgt, weil ich so weit in den Osten geradelt bin, bis etwa 70 km vor Slawjansk. Aber hier ist „alles ruhig“, wie die Einheimischen sagen.
Die Ruhe ist natürlich relativ. Man hört hin und wieder die Abschussgeräusche der Haubitzen wie ein fernes Gewitter. Die Eisenbahn fährt nicht mehr. Manchmal sitzen Soldaten auf der Terrasse gegenüber dem Bahnhof, trinken Wasser, essen Fisch, erholen sich. Und es vergeht natürlich kein Gespräch, in dem nicht über den Krieg gesprochen wird. Aber das gilt für das ganze Land.

Mein Freund Alexej, Leutnant der Miliz, hat mir hier ein schönes Haus besorgt, in dem ich ungestört arbeiten kann – es steht in der Karl-Marx-Straße. Gestern haben wir zusammen mit einigen seiner Kollegen und deren Frauen bis in die Nacht hinein die aktuelle Lage und die Ereignisse der letzten Monate erörtert. Heute habe ich den Bürgermeister Gennadi Stepanowitsch getroffen, außerdem einige wichtige Geschäftsleute, die die Verpflegung der Soldaten organisieren.

Ich bin ja hier bekannt wie ein bunter Hund. Etwa 20.000 Menschen leben in dieser Siedlung. Wenn ich im Zentrum in meinem Stamm-Café ein Bierchen zische, grüßen und umarmen mich Menschen, an die ich mich kaum erinnern kann.
„Erinnerst du dich? Wir haben uns da und dort getroffen, ich bin doch der Schwager von Lena, der Kollege von Jura, wir waren vor drei Jahren zusammen fischen, wir haben in der Discothek gefeiert …“, so geht das immerzu.
Nun, ich genieße meine Privilegien. Es ist natürlich schwer, all die Gespräche kurz zusammenzufassen. In ausführlicherer Form werde ich das andernorts tun.

Kurz zu Alexej: Als Leutnant der Miliz bekommt er 2000 Griwna Sold, wie auch in den Jahren zuvor. Das sind jetzt noch umgerechnet 130 Euro. Als er und seine Kollegen in Charkiw die Regierungsgebäude vor den Separatisten schützen sollten, mussten sie das Benzin für den Bus selbst kaufen.
Wie hoch da die Motivation ist, Recht und Ordnung zu schützen, kann man sich leicht vorstellen. Dennoch steht außer Frage, dass sie alle für die Einheit der Ukraine sind.

Gestern war Alexej ein bisschen wütend. Er hätte heute einen freien Tag gehabt, bekam aber einen Anruf und die Anweisung, zur Arbeit zu erscheinen und zwei Verbrecher zu verhaften.
„Was haben sie getan?“, fragte ich ihn. „Sie haben im Suff auf zwei Männer mit dem Messer eingestochen und dann im Nachbarhaus auch noch jemanden bedroht.“ – „Und sie wurden nicht gleich verhaftet? Sie sind doch“ – naiver Deutscher – „gefährlich?“ – „Wir haben keine Leute!“
Alexej musste in den letzten Wochen immer wieder Kriegsdienst leisten und an den Kontrollposten Wache schieben. Vielleicht auch deshalb hat ihn seine Frau verlassen; sie haben das gemeinsame Haus verkauft, die Kinder leben bei ihm.

Einen der Geschäftsleute bei Gennadi Stepanowitsch habe ich gefragt, ob er noch Waren aus dem Donbass beziehe. „Ja! Sogar aus Slawjansk! Torten!“ – „Wie bitte, Torten?“ – Er bestelle und es werde pünktlich geliefert.
Für Außenstehende, für Zeugen des Sofas, ist es sicher nicht vorstellbar, wie gut die Stimmung bei diesem Gespräch war. Mindestens die Hälfte der Zeit wurde gelacht – vor allem über die idiotische russische Propaganda, darüber, dass alle Ukrainer „Banderowzi“, also irgendwie Faschisten, sein sollen.
Gennadi Stepanowitsch erzählte, er habe seinen Armeedienst in den 1980er Jahren im Ural geleistet. Dort seien das Lebensniveau und die Versorgung mit Nahrungsmitteln legendär schlecht gewesen – was mir nicht zum ersten Mal erzählt wurde. Russisches Hinterland eben. Immer, wenn man gehört habe, dass er aus der Ukraine komme, habe man ihm von dem guten Essen dort vorgeschwärmt, von der guten Wurst, den süßen Melonen.
Die Ukraine, das wurde mir in den letzten Jahren immer wieder erzählt, war die reichste der Sowjetrepubliken. Ob das nun stimmt oder nicht, ist gar nicht wichtig. Wichtig ist etwas anderes – dass auch damals schon Ukrainer sich als Ukrainer fühlten, Armenier als Armenier, Weißrussen als Weißrussen etc. Solche Gruppenbildung und Identitätssuche findet ja immer schon im Kleinen statt – die Schüler der Schule Nr.1 wollen besser Fußball spielen als die aus der Schule Nr. 2, die Jungs aus der Ural-Siedlung wollen beim Partisanenspiel schlauer sein als die Söhne der Bergarbeiter, die Männer aus dem Dorf 1.Mai bezeichnen die Bewohner des Dorfes Roter Oktober als Faulpelze, die Hooligans aus Charkiw wollen bessere Schläger sein als die aus Donezk, in Poltawa wollen sie reineres Ukrainisch sprechen als in Tscherkassy, und in den Kasernen der Roten Armee galten Ukrainer als die Geschäftstüchtigsten, die Moldawier als die fleißigsten Weintrinker, die Armenier als die besten Witze-Erzähler, die Weißrussen als die Bescheidensten, und die Russen fühlten sich wie eh und je als Weltenretter, als die Gebildetsten und Verantwortungsbewusstesten.
Die Behauptung, die Ukrainer seien eine junge Nation, zeugt nur von Ahnungslosigkeit.

Gennadi Stepanowitsch meinte auch, man solle den Donbass aufgeben, das sei ohnehin eine defizitäre Region. „Sollen sie dort doch sehen, wie sie die Renten bezahlen!“ Hier, im Oblast Charkiw, sei die Kriminalität viel geringer (das stimmt), die Menschen seien viel fleißiger, sie seien wahre Patrioten. Wieder: Identitätsbildung durch Abgrenzung.
Den Donbass aufzugeben, das sagt sich so leicht, in der Praxis ist es aber etwas schwieriger. Denn es stellt Millionen Menschen vor die Wahl, entweder ihre Heimat zu verlassen oder in einer Räuberrepublik zu leben.

Dieser Konflikt trennt Freunde und Verwandte, wie ich u.a. am Beispiel meines ehemaligen Freundes Vasja erleben musste. Wir haben uns nicht getroffen, nur mehrmals miteinander telefoniert. Direkt in den Donbass werde ich nicht radeln, dort ist das Entführungsgeschäft zu populär. Ich sei als Geisel eine Million Dollar wert, meinten Alexejs Kollegen.
Vasja faselte allerlei dummes Zeug – im Donbass finde ein Genozid statt, Jazeniuk sei ein Faschist, alle Bewohner von Novasilka seien Separatisten. „Deine Frau auch?“, fragte ich ihn. Sie habe eine andere Meinung, gestand er.
Nun, sie ist Lehrerin und ein bisschen gebildeter als er, der keinen Tag ohne Alkohol auskommt, der zuerst einen Kleinbus, dann ein Motorrad, dann ein Moped zu Schrott fuhr – und weiterhin als Kraftfahrer arbeiten konnte, sogar den Schulbus fahren durfte, nachdem er die Partei der Regionen gewählt hatte.
Sein (ehemaliger) Freund Serjosha ist allerdings auch nicht der Fraktion der Separatisten beigetreten. Er erinnerte mich an einen Streit, den ich vor einigen Jahren mit Vasja hatte. Vasja hatte erklärt, Hitler sei „kein schlechter Führer“ gewesen, ein besserer jedenfalls als Stalin. Daraufhin kündigte ich Vasja die Freundschaft und reiste ab. Mehrmals rief er mich daraufhin an und bat sogar weinend um Verzeihung. Ich ließ ihn lange im Ungewissen, Strafe muss sein.
Genozid im Donbass? „Euer Genozid heißt Alkoholismus“, antwortete ich ihm. Wenn er schon nicht in Afghanistan war, wie er immer behauptet, so kann er jetzt den Helden spielen. Ohnehin leidet er, nach Meinung seiner Frau, unter dem Napoleon-Syndrom, immer will er größer und heldenhafter sein, als er ist.

Was ist noch passiert? Ich war Gast bei einer Abiturfeier und bei einem Schweizer Bekannten, der mit seiner ukrainischen Frau als zufriedener Rentner in einem Dorf lebt. Außerdem habe ich einen ehemaligen Oberst der Roten Armee interviewt – und zum Trinken animiert, um seine Zunge zu lockern. Er diente nun wirklich in Afghanistan und konnte dies mit Fotos belegen. Meine Frage, wie viele Menschen er erschossen habe, gefiel ihm natürlich nicht. Doch auf einem Foto war er als „Held“ vor afghanischen Bergen abgebildet, mit einer Boden-Luft-Rakete auf der Schulter, da mag solche Frage erlaubt sein.
Dima Bandurist soll Soldat werden, er bekam einen Einberufungsbefehl. Ein anderer Bekannter hat seinem Dealer mit dem Messer den Hals aufgeschlitzt, die Narbe ist etwa zwanzig Zentimeter lang. Die Miliz nahm zwar ein Protokoll auf, aber der Dealer verzichtete auf eine Anzeige und bekam stattdessen 1500 Euro Schmerzensgeld.
Im Narko-Park von Poltawa wird wie immer Nacht für Nacht gekifft … die Jugend tanzt und trägt T-Shirts mit westlichen Symbolen, meistens mit US-amerikanischen. „Florida“ und „London“, „Coca Cola“ und „Real Madrid“ markieren den Kreis der Träume.
Je weiter man allerdings nach Osten kommt, desto mehr Autos sind mit ukrainischen Flaggen geschmückt, hier vor Slawjansk offenbar jedes zweite.
In diesem Sinne: Slava Ukraini!

PS: Karl Schloegel rettet die Ehre der deutschen Historiker, nicht nur in diesem Interview im Tagesanzeiger, sondern auch hier  beim RBB. Besonders wichtig ist diese Sätze: „Es gibt keine russische Minderheit, die in der Ukraine unterdrückt wird. Die Ukraine ist so bilingual wie kein anderes Land in Europa! Faschismus und Antisemitismus in der Ukraine – das ist eine Erfindung der russischen Propaganda, die an Volksverhetzung grenzt.“

Themen: Russland - Ukraine

4 Kommentare to “Torten aus Slawjansk”

  1. martin schreibt:
    7th.Juni 2014 um 13:36

    danke fürs lebenszeichen.gruss.ahoi.martin

  2. Honigdachs schreibt:
    7th.Juni 2014 um 15:34

    Ebenfalls herzlichen Dank fürs Lebenszeichen!

  3. Peter Heinrich Krone schreibt:
    10th.Juni 2014 um 16:54

    Weiter so, danke für die Berichte aus dem Leben!
    Ich würde mich freuen Dich einmal wieder zu sehen hier in der Ukraine, hoffentlich bald. LG Peter

  4. Honigdachs schreibt:
    10th.Juni 2014 um 18:19

    Privet, Peter! Verglichen mit dir bin ich doch ein Weichei! 70 (heute 30) km von der Front entfernt, was ist das schon. Natürlich können wir uns sehen, vielleicht in ca. 3-4 Wochen. So lange werde ich hier noch die Gegend erkunden. Bis dahin, Slava Ukraini!

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