Ukraine – Russland – Deutschland

Vor mehr als zwei Jahren hat sich Russland die Krim einverleibt. Den Ukrainern wurde damit ihr schönstes Sanatorium geklaut, ihre Goldene Riviera. Doch der Schmerz über den vorläufigen Verlust schützt sie zumindest vor politischer Schizophrenie.
Auf meinen jahrelangen Fahrradtouren durch die Ukraine und durch Russland habe ich immer wieder die Erfahrung gemacht, dass es einige entscheidende Unterschiede zwischen den Bevölkerungen beider Ländern gibt. Zunächst gibt es in Russland mehr großmäulige Männer. Sie möchten gern wie Atlas die Erdkugel und das Schicksal der Menschheit auf den Schultern tragen. Ihr Land soll das stärkste der Welt sein, mindestens so stark wie die USA, obwohl die Wirtschaftskraft eher zu Vergleichen mit Italien oder Spanien mahnt. Manchmal heißt es, Russland könne Europa vor islamistischem Terror schützen, obwohl es selbst mit eben diesem Terror große Probleme hat, siehe Dagestan und Tschetschenien. Kneipensprüche wie der, nur in Russland sei noch reines „Ariertum“ anzutreffen, sind ebenfalls ziemlich populär. Man will den Kampf „gegen asiatische Horden“ führen und natürlich gewinnen. Und dass in Rom der Anti-Christ regiere, behauptete vor einigen Jahren schon die ehemalige Zeitung des kommunistischen Jugendverbandes „Komzomolskaja Prawda“. Wenn im russischen Fernsehen aber über weltweit übliche Penisgrößen diskutiert wird (Asiaten haben kleinere als Russen, Afrikaner die größten), so fällt das in die Rubrik Aufklärung.

Bekanntlich ist es eine alte russische Idee, die materielle Unterlegenheit gegenüber Westeuropa durch moralische Hochnäsigkeit auszugleichen, ob von Dostojewskij oder Lenin vertreten. Wobei die russische oder slawische Zivilisation der europäischen immer deshalb überlegen sein soll, weil sie angeblich freier von Egoismus ist, obwohl sie natürlich auch ihre Interessen durchsetzen möchte. Und der messianische Anspruch führte historisch betrachtet meistens zu jämmerlichen Ergebnissen.
Ukrainer wollen niemanden erziehen und unterwerfen, keine fremden Territorien erobern. Sie neigen dazu, Autoritäten zu verlachen, und die Anarchie als Preis für die Freiheit von staatlicher Gängelei zu akzeptieren. Der Freiheitsgedanke ist für die ukrainische Kultur der wichtigste, gespeist oft durch die kosakischen Traditionen. Wie es im Westen das Klischee vom Indianer als Freiheitskämpfer gibt, so in der Ukraine das vom gerechten Kosaken, dem freien, edlen Bürger. Besonders im Nordosten und in der zentralen Ukraine sind die Erinnerungen an die von Stalin verordnete Hungersnot ungemein präsent.
In Russland hingegen wird autoritäres Regieren oft verteidigt. „Wir brauchen einen Zaren, Russland muss mit der Knute regiert werden!“, das brüllten mir am Wolgaufer selbst die ersten Hippies und Rock´n´Roller in die Ohren. In der Ukraine habe ich meines Wissens auch nach dreißigtausend dort geradelten Kilometern solch einen Gedanken noch nie gehört.

Aus ukrainischer Sicht verhalten sich auch viele Deutsche schizophren. Das wurde mir klar, als mein Freund Oleg aus Poltawa zum ersten Mal nach Deutschland kam. Fast alle meine Freunde und Bekannten kritisierten in Gesprächen mit ihm „das System“ in Deutschland, das wirtschaftliche und das politische. Manche meinten es aktiv bekämpfen zu müssen, auf Demonstrationen oder mit dem Komponieren von Musik, obwohl sie aus Olegs Sicht in der besten aller möglichen Welten leben. In Gefängnissen soll man zwischen sieben Sorten Wurst und sieben Sorten Käse auswählen können!
Als ich ihm erzählte, dass laut einer Umfrage nur zwanzig Prozent der Deutschen breit wären, ihr Land gegen eine militärische Aggression zu verteidigen, meinte er, die anderen glaubten, sie könnten dann Urlaub in Thailand machen. Und wenn auf sie geschossen wird, werfen sie mit Kuchenkrümel.
Oleg meinte, egal, welche dumme Regierung ihn betrüge, die Ukraine sei immer noch sein Land, seine Heimat! Er könne sie doch nicht hassen, nur weil die Wirtschaft kapitalistisch oder was auch immer sei. Er kann auch nicht den Tod seiner Mitbürger und Freunde gleichgültig hinnehmen, weil Russlands geostrategische Interessen das verlangen. Und bevor er auf die USA schimpft, wünscht er sich lieber eine US-amerikanische Kamera.

Seltsame deutsche Öffentlichkeit, in der jedes Fußballspiel der Bundesliga genauer untersucht wird als Kriege und Revolutionen in der Nachbarschaft. „Die gegen Russland gerichtete US-Politik impliziert zugleich eine antideutsche und antieuropäische Stoßrichtung“, behauptet beispielsweise Thorsten Hinz in der Jungen Freiheit. Sicherlich versteht er kein Russisch, sonst könnte er wie ich  russische TV-Sendungen und Parlamentsreden sehen, in denen die Bombardierung Berlins und anderer europäischer Städte durch russisches Militär angedroht wird. Und diese erpresserische Politik soll „Europa eine der wenigen Chancen (bieten), die amerikanische Übermacht auszubalancieren“?
Während in Russland ständig vom Westen als Feind geredet wird, den es notfalls auch mit Atomwaffen zu vernichten gelte, betonen westliche Politiker, man wolle keinen (neuen Kalten) Krieg mit Russland. Niemand hat Russland militärisch gedroht. Doch die sanftere westliche Politik wird als aggressiv bezeichnet, die kriegerische russische als verständlich und mit Sonderinteressen erklärt.
Die These von der „Einkreisung Russlands“ durch die NATO als angebliches Ziel US-amerikanischer Politik verkennt tausende Tatsachen, wie beispielsweise die der privilegierten Partnerschaft mit Russland (NATO-Russland-Rat, G8). Von der Ukraine hingegen wurde erwartet, dass sie ihre Atomwaffen abgibt. Doch das Versprechen der USA, Großbritanniens und Russlands, als Gegenleistung die territorialen Integrität des Landes zu garantieren, war im entscheidenden Moment nichts wert. In Kiew witzelte man lange Zeit, es gebe zwei russische Botschaften, in einer werde Deutsch gesprochen. Übrigens wehte auch unter Janukowytsch die Flagge der EU vor dem Kiewer Außenministerium, wurde der Europatag als landesweites Kulturfest gefeiert und lautete eine Losung der Partei der Regionen während der Maidan-Revoltion: „Europa ja, Unordnung nein!“.

Meine ukrainischen Freunde verweisen gern auf einen Unterschied, wenn ich ihnen von der im Westen so populären Unterstellung erzähle, die USA hätten den „Umsturz in der Ukraine forciert“. Sie reagieren nicht beleidigt, obwohl man ihnen den eigenen Willen abspricht und ihnen unterstellt, sie hätten für ein paar Dollar und die Interessen einer fremden Macht ihr Leben riskiert. Und obwohl sie natürlich viel besser als die Zeugen des Sofas über die Ereignisse in ihrem Land informiert sind. Sie fragen nur: Die USA unterstützen Südkorea, Russland unterstützt Nordkorea, was ist ehrenwerter? Stammtischniveau, schon klar, aber nicht mehr Stammtisch als die Aussage, die US-Politik „impliziert zugleich eine antideutsche und antieuropäische Stoßrichtung“. Wenigstens hat in den letzten Jahrzehnten kein Politiker aus den USA mit der Bombardierung deutscher Städte gedroht.

Zu den Symptomen der politischen Schizophrenie gehört auch, „geopolitische Analysen“ zu fordern, ohne die dafür notwendigen Erfahrungen vorweisen zu können. In einem Theaterstück wäre ein Reporter, der die Lage im Land X beurteilt, ohne je in diesem Land gewesen zu sein und die dortigen Sprachen zu verstehen, eine lächerliche Figur. In Afrika ist es heiß, der Ukraine droht die Spaltung, da werden sich Russen und Ukrainer bekriegen, schon klar, wir müssen mal wieder Fieber messen.
Die Ukrainer spielen euch einen Streich und entscheiden selbst über ihr Schicksal, ihr Möchtegern-Großstrategen! Sie entfachen keinen Bürgerkrieg, nur weil in Kiew auf den Straßen mehrheitlich Russisch gesprochen wird (und die gleichen Menschen abends in ihren Familien Ukrainisch sprechen). Sie haben nämlich ziemlich konkrete Vorstellungen von ihrer Würde. Sie denken nicht in Machtkategorien und folgen keinen ideologischen Reflexen, sondern stellen sich einfache Fragen: Wo werde ich weniger betrogen, wo arbeitet die Polizei ehrlicher, wo ist das Gesundheitssystem humaner? Wo sind die Straßen und Autos besser, wo ist das Leben interessanter? In der einen Hemisphäre werden beinahe täglich sensationelle Entdeckungen gemacht und verblüffende Technologien entwickelt, ob Gravitationswellen oder selbstfahrende Autos. In der anderen Hemisphäre bezeichnet der Präsident das Internet als eine Erfindung der CIA, und die Teilnahme an nicht genehmigten Demonstrationen wird mit drei Jahren Lagerhaft bestraft.

Wieso „braucht Russland die Kontrolle über das Schwarze Meer“? Und warum kann es sich „den Zugang zum Mittelmeer“ nicht mit friedlichen Mitteln sichern, wie im Kapitalismus üblich durch die Bezahlung von Zöllen und Transitgebühren? Das wäre allemal billiger und deshalb viel eher im Interesse Russlands gewesen als der heimtückische, offiziell nicht erklärte Krieg gegen die kulturell und geschichtlich so nahen Ukrainer.
Im Westen hat man offenbar keine Vorstellung davon, wie lächerlich sich Russland seit zwei Jahren den Ukrainern darstellt, die schließlich keine Dolmetscher brauchen, um auch die feinsten Anspielungen zu verstehen. Die russischen Propagandalügen können sie leicht durchschauen, etwa die von der angeblichen Unterdrückung der russischen Sprache, welche bis zum heutigen Tag in der ukrainischen Armee und selbst in den nationalistischen Freiwilligenverbänden Befehlssprache ist.
Tatsächlich hat erst die Politik Putins die Ukrainer „in die Hände der NATO getrieben“, ein schönes Beispiel für das Versagen einer geopolitischen Analyse.

Die Entwicklung in der Ukraine ist auch ein Symbol für die Tragik Europas, dessen geistige, kulturelle und geografischen Umrisse sich stark voneinander unterscheiden. Der geografische Mittelpunkt Europas liegt bekanntlich in der Ukraine. Die kulturelle östliche Grenze verläuft aus chinesischer Sicht in Wladiwostok am Pazifischen Ozean – Architektur, Religion und Sprache gelten als europäisch. Der Geist Europas sollte eigentlich in der Schlussakte von Helsinki festgeschrieben sein. Denn Prinzipien wie die Achtung der Grundrechte und -freiheiten, des Schutzes vor willkürlicher Verhaftung, darf man durchaus als Fortschritt bezeichnen.

04/2016

Themen: Russland - Ukraine

2 Kommentare to “Ukraine – Russland – Deutschland”

  1. Thomas Paul schreibt:
    18th.November 2016 um 15:47

    Zugegeben, ich war noch nie in Russland und würde aus Gründen des Selbstschutzes dieses an und für sich schöne Land unter den derzeitigen Bedingungen nicht bereisen wollen. Dagegen, war ich bereits sieben Mal in der Ukraine und möchte liebend gern wieder die Freiheit des Steppenwindes spüren, die mir hier in Deutschland versagt bleibt. Bei aller Wertschätzung für die gewährte Existenzsicherung in meiner Heimat, bleibt doch ein bitterer Beigeschmack.

    „Härte und Hass sind die Gefährten des Todes!“, besagt ein antikes chinesisches Sprichwort. Die in Russland proklamierte sowie praktizierte Härte strahlt für mich keine Lebensfreude aus. Und betrachte ich mir z. B. die 1,53€ monatliche Bildung, wie sie den Beziehern der Grundsicherung in Deutschland von Regierung und höchstrichterlichen Robenträgern zugestanden werden, kann ich auch darin keine Menschenliebe erkennen.

    Der ukrainische Dichter Vasyl Symonenko (Василь Симоненко) hat den wahren Maßstab gesetzt:
    „… Бо на світі той наймудріший,
    Хто найдужче любить життя.“
    „… Denn in der Welt ist derjenige am weisesten,
    Der das Leben am meisten liebt.“

    Wie diese Weisheit gelebt werden kann, zeigen beispielsweise die Aktivitäten der in Zaporizhzhja ansässigen Stiftung „Glückliches Kind“. http://www.deti.zp.ua/de/index.php

  2. Honigdachs schreibt:
    18th.November 2016 um 17:27

    Schöner Kommentar, vielen Dank! In der Ukraine gehts gelassener und weniger fanatisch zu als in Russland. Danke auch für den Hinweis zu den Kindern in Zaporizhzhja.

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