Alltag im Krieg

Der Krieg ist nur eine Autostunde entfernt, aber in Blisnjuki sei alles ruhig, sagen die Einheimischen. Es wird Fußball gespielt, man trifft sich mit Freunden am Strand, doch manchmal kommen Flüchtlinge aus den umkämpften Städten im Donbass und berichten von schrecklichen Erlebnissen.

Andrej ist gestern zusammen mit seiner Familie im Auto aus Kramatorsk geflüchtet. Er besaß dort ein Geschäft für Baumaterialien und eine Eigentumswohnung – drei Zimmer, im vorigen Jahr für 20000 Dollar gekauft.
„Alles hatten wir“, sagt er, während wir in der Garage sitzen, weil es draußen regnet. Wie es weitergehen wird, weiß er nicht. Zunächst ist er bei Verwandten unterkommen. Sein Cousin Dima hat das Treffen mit ihm vermittelt.
Bis Mitte Mai habe er sein Geschäft noch betreiben können, erzählt Andrej. In Kramatorsk seien die Kämpfe noch heftiger als in Slawjansk – der Abstand zwischen beiden Städten beträgt nur 5 Kilometer. Mehrere Fabriken seien zerstört worden, darunter ein Autowerk und eine stillgelegte Uran-Fabrik aus sowjetischen Zeiten. Die Wasser- und Stromversorgung sei zusammengebrochen, ebenso das mobile Telefonnetz.

Als sein fünfjähriger Sohn gefragt habe, ob sie sterben werden, habe er sich zur Abreise entschlossen. Ihr neunstöckiges Wohnhaus habe unter dem Beschuss der Artillerie gewackelt wie ein Kartenhaus. Wer im Einzelnen auf wen schieße, das sei schwer zu entscheiden. Russische Militärs, Don-Kosaken, Tschetschenen, einheimische Abenteurer und die Insassen der Gefängnisse haben sich in Wohnhäuser einquartiert, getreu Putins Ratschlag, Zivilisten als menschliche „Schutzschilde“ zu benutzen. Die ukrainische Armee beschieße mit Haubitzen die Stadt.
Meistens beginnen die Kämpfe um drei, vier Uhr in der Nacht. Auf Anrufe bei der Nothilfe von Kijiw Star („gorjatshayaa linia“) werde geantwortet, die Stadt Kramatorsk existiere nicht mehr auf der ukrainischen Karte. „Zynismus“, sagt Andrej. Er zeigt Fotos, die er mit dem Handy gemacht hat – zerschossene Auto- und Kleinbusse vor dem zentralen Busbahnhof, zerschossene Kioske. Unter den Toten sei einer seiner Schulfreunde, der auf dem Bahnhof gearbeitet habe. Fünf der Opfer habe er persönlich gekannt.

Auf den Straßen sehe man mehr Militärs als Zivilisten, besonders viele junge Leute, die wegen der guten Bezahlung gegen die ukrainische Armee kämpften. Viele Einwohner können die Städte nicht verlassen, darunter zehntausende Kinder. Der Plan des Präsidenten Pjotr Poroschenko, einen Korridor für Flüchtlinge einzurichten, sei gänzlich unrealistisch. Mit wem sollte eine Waffenruhe vereinbart werden? Täglich kommen neue russische Soldaten und Militärkolonnen über die offene Grenze.
Andrej erwartet von der ukrainischen Regierung keine Hilfe, auch keine Entschädigung für das verlorene Eigentum. Jetzt will er erst einmal ins Fußball-Stadion gehen und sich ein wenig erholen.
Später sehe ich ihn im Stadion zusammen mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen unter den etwa zweihundert Zuschauern. Zwei Provinzmannschaften spielen gegeneinander, ich schaue mit die letzte halbe Stunde des Spiels an. Die eine Mannschaft trägt blaue, die andere gelbe Trikots. ZUsammen also die Farben der ukrainischen Nationalflagge.

Solche Zeichen sind in diesen Tagen wichtig. Geschäfte und Autos werden mit der Flagge geschmückt, fast jeder hier spricht sich für die Einheit der Ukraine aus. Vereinzelt gibt es andere Meinungen, so sagt ein Leutnant der Miliz, in Russland sei der Lebensstandard höher und auf der Krim seien Windeln billiger als hier. Seine Freundin Lena hat früher für die Partei der Regionen gearbeitet, in Folge der Majdan-Revolution hat sie ihre Arbeit verloren. In ihrem Schlafzimmer hängt am Schrank noch ein Aufkleber: „Keine Angst! Ich bin bei dir! Wiktor Janukowytsch“.
Ihre Muttersprache ist ukrainisch, russisch zu sprechen fällt ihr schwer. In einigen Tagen will sie zusammen mit ihrer Freundin auf die Krim reisen, um dort zu versuchen Arbeit zu bekommen. „Dort solltest du aber kein ukrainisch sprechen“, rate ich ihr.

Die Arbeitslosigkeit ist das größte Problem in der Region. In Lozowa, 25 Kilometer entfernt, haben die Arbeiter seit drei Monaten kein Geld mehr bekommen, weil die Aufträge aus Russland storniert wurden. Auch können die Züge schon seit einigen Wochen nicht mehr fahren, denn die übernächste Station wäre Slawjansk. Wegen der Inflation sind viele Renten nur noch umgerechnet 60 Euro wert, das reicht für die Bezahlung der kommunalen Gebühren, für Strom, Wasser und Gas, dann bleiben noch ein paar Kopeken übrig.

Präsident Poroschenko erhielt hier bei den Wahlen noch mehr Stimmen als im Landesdurchschnitt, berichtet der Bürgermeister Gennadi Stepanowitsch voller Stolz. Allerdings gibt es ein kleines Problem. Den Wahlhelfern waren Prämien in Höhe von umgerechnet acht Euro versprochen worden, doch der Wahlleiter hat das Geld für sich behalten. Korruption im Kleinen, die zumeist ergeben hingenommen wird. Nur Artjom, ein im Stadtmuseum angestellter Historiker, will einen kleinen Majdan organisieren, falls das Geld nicht wie versprochen ausgezahlt werde. Mit seiner Halbtagsstelle verdient er umgerechnet etwa 40 Euro, da wären ein paar Euro mehr durchaus willkommen.

Der einzige Mensch, der mir erzählt, es gehe ihm besser als je zuvor, ist Serjosha, den ich schon seit einigen Jahren kenne. Er hat in Kiew auf dem Bau gearbeitet, einmal protestierte er für Janukowytsch und die Partei der Regionen, weil es mit umgerechnet 10 Euro pro Tag entlohnt wurde. Eine Jugendsünde. Als Muttersprache gibt er surschyk an, das weit verbreitete Mischmasch aus ukrainisch und russisch.
In Kiew hat er vor allem gelernt, dass Qualitätsarbeit sich lohnt. Für seine Arbeiten gewährt er ein Jahr Garantie, so etwas hat man hier noch nie zuvor gehört. Er bekommt mehr als genug Aufträge, verkleidet Fassaden und setzt Fenster ein. Alle wollen evro-remont und evropaiskij standard, niemand wünscht russkij-remont oder russkij standard. Natürlich zahlt er keine Steuern und Verträge werden nur mündlich abgeschlossen. Er wäre bereit zwanzig Prozent Steuern zu zahlen, wenn ihm die Regierung eine vernünftige Arbeitslosenversicherung anbieten würde, sagt er.
Die politische Lage illustriert er mit einem Witz. Angela Merkel werde gefragt, mit welchen Fahrzeugen sie ins Ausland reise. Mit einem Mercedes, einem BMW oder einem Opel, erklärt sie. Der französische Präsident Hollande antwortet auf die gleiche Frage, mit einem Peugeot oder einem Renault. Und Wladimir Putin meint, er reise nicht ins Ausland. Aber wenn Sie fahren müssen, was benutzen Sie dann? Einen Panzer, antwortet der.

Erschien  am 05.07.2014 in den Nürnberger Nachrichten.

 

Themen: Russland - Ukraine

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