Das Gewissen und das Grauen, Tagebuch

Gestern bin ich heimgekehrt ins immer schöner werdende Poltawa. Dann haben wir meinen „zweiten Geburtstag“ mit Freunden gefeiert. Aufgabe erfüllt, würde ich sagen. Wichtige, tapfere Menschen getroffen und bei der Arbeit zugesehen, Erfahrungen und Informationen gesammelt, einen langjährigen Freund umarmt. Vielleicht ist kein Detail spektakulär, aber das Ganze lässt doch den Schluss zu: Ich habe das Grauen gesehen. Und dazu bin ich m.E. aus beruflichen Gründen verpflichtet.

Es war mir schon lange peinlich, dass wir hier in Poltawa in relativer Ruhe leben können. Wie muss es da erst den Ukrainerinnen und Ukrainern ergehen, die jetzt im Ausland leben. Sie würden ja auch gern helfen und sehr viele tun das von dort aus auch. Und doch werden sie Anflüge von schlechtem Gewissen erleben, nicht „dabei zu sein“, „bloß zuzugucken“.
Dort an der Front hat man oft den Eindruck, dass etwas Irreales passiert. Beeindruckend und für einen Unbeteiligten wie mich kaum zu verstehen ist bspw., wie entspannt die Kämpfer zwischen ihren stets lebensgefährlichen Einsätzen wirken! Und was da alles durch die Luft fliegt, Drohnen, Raketen, Artilleriegeschosse. Himars haben wir auch gesehen, fahrende und die Spuren ihrer Geschosse am Himmel. Ich war erstaunt, wie „bescheiden“ diese Fahrzeuge auf der Straße aussehen. Man sieht ja keine Raketen, nur einen Kasten. Wenn draußen Eisreklame draufgeklebt wäre, würde man dem Auto fröhlich zuwinken.
Aber ich habe jetzt verstanden, warum Krieg auch süchtig machen kann. Nicht, weil man leichtsinnig wird und auch nicht süchtig nach der Gefahr, sondern um das Glück des Überlebens zu genießen. Jeder Tag, den man überlebt, ist ein Sieg und Triumph über den Feind, der einen töten will.

Gestern Abend erzählte mir ein Freund die schreckliche Nachricht, dass ЮЛІАН МАТВІЙЧУК am Morgen seinen Verletzungen erlegen ist.
Ich hielt ihn für unsterblich, im buchstäblichen Sinne, nicht nur im metaphorischen. Schon zu Lebzeiten war er eine Legende. Wo es am Gefährlichsten war, da kämpfte Julian, im Krieg genauso wie bei der Verteidigung der bürgerlichen Rechte in Poltawa. Schon aus den 2014-15 Schlachten im Donbass gibt es Geschichten über ihn, die einen einfach nur staunen lassen. Er war ein grundgütiger, freundlicher Mensch, wie man auf diesem Foto ganz gut erkennt. Ein aufrechter Demokrat und fortschrittlicher Nationalist. Als Abgeordneter kämpfte er gegen Korruption, aber stets mit sachlichen Argumenten und klugen Strategien. Die Heißsporne bremste er, mahnte zu Geduld und zur Einhaltung der demokratischen Regeln. (Würden die Deutschen ihre eigene Geschichte besser kennen, würden sie bei der Bezeichnung Nationalist nicht zusammenzucken und mit den Zähnen knirschen.)
Es ist so traurig, dass er gegangen ist, dass ihn die Raschisten töteten. Er hinterlässt eine Leere, die mit nichts gefüllt werden kann. Helden sterben nie, ja, er wird in vielen Geschichten und in den Herzen seiner Familie und Freunde weiterleben. Wir werden erst nach dem Krieg weinen, sagte mir gestern der Freund, der mir die Nachricht erzählt hatte. Nun, zur Trauerfeier werden wir auch weinen, aber dann müssen wir weiterkämpfen.

Ich bin in Charkiw und offenbar im Hamlet-Viertel von Gamlet Zinkivskyi „gelandet“. Sein oder Nichtsein, immer wieder eine aktuelle Frage. Morgen fahre ich weiter in südöstliche Gefilde, dorthin, wo man noch häufiger Bumm-Bumm hört als hier.
Letzte Nacht war eine historisch bedeutsame, das haben sicherlich alle mitgekriegt. Putlers angebliche „Wunderwaffe“ – Hyperschall-Rakete wurde dank ukrainischem Mut und westlicher Technik entzaubert. Das hat nicht nur die Russen geschockt, sondern ganz sicher auch in Peking für Entsetzen gesorgt. So einfach wird es wohl doch nicht, Taiwan sich einzuverleiben. Sein oder Nichtsein – ein Sieg für das Sein. Ukraine ist seit 2014 Avantgarde, hier verläuft die Frontlinie der menschlichen Entwicklung.
In Deutschland – so entnehme ich der Presse – kann man weiterhin Geld mit radikal-pazifistischem Unsinn verdienen. Die besten Medien – FAZ, Deutschlandfunk – geben sich heute dafür her. Warum haben die deutschen Pazifisten eigentlich noch nicht gefordert, die deutschen Polizisten zu entwaffnen? Wenn Waffen immer töten, könnten deutsche Polizisten doch Geiselnehmer und Terroristen mit Gebeten „in den Schlaf wiegen“ oder sie vom Töten abhalten indem sie ihnen Regenbogen auf die Stirnen malen?

Themen: Russland - Ukraine

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