Über einen erstaunlichen Unterschied

„Ein Freund fragt: Vermisst du etwas aus der DDR?
Das Zweifeln, antworte ich. Das Zweifeln an den Dogmen, an den herrschenden Meinungen, an der Zukunft und der Vergangenheit, wie sie in den Lehrbüchern prognostiziert wurde.“ Ohne Zweifel konnte man kaum überleben. Hätte man die Dogmen des Zeitgeistes, des Marxismus-Leninismus, immer für bare Münze genommen, so wäre man als vernunftbegabter Mensch verrückt oder aus Langeweile depressiv geworden.
Deshalb waren so viele Offiziere und Staatsdiener Alkoholiker. Siehe bspw. Werner Stillers Berichte über die Saufkultur beim Stasi. Wäre das Wort nicht verpönt, müsste man sie menschliche Krüppel nennen. Einer von ihnen war mein Bruder, eigentlich ein hochbegabter Mensch, in Mathe und Schach beinahe unschlagbar, aber nachdem er Offizier wurde fing er an zu saufen. Das zum Matrosen geborene Kind lernt zwar schwimmen, aber nur in einer Pfütze, wie Franz Kafka schrieb.
Das Zweifeln lernten die etwas Klügeren schon deshalb, weil die Erfolgsmeldungen der Propaganda verhöhnt wurden durch die sinnlich erfassbare Wirklichkeit. Kein Senf in Senftenberg, Jeans nur in Berlin, Ferienplätze an der Ostsee oder im sozialistischen Ausland nur bei Wohlverhalten, das sorgte ständig für Unruhe unter der Arbeiterklasse.
Wichtiger Unterschied zu heute: In der DDR war es möglich, die Gesellschaft als Ganzes zu begreifen, weil es eine Zwangsgemeinschaft war. Es war (mir) möglich, ihr Ende vorherzusagen und ihr Scheitern zu begründen.

Was mich heute, nach mehr als 30 Jahren in freien Gesellschaften, immer wieder wundert, ist, wie selten der Zweifel geworden ist. Allerorten Glaubenskämpfe, Überzeugungen, alte und neue Dogmen, Schaumschlägerei und unendlich viele Meinungen, ohne dass jemand mal erwähnt, dass Meinungen nur sprachliche Gefühle sind und vom Wissen unendlich weit entfernt. Das ist es, was ich vermisse, das Wissen über die eigene Unwissenheit, in der Politik wie an den (virtuellen) Stammtischen, den „Talk-Shows“.

Warum westliche Gesellschaften ungeheuer komisch sind und ihre eigene Tragik nicht erkennen (können). Warum lernen die Menschen im Westen nicht, über sich selbst zu lachen. Ein bemerkenswerter Unterschied zur Ukraine, wo der Sinn für Komik ja Volkssport ist.
1. Notwendig falsches Bewusstsein in der DDR
In marxistisch-leninistischen Diktaturen wurden die Menschen gequält und quälten sie sich selber mit angeblich objektiven Wahrheiten. Die Menschheit entwickelte sich laut kommunistischer Lehre mit „objektiver Gesetzmäßigkeit“ vom Niederen zum Höheren und zwangsläufig hin zum Kommunismus, einer angeblich absolut gerechten Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung. Die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte, also der einzelnen Menschen, galt nur als „subjektiver Faktor“. Auch ein blutrünstiger Alleinherrscher wie Josef Stalin konnte den „Siegeszug zum Kommunismus“ demnach nicht aufhalten, sondern allenfalls mit Millionen unschuldiger Opfer für eine historisch kurze Zeit „in die falsche Richtung“ führen. Es galt als wissenschaftlich erwiesen, dass im Sozialismus gesellschaftliche Widersprüche rechtzeitig, bewusst und planmäßig gelöst werden können, während im Kapitalismus, auch wenn er sich soziale Marktwirtschaft nannte, angeblich unüberbrückbare Widersprüche zum unaufhörlichen gesellschaftlichen Niedergang führten. Mit dem Fall der Mauer endete (auf deutschem Boden) die Diktatur der abstrakten Floskeln und die angebliche „Allmächtigkeit objektiver Notwendigkeiten“. Die Menschen aus dem Ostblock konnten „in der Wahrheit leben“, wie der spätere Präsident der Tschechoslowakei Václav Havel es formuliert hatte und mit ihm Millionen Menschen erträumt hatten.

Die komischen Selbsttäuschungen im Westen
Im freien Westen sind nicht nur die Gedanken frei, wie in Diktaturen, es herrscht auch die Freiheit der Rede, der Medien, der Wissenschaft, der Kultur und der Kunst, des Glaubens und des Reisens. Nichts und niemand zwingt die Menschen zum Lügen und zu Selbsttäuschungen. Brillantes Wissen ist in unübersehbarer Fülle frei verfügbar, zumal in Zeiten des Internets. Man wird nicht in Straflagern interniert oder per Genickschuss „ausgelöscht“, wenn man den politischen Dogmen, Floskeln, Metaphern, Mythen in Politik und Medien, an Stammtischen und in wissenschaftlichen Instituten, nicht zustimmt.

Desto überraschter war ich nach dem Fall der Mauer als Neuankömmling in dieser offenen und freien Gesellschaft über die weitverbreitete Überzeugung, dass es überhaupt keine allgemeingültigen Wahrheiten gibt, keine objektiv gegebenen Tatsachen. Unterschiede zwischen Gut und Böse seien letztlich nur eine Frage der Perspektive oder durch eigene enge Perspektiven begrenzt. Alle Urteile sind nur Konstrukte, sie könnten auch anders konstruiert sein.

Die Postmoderne habe das bewiesen (wissenschaftlich !!!).
Der Regen fällt also nicht vom Himmel, sondern kann vielleicht auch aus der Erde springen. Es herrscht ja Meinungsfreiheit, alles ist Geschmackssache, in einer demokratischen Gesellschaft ist jede Stimme gleichwertig. Alles sei letztlich subjektiv, konstruiert, so der mündliche Gesellschaftsvertrag im Westen, in einer vorgeblich aufgeklärten und kritischen Öffentlichkeit.

Immanuel Kant würde sich wohl im Grab umdrehen, wenn er das hören könnte. Da hat er nun Jahrzehnte geschuftet, um die Urteilskräfte des Menschen zu erkennen und darzustellen, um qualitative Unterschiede zwischen Gefühlen, Eindrücken, Geschmacksurteilen, Vorurteilen, Urteilen des Verstandes, empirisch überprüfbaren Erkenntnissen, Nutzen und Gefahren abstrakter Formeln herauszuarbeiten, aber gebracht hat es wenig.
Wie zu allen Zeiten lieben auch die modernen Menschen Mythen und Märchen, fantastische, irreale Geschichten, Lügen im moralischen Sinne. Ohne sie könnten sie im Alltag gar nicht bestehen, würden sie in der Fülle der Informationen ertrinken.

Sowohl die Befürworter und Verteidiger der parlamentarischen Demokratie als auch ihre zynischsten Kritiker und Gegner teilen einige folgenreiche Grundüberzeugungen wie etwa die, dass Geschichte von Menschen „gemacht“ werde. Alles Mögliche gilt als veränderbar, „Fehlentwicklungen“ werden als Resultat falschen Handelns bewertet, am liebsten falscher Entscheidungen der Politiker. Gesellschaftliche Entwicklungen und Konflikte werden selten als etwas objektiv Gegebenes und sich Entwickelndes betrachtet, sondern in der Regel subjektiviert und personalisiert. Zwänge und Widersprüche, in denen politische Subjekte keine andere Wahl haben als blind oder gar selbstzerstörerisch zu handeln, werden kaum je in Betracht gezogen und erforscht.
Der Bundeskanzler ist ja keine Figur aus einem Drama von William Shakespeare, es soll Konflikte lösen, nicht darstellen.

Diese populären Erzählungen über die Machbarkeit setzen allerdings den Anspruch oder sogar die Überzeugung voraus, dass die Gesellschaft als Ganzes ein einigermaßen zutreffendes, der Gefahrenlage angemessenes (Problem-)Bewusstsein von sich selbst haben kann, d.h. mindestens die wichtigsten „Entscheidungsträger“, die Regierung, die Parlamentarier, die Ministerpräsidenten der Länder, die Präsidenten der Akademien der Künste und der Wissenschaften, die Vorsitzenden der Gewerkschaften und der Sportverbände, die Chefredakteure in den Nachrichtenstudios und politischen Talk-Shows.
Wobei Bewusstsein gern mit Wissen und Meinungen gern mit Erkenntnissen verwechselt werden. Dabei sind Meinungen mit Vermutungen verwandt und sollten deshalb besser als Fragen formuliert werden, nicht in fanatischer Überzeugung.
Die freie marktwirtschaftliche Gesellschaft setzt dem Wissen eigentlich keine Schranken, das Bewusstsein aber hat objektiv gegebene. Denn die Wirklichkeit hat bekanntlich die Eigenschaft, unendlich zu sein; unüberschaubar sowohl für einzelne menschliche Subjekte, als auch für die besten wissenschaftlichen Institute, Ministerien, Regierungen, Geheimdienste, UNO-Organisationen. Und zwar schon allein deshalb, weil sie ständig neue Wirklichkeiten erzeugt. Ein Mensch, so sagt man, empfängt pro Sekunde etwa elf Millionen Informationen, wovon er etwa vierzig mit allen Sinnen erfassen und wahrnehmen kann. Der übergroße Rest verschwindet in einer Blackbox. Für die gesamte Menschheit potenziert sich die Blindheit gegenüber dem eigenen Dasein objektiv gesehen ins Unendliche.

Aktuelle Konsequenzen
Wie fatal sich die Subjektivierung und Personalisierung objektiver Zwänge und Widersprüche auswirken kann, das sieht man beispielhaft an der gefährlich naiven, von Meinungen, Stimmungen und Wünschen geprägten deutschen Russland-Politik der letzten Jahrzehnte. Deutlich erkennt man darin heute einen klassischen Fall von Selbsttäuschung oder Selbstbetrug einer Gesellschaft (wie ich vor einem 1,5 Jahren auch im Interview mir der Deutschen Welle und Reyna Breuer sagte). Denn die Politik folgte ja den Stimmungen und Meinungen der Wählerinnen und Wähler, die mehrheitlich konstruktive, auf Interessenausgleich bedachte Beziehungen zu Russland forderten, ohne zu begreifen, dass diese nicht möglich sind, und zwar aufgrund objektiv gegebener Widersprüche, nicht weil Politikern der Wille zur Verständigung fehlte. Der Mythos von der kommunikativen Vernunft, der Kraft der Argumente, dem Wandel durch Handel, klang viel zu süß. Auch mit Massenmördern wie Wladimir Putin sollen Vereinbarungen zum gegenseitigen Vorteil möglich sein, glaubte der abgrundtief naive Zeitgeist.
Ungeheuer viel Viel Kraft und Zeit wurde für Erörterungen verwendet, ob der Westen nach dem (geschenkten) Sieg im Kalten Krieg „triumphiert“ und Russland vielleicht sogar erniedrigt habe, womöglich dessen „Sicherheitsinteressen“ nicht ausreichend beachtet habe, ob man Russland bessere Verhandlungsangebote hätte machen können.
Spräche man anstelle von Triumph von Freude, anstelle von Erniedrigung wahrheitsgemäß von zahlreichen Geschenken, Krediten, Partnerschaftsangeboten und privilegierten Beziehungen, und würde man statt auf Sicherheitsinteressen auf internationale Verträge und Rechtsnormen hinweisen, die auch von Russland unterschrieben und ratifiziert wurden, so planschte man noch immer im seichten Wasser des Meinens und Fühlens, der Subjektivität.
Gar auf dem Trockenen schwimmt man mit den Vermutungen und Behauptungen, man habe die Person des russländischen Alleinherrschers und Kriegsverbrechers gekränkt und seine angeblich gutgemeinten Gesprächsangebote nicht ausreichend gewürdigt. Die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte wird im Westen horrend überschätzt, wie sie früher im Osten unterschätzt wurde. Mit dem Anspruch der Objektivität ist es umgekehrt.
Russland befindet sich objektiv betrachtet in einer erniedrigenden Position gegenüber dem Westen und kann im fried­li­chen Wett­be­werb mit den west­li­chen Volks­wirt­schaf­ten nicht mit­hal­ten, seiner Bevölkerung nicht die gleichen Sozialleistungen und Einkünfte bieten.
Der Westen ernied­rigt Russ­land schon dadurch, dass er reicher ist und viele gut aus­ge­bil­dete Russen dorthin aus­wan­dern, und auch Millionen Ukrainer lieber dort Schutz suchen, oft trotz verwandtschaftlicher Beziehungen nach Russland. Auch das russische Kapital floh schon vor Beginn der Invasion gerne ins westliche Ausland. 40 Prozent der Reichen in Russland mit einem Vermögen von mehr als 50 Millionen Dollar haben eine ausländische Staatsbürgerschaft, 70 Prozent haben Familienmitglieder im Ausland.

Das Glück und der Wohl­stand der Euro­päer befeu­ern im Kreml Neid und Wut. Die gut gemeinten west­li­chen Gesprächs­an­ge­bote stei­ger­n dort oft nur die Wut und Empö­rung, denn sie beweisen, dass der Westen über eine Vielzahl von Möglichkeiten verfügt, Russland aber nicht. Für Russland ist die Friedfertigkeit des Westens bedrohlich, weil sie beweist, dass die Kultur der Kompromisse erfolgreicher und lebensfroher ist als eine Ein-Mann-Herrschaft und das Unrecht des Stärkeren und der Gewalt.
Statt nach eigenen Fehlern und nach objektiven Ursachen für Russlands Rückständigkeit und Bedeutungslosigkeit in der weltweiten Wissenschaft und Technik zu suchen, beschuldigen die regierenden Putinisten gemäß jahrhundertealter russischer Tradition „ausländische Feinde“, schuld an der Misere zu sein. Denn zur Wahrheit hat man in Russland ein taktisches Verhältnis; entscheidend ist, was die übergeordnete Macht will. Sie ist die einzige Kontrollinstanz, nur ihr ist man rechenschaftspflichtig, nicht der Bevölkerung oder der Öffentlichkeit, keinen Anwälten, Menschenrechtlern oder Journalisten. Die Autorität entscheidet, die Untergebenen haben zu kuschen. Welche „Erfolge“ dann nach oben gemeldet und welche Dunkelziffern versteckt werden, das ist eine andere Frage. Relevante Statistiken werden gewöhnlich in doppelter Form erstellt, eine für die Macht und eine andere für den internen Gebrauch. Die Lüge regiert, die Wahrheit ist der Feind.
Der Chef-Schwindler im Kreml hat in seiner Ausbildung beim sowjetischen Geheimdienst KGB eigentlich gelernt, dass Fakes, Legenden und Lügen lediglich der eigenen Tarnung dienen sollen. Der Lügner darf nicht glauben, dass die Lügen wahr sind, denn das wäre krank, dann würde er den Erfolg der „Spezialoperationen“ gefährden und fantastische Ziele anstreben. In solch einem Fall will er dann mit seinen Truppen in drei Tagen Kyiv erobern, doch statt die Staatlichkeit der Ukraine zu eliminieren, stärkt er sie und gefährdet die seines eigenen Landes. Seine Soldaten werden nicht mit Brot und Salz empfangen, sondern gnadenlos bekämpft, nicht geliebt, sondern gehasst. Was als Spazierfahrt gedacht war verwandelt sich „unversehens“ in einen existenzgefährdenden Krieg. Am Ende siegen eben doch die objektiven Wahrheiten über Gefühle und „Meta-Erzählungen“.
PS: Die Frage, ob der Kriegsherr im Kreml verrückt im klinischen Sinne ODER ein rational handelnder Akteur ist, sollte man besser mit Sowohl-als-auch beantworten. Auch Serienmörder handeln im Rahmen ihres Wahnsystems und zur Befriedigung ihrer perversen Wünsche rational. 

Themen: Politik und Gesellschaft

Ein Kommentar to “Über einen erstaunlichen Unterschied”

  1. Mauerspecht schreibt:
    26th.November 2023 um 18:05

    Willkommen im real existierenden Sozialismus: „Alle anfallenden Arbeiten auf andere abschieben, anschließend anscheißen, aber anständig!“

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