Ukrainern muss man nicht erklären, was russische Spezialkräfte machen – eine Erinnerung an den Beginn des Krieges

Mein heutiger Gastkommentar in der Neuen Zürcher Zeitung
Noch Mitte Februar 2022 war sich die Welt uneins, ob es sich beim bedrohlichen russischen Truppenaufmarsch im Norden und im Osten der Ukraine um einen strategischen Bluff handelte oder nicht. Der Autor, der die Entwicklungen aus der Nähe miterlebte, erinnert sich.

Das Wort Krieg höre ich jeden Tag in drei Sprachen, in jeder tut es anders weh. In meiner ukrainischen Wahlheimat Poltawa höre ich es auf Russisch und auf Ukrainisch, vojna und vyina (война, війна). Nur ein Buchstabe Unterschied, aber doch eine andere Klangwelt. Das russische voyna klingt in meinen Ohren wie Imponiergehabe, grob, entschlossen, männlich, düster. Das ukrainische vyina klingt weicher, trauriger, fatalistischer, tränenreicher. In Deutschland habe ich keinen Krieg erlebt oder jahrelang befürchtet, deshalb klingt das deutsche Wort nur wie fernes Donnergrollen kurz vor einem Hagelschauer, grob, hart, aber irgendwo wird man Schutz suchen können. Offenbar typisch deutsch. Im Kriegsfall wollen die meisten Deutschen ja Urlaub im Ausland machen. Es gilt das Motto „Wenn das Land angegriffen wird, dann ist das nicht mein Krieg, ich bin ja nicht für die Fehler der Politik verantwortlich.“

Russlands Krieg gegen die Ukraine begann mit Worten wie voyna, mit Hass- und Hetzreden im russischen Fernsehen, lange vor Beginn der Großen Invasion. Jahrelang sah ich die bekanntesten Propaganda-Sendungen, um zu verstehen, was die Russen planen. Partei-Chefs, Abgeordnete der Duma, Generäle und Journalisten erklärten da in Endlosschleifen, warum Russland wahrscheinlich gezwungen sein wird, in die Ukraine einzumarschieren, in Kiew eine neue Regierung einzusetzen und die Ukrainisierung der letzten dreißig Jahre zu beenden. Zuerst sollte Russlands Luftwaffe die ukrainische Armee „ausschalten“ und wichtige Infrastruktur zerstören, wie Erdölraffinerien, Brücken und Elektrizitätswerke. Auch die Möglichkeit, ukrainische Kernkraftwerke und die dortigen Arbeiter in Geiselhaft zu nehmen, wurde im russischen Staatsfernsehen offen besprochen. Man verwendete natürlich nicht das Wort Geiselhaft, sondern redete von Schutz und Verantwortung, wie heute auch. Nach den Erfolgen der Luftwaffe sollten Bodentruppen einmarschieren, dann Spezialkräfte des Innenministeriums „das Nötige erledigen“.
Ukrainern muss man nicht erklären, was russische Spezialkräfte machen. Ihr offizieller Gründer ein Massenmörder, der von Putin sehr verehrte Feliks Dzierżyński (1877 – 1926). Lenins und Stalins erster „Henker“ gründete am 20. Dezember 1917 die bolschewistische Geheimpolizei Tscheka, und dieser Tag ist bis heute der Feiertag aller russischen Nachrichtendienste. Präsident Putin verfügte im Jahr 2014 auch, eine Elite-Einheit der Truppen des Innenministeriums wieder nach Feliks Dzierżyński zu benennen, die dann in Moskau zur Bekämpfung von Demonstranten eingesetzt wurde. Die DDR-Staatssicherheit sah sich ebenfalls in der Tradition Dzierżyńskis, ihre Mitarbeiter bezeichneten sich als Tschekisten.

Die russischen Spezialkräfte sollten nach dem russischen Sieg mindestens 1,5 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainern in „Filtrationslagern“ internieren und umerziehen. Abgeordnete, Bürgermeister, Angehörige des Militärs und der Freiwilligen-Bataillone, Aktivisten der Zivilgesellschaft, Lehrer, Journalisten.
Welche „Umerziehungsmaßnahmen“ die Russen in solchen Lagern praktizieren, darüber hatte unter anderem der ukrainische Journalist Stanislaw Assejew in seinem Buch „Isoljazija“ berichtet. Assejew war in dem gleichnamigen Gefängnis im besetzten Donezk mehr als zwei Jahre inhaftiert gewesen, weil er Berichte für ukrainische Medien geschrieben hatte, Ende 2019 wurde er freigelassen. Im Monat darauf erzählte er vor dem Europarat über die unmenschliche Behandlung der Gefangenen.
„Am berüch­tigts­ten ist das Isol­ja­zija-Gefäng­nis für seine beson­ders grau­same phy­si­sche Folter, die bei Gefan­ge­nen jeden Alters und Geschlechts ange­wandt wird. Das häu­figste Fol­ter­in­stru­ment ist Elek­tri­zi­tät. Neu ange­kom­mene Häft­linge werden in einen Fol­ter­kel­ler geführt, nackt aus­ge­zo­gen, an einen Metall­tisch geket­tet und mit zwei Drähten eines mili­tä­ri­schen Feld­te­le­fons ver­bun­den. Dann wird Wasser über die Person gegos­sen und elek­tri­scher Strom frei­ge­setzt. Unter den Häft­lin­gen des Kon­zen­tra­ti­ons­la­gers gilt man als Glücks­pilz, wenn die Drähte an Fingern oder Ohren fest­ge­bun­den sind. Häu­fi­ger wird ein Draht mit den Geni­ta­lien ver­bun­den und der zweite in den After eingeführt.“1

Die meisten meiner ukrainischen Freunde und Bekannten hielten die Kriegsdrohungen aus Moskau für Bluff, genauso wie viele der wenigen Beobachter im Westen, einschließlich der meisten Nachrichtendienste. Zu oft schon hatten die Russen gedroht und es bei den Drohungen belassen. Bereits 2014 hatte Putin sich vom Förderationsrat Russlands das Recht erteilen lassen, die russische Armee in der Ukraine einzusetzen.
Gegen das Bluffen sprachen meines E

rachtens die jahrelangen militärischen Vorbereitungen, der Bau neuer Eisenbahnlinien, das Anlegens von Blutkonserven in der Nähe der Grenzen, aber auch die anschwellende Heftigkeit und Detailliertheit der Drohungen. Sogar die Zahl der ukrainischen Kriegsverletzten wurde in russländischen Talk-Shows schon erörtert. Denen müsste man ja nach unausweichlichen Sieg und einer „Vereinigung“ mit Russland ja Rente zahlen, ob das die Rentenkassen in Russland nicht zu stark belasten wird.
Die militärische „Befreiungsaktion“ gegen das Nachbarland großmäulig immer wieder anzukündigen und dann doch nicht zu beginnen, das ermüdete das russische Fernsehpublikum auf Dauer. Putin und seine Propagandisten hätten sich nur selbst geschwächt, hätten sie es bei bösen Worten belassen.

Der Invasion kam also nicht plötzlich, nicht über Nacht. Ein Freund rief mich am Morgen des 24. Februar 2022 an und sagte nur „Es beginnt“. Eder verstand an diesem Tag, was das bedeutete. Wir hatten unser Notfallgepäck schon einige Wochen zuvor vorbereitet, wie ich am 29.01.2022 im Magazin der Neuen Zürcher Zeitung berichtete.2
Ich machte mir keine Illusionen über die Kriegsgefahr, wir hatten sie mit Freunden zu oft analysiert. Die Grenze zu Russland ist von Poltawa nur zwei Panzerstunden entfernt, und Raketen fliegen schneller als man sehen kann. Wir befürchteten als Erstes, dass russische Truppen von Norden her unsere Stadt angreifen werden. Das versuchten sie dann auch, aber etwa 60 Kilometer vor Poltawa konnten sie gestoppt und ihre Panzer zu Klump geschossen werden. Glücklicherweise funktionierte das Internet. Seinen Ausfall hatten wir vor der Invasion ebenfalls befürchtet. Ohne gesicherte Informationen kann es leichter zu Panik kommen.

Mit Freunden hatte ich auch besprochen, was ich im Falle eines Einmarschs der Russen tun sollte. „Es ist ja nicht dein Krieg“, meinte Vitja, ein Panzerkommandant. Aber konnte ich Freunde in der Not im Stich lassen? Wie hätte ich dann je wieder zurückkommen können? Als es gefährlich war bist du weggegangen, dass wollte ich mir nicht sagen lassen.
Gehen oder bleiben, schießen oder schreiben, so formulierte ich flapsig meine Alternativen. Mein wildes Blut wollte, dass ich mir eine Kalaschnikow hole und diese Stadt, meine Familie und meine Freunde verteidige. Wenn auf mich geschossen wird, schieße ich zurück. Oder besser: Bevor auf mich geschossen wird, schieße ich. Das ist mein gutes Recht, denn ich will leben. Pazifismus ist nur moralisch geboten, wenn zwei verbrecherische Subjekte einander bekämpfen. Das ist hier nicht der Fall.
Am Wichtigsten war mir, das Leben meines Sohnes zu schützen. „Papa, ich möchte dort leben, wo uns die Russen nicht erschießen können“, hat er mich gebeten. Meinen Sohn wird Putin nicht kriegen, hatte ich schon im April 2019 im NZZ-Magazin geschrieben.
Wir redeten in unserer Familie mehr Russisch als Ukrainisch, wie die meisten unserer Freunde (das hat sich inzwischen geändert). Aber niemand wollte von Russen befreit werden. Niemand hatte den Russen verziehen, dass sie die Krim geklaut hatten und aus dem freiesten Ort der Ukraine ein Militärlager gemacht hatten. Früher konnte man dort wild zelten und kiffen und beim Jazz-Festival Koktebel eine Woche lang am Strand tanzen, jetzt drohten von dort Raketenangriffe. Aber die Russen glaubten allen Ernstes, man werde sie hier mit Blumen und Brot und Salz begrüßen? Die Bezeichnung Brudervolk war für die meisten Ukrainer schon seit 2014 die schlimmste Beleidigung, noch schlimmer als „Dill“, wie sie sonst von Russen abwertend genannt werden.

Hunderte Freiwillige bereiteten die Verteidigung unserer Stadt vor. Panzersperren wurden errichtet, Molotow-Cocktails vorbereitet, die man jetzt trotzig Bandera-Smoothie nennt. Wer halbwegs geradeaus laufen konnte meldete sich als freiwilliger Helfer oder zum Dienst bei der Armee. Im Moment großer Not zeigte sich mal wieder die Fähigkeit der Ukrainer zur Selbstorganisation, womit sie sich von Russen enorm unterscheiden. Je länger der Krieg dauert, desto besser sieht man ja die Unterschiede in ihrem Verhalten. Ukrainer beschießen ausschließlich militärische Ziele, Russen vor allem zivile. Ukrainer behandeln Kriegsgefangene korrekt entsprechend den Genfer Konventionen, Russen foltern und ermorden auch Zivilisten.

Am 24. Februar 2022 sah man auf den Straßen sofort, dass etwas Furchtbares passiert sein muss. Wenn überhaupt, dann sprechen die Menschen leise. Vor Lebensmittelgeschäften, Apotheken und Geldautomaten waren lange Warteschlangen. Die meisten Geschäfte waren jedoch geschlossen. Im Stadtzentrum hat ein einziges Restaurant geöffnet, im Keller eines alten Hauses mit dicken Mauern. Meine Freunde bestellten Bier und Schnaps. Ich wollte keinen Alkohol trinken, nicht die Kontrolle über meine Gefühle verlieren. Bauchschmerzen hatte ich sowieso. Ich war hungrig, aber wollte nichts essen. Eine Hühnersuppe quälte ich mir rein. Mehrere Fernseher zeigten die Luftangriffe der Russen auf mehrere ukrainische Städte, sog

ar auf einen Flughafen in Iwano-Frankiwsk weit im Westen des Landes. Angriffe mit Panzern und Hubschraubern. Das im russischen Fernsehen oft erklärte Szenario, Angriffe von allen Seiten, Beschuss von Städten, Panik erzeugen. Die ersten Toten und die ersten Kriegsgefangenen. Ein russischer Soldat erzählt, er habe gar nicht gewusst, dass er schießen solle. Er dachte, sie sollten nur Informationen sammeln.

Nicht eine Sekunde lange glaubte ich, dass Putin seine Kriegsziele erreichen und die Russen die gesamte Ukraine einnehmen können, noch dazu in kurzer Zeit. Ich war in allen Regionen mit dem Fahrrad gewesen und hatte überall Gespräche über Politik geführt. Selbst wenn manche Ukrainer Putin-Russland irgendwie sympathisch fanden, so waren das doch nur verbale Bekundungen, die nichts kosteten und keinerlei praktische Konsequenzen hatten. Wenn auf sie und ihre Häuser und Autos geschossen wird, werden sie die schießenden „Brüder“ nicht mit Hurra-Geschrei begrüßen. Sondern weglaufen oder sich verteidigen. So konnte alle Welt vom ersten Kriegstag an sehen, dass die ukrainische Bevölkerung einiger ist als oft behauptet worden war – einig in dem Wunsch, friedlich im eigenen Land zu leben wollen. Freiheit ist für Ukrainer etwas unendlich Kostbares. Mag das Staatswesen auch nicht immer perfekt sein, aber es ist doch besser als alle, welche die Ukrainer jahrhundertelang hatten.
Ich entschied in Poltawa zu bleiben, nachdem mein Sohn und meine Frau nach Berlin ausreisen konnten. Schießen musste ich bisher nicht. Die Russen haben es nicht geschafft, unsere Stadt mit Bodentruppen anzugreifen, nur einige Male mit Raketen. In Poltawa möchte ich auch den Tag des Sieges feiern. Vielleicht noch in diesem Jahr.

Das Donez­ker Fol­ter­ge­fäng­nis „Isol­ja­zija“

https://magazin.nzz.ch/international/ukraine-tagebuch-unser-fluchtgepaeck-haben-wir-vorbereitet-ld.1667184

Themen: Russland - Ukraine

2 Kommentare to “Ukrainern muss man nicht erklären, was russische Spezialkräfte machen – eine Erinnerung an den Beginn des Krieges”

  1. Robert Schmidt schreibt:
    24th.März 2023 um 23:31

    112. Grund

    Weil Sie dort leben und mir berichten, wie schön dieses Land ist. Will mir Fahrrad, Frau und Kind nehmen und von Berlin nach Osten radeln.
    Alles Gute für Ihre Familie und alle anderen Menschen in der Ukraine.

    Grüße aus Berlin

  2. Honigdachs schreibt:
    25th.März 2023 um 07:45

    Freut mich! Viel Glück und viel Spaß!

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