Die Banalität des Bösen

Ihr Mann tötet ihre Verwandten, die Frau aus Russland ist deshalb auch traurig, aber sie kann nichts dagegen machen.
Ein Phänomen, das mich seit langem fasziniert – die Gespräche zwischen Ukrainern und Russen im Chatroulette. Verwandtschaftliche und freundschaftliche Beziehungen wurden in den Kriegsjahren zwar millionenfach beendet, aber im Chatroulette diskutieren Menschen aus beiden Ländern weiterhin, auch vor großem Publikum und über die heikelsten Fragen. Will man wissen, „was die Russen wirklich denken“, so muss man hier nur zuhören und zusehen.

In der Ukraine sind diese Sendungen ungemein populär, sie bieten reichlich Material für Verhaltensstudien. Für die Neue Zürcher Zeitung habe ich darüber einen Artikel geschrieben, er wird am Sonntag in der NZZ am Sonntag erscheinen.

Man erhält gruslige Einblicke in die „russische Seele“ bei solchen Gesprächen im Chatroulette. Die im Westen oft gehörte Behauptung „Wir wissen nicht, was die Russen denken, weil dort ja keine unabhängigen Umfragen möglich sind“, ist m.E. falsch. Man kann das schon wissen und sehen, jeden Tag und jede Nacht, live und in Farbe, Aufzeichnungen und thematische Sendungen.

Hier ein ziemlich typisches Beispiel. Eine junge Russin spricht mit dem ukrainischen Blogger Sergej Kraianyn. Sie weint und zerfließt in Selbstmitleid, denn einige ihrer Leute sind schon in der Ukraine gestorben und ihr Mann kämpft auch dort.
Leicht gekürzt.
Russin:
„Dort (in der Ukraine) sind meine Wurzeln. Wir wollen nicht kämpfen, wir wollen auch Frieden, unsere Männer, unsere Brüder. Aber wir können nichts machen. Uns sagt man, an unserer Grenze ist eine Gefahr (Bedrohung), deshalb sind wir zu euch gekommen. Ich möchte das nicht, das Herz und die Seele tun mir weh. Uns sagt man, wir müssen uns verteidigen vor der Gefahr. Mein Mann ist Vertragssoldat (!), er ist dort (in der Ukraine). So viele meiner Leute sind dort schon gestorben, und auf eurer Seite auch. Aber meine Wurzeln (Vorfahren) sind von dort, ich bin selbst (eigentlich) von dort.“
Kraianyn: „Aber wofür sind Eure Leute hier gestorben?“
Russin: „Für nichts.“
Kraianyn: „Und wenn beschuldigen Sie deshalb? Wer ist schuld?“
Sie seufzt, blickt an die Decke.
Kraianyn: „Es ist eine ernste Frage, sowieso gibt es doch schuldige Leute. Wen beschuldigen Sie deshalb?
Russin: „Die Regierung.“
Kraianyn: „Wessen?“
Russin: „Unsere Regierung.“
Kraianyn: „Ihre. Wunderbar. Wenn Sie wissen wer schuld ist, dann denken Sie darüber nach, was Sie (mit dieser Erkenntnis) machen.“
Russin: „Und Sie wollen das alles nicht. Ich weiß, so viele bei euch …
„Wir wollen das bestimmt nicht. Denken Sie es gibt Leute, die wollen, dass jemand auf ihr Terrotorium mommt und sie tötet?“
Russin: „Wir haben am 9. Mai ein Fest, Tag des Sieges. Er war immer und wir danken unseren Großvätern und euren auch .. Ich verstehe nicht, was passiert, ich verstehe es nicht, ich bin krank deshalb.“
Kraianyn: „Ich kann es Ihnen erklären, was passiert. Ihr Präsident ist verrückt geworden und drückt eurer Land in den Abgrund.“
Russin: „Aber eurer Präsident, eurer Präsident, Entschldige bitte, mein Mann, bitte …“
Kraianyn: „Unser verteidigt sein Land. Unser Land verteidigt sich, das macht er, oder greift er an oder was?“
Russin trinkt etwas, atmet durch.
„Wir verteidigen uns …“
Russin: „Gott sei Dank leben wir ruhig. Aber ehrlich, ich sorge mich sehr wegen euch. Dort sind auch meine Nächsten.
Kraianyn: „Wer tut ihnen leid? Ihre Nächsten in der Ukraine oder die mit Waffen in die Ukraine kommen, Ihr Mann und Ihre Freunde?“
Russin: „Mir tun alle leid. Die Verwandten sprechen nicht mit uns.“
Kraianyn: „Warum sollen Sie mit ihnen sprechen, wenn Sie ihren Mann losschicken, Ihre Verwandten zu töten? Sie verstehen, was Sie da tun?“
Russin: „Ich habe nichts gemacht.“
Kraianyn: „Nichts gemacht? Ihr Mann ging Ihre Verwandten zu töten.“
Russin: „Er ist Vertragssoldat, das ist der Dienst.“
Kraianyn: „Erklären Sie das Ihren Verwandten. Sagen Sie ihnen, Sie sind nicht schuld, Ihr Mann hat diesen Dienst. Er muss sie töten.“
Russin: „Ja, mein Guter, machen Sie sich ruhig über mich lustig.“
Kraianyn: „Sie erklären, Ihr Mann hat einen Vertrag, er geht Verwandte töten. Verstehen Sie das oder verstehen Sie das nicht?“
Russin: „Sie üben psychischen Druck auf mich aus.“ Sagt sie und beendet das Gespräch.

Link im Kommentar.

Themen: Russland - Ukraine

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