15 Minuten

Ein Freund vom Bataillon Donbas ruft an, nach wochenlangen harten Kämpfen im Osten. Ich bin erschrocken, als ich sein Gesicht sehe. Er sieht 30 Jahre älter aus als vor einigen Monaten. Jetzt lacht er, reckt die Faust vor die Kamera, seine Brüder neben ihm rufen meinen Namen. Sie leben! Alle leben! „Alles ist in Ordnung!“ 

Wahnsinn. Es ist in Ordnung, dass sie überlebt haben. Sie laden mich ein, ich könne übermorgen schon kommen und mein Versprechen einlösen, für sie zu kochen.
Gesagt, getan. Auf dem Weg zum Bahnhof treffe ich Aljona, алёна пожидаева. Sie gibt mir den Auftrag mit, die Kämpfer an der Front zu grüßen, sie bete für sie, und sie spreche ausdrücklich als Vertreterin der jüdischen Gemeinde. Sie geht jetzt zur Gedenkfeier an den Völkermord an den Armeniern. Christen, Juden und Muslime (Tschetschenen) gedenken gemeinsam der Opfer.
„Dein Thema“ sagt Aljona, weil ich neulich darüber schrieb, dass es in der Ukraine keinen gewalttätigen Antisemitismus gibt.
Aber ich will die Fahrkarte kaufen und abends noch zu einer Ausstellungseröffnung gehen, deshalb kann ich leider nicht mitkommen. Kurz vorm Bahnhof schreibt der Freund, ich solle noch einige Tage warten. Der Plan habe sich ein wenig geändert. Etwa in zwei Wochen könne es eine neue Entscheidung geben.
Ich fluche, denn es ist schon das zweite Mal, dass wir meinen Besuch in letzter Minute verschieben. „Das ist Krieg“, schreibt der Freund, „alles ändert sich alle fünfzehn Minuten. So ist es und so leben wir.“

Das wäre die passende Antwort für die Stimmungsforscher. „Wie ist die Stimmung im Krieg?“ Die Stimmung ändert sich alle fünfzehn Minuten, und nicht nur die Stimmung, sondern alles, auch die Dynamik der Widersprüche, falls sie verstehen was das ist.

Bei der Ausstellungseröffnung am Abend erlebe ich wieder, was Kunst vermag, auch jetzt in Zeiten des täglichen Grauens. Warum Kunst in Zeiten des Krieges, wurde ich neulich im Radio-Interview gefragt. Weil eine Gesellschaft ohne Kunst in wenigen Tagen in Barbarei versinken würde. Deshalb singen und tanzen Soldaten manchmal an der Front oder spielen Geige vor zerschossenen Panzern oder Häusern. Weil man manchmal etwas anderes sehen und hören möchte als das Grauen. Weil der Anblick von etwas Schönem mal wieder ein Lächeln ins Gesicht zaubert. Weil man dann wieder weiß, warum man ums Überleben kämpft. Weil auch ein Umhang aus Papier einem Stolz und Würde verleihen und böse Feinde abwehren kann, wenn der Umhang Kunst ist, gemalt von Eduard Trirog / Эдуард Трирог, siehe Foto, Selbstporträt mit Umhang.

Die zwei Stunden am Abend waren jedenfalls perfekt. Wie sagt man im Deutschen, alles verschmolz zu einer Einheit, die Musik, die Gäste, der abgedunkelte Saal und insbesondere die faszinierenden Fotografien – verblüffend komponiert zu einem Video, das ich mir regelrecht erstarrt ansah, beinahe das Atmen vergaß. Tempo, Dramaturgie, Schnitte, und immer wieder eine Prise Erotik, alles perfekt. Ich kannte die Künstlerin Katerin Schmidt nicht, dachte aber sofort, dass sie international bekannt sein müsse. Und ich hatte recht, sie hat schon in einigen westlichen Ländern und in China publiziert, siehe Foto. Selbst der Himmel über dem Hof war perfekt, so weiß und rein; keine Raketen im Anflug, siehe Foto.

Im Korridor dort sah ich auch den Maler M., der seit einem Jahr nicht mehr mit mir spricht, weil „die deutsche Regierung den Ukrainern nicht hilft“. Als ob ich die deutsche Regierung wäre. Und er hat monatelang Lukaschenko-Hymnen verfasst und auf Facebook veröffentlicht, als in Belarus die Menschen so mutig gegen die Diktatur protestierten. Von der slawischen Dreieinigkeit faselte er da. Dabei ist er so ziemlich der schlechteste Maler von Poltawa, der beste allerdings in der Disziplin Selbstbeweihräucherung. Doch seine Bilder sind einfach nur langweilig, platte Ideen stümperhaft ausgeführt, Sexismus mit Zuckerguss. Ich bekam Zahnschmerzen, als ich eine große Ausstellung von ihm sah.

Ein deutscher Freund schreibt, ihn interessiere vor allem DIE MOTIVATION der ukrainischen Soldaten, weiterhin zu kämpfen. DIE MOTIVATION IST NOTWEHR, antworte ich.

Poltawa, 10.11.23. Soeben wieder Luftalarm.

Themen: Russland - Ukraine

Ein Kommentar to “15 Minuten”

  1. 76er d.R. schreibt:
    10th.Dezember 2023 um 17:21

    Die Motivation ukrainischer Soldatinnen und Soldaten besteht vor allem in der Erfüllung der Pflichten aus ihrem persönlichen Soldateneid (Військова присяга). Wegen der lebensgefährlichen und extrem entbehrungsreichen Dienstausübung an der Front dürfen sie mMn erwarten, dass von Ihnen keine übermenschlichen Leistungen abverlangt werden. Schließlich tragen sie zudem wie alle anderen an der Verteidigung des Landes beteiligten Personen, zur internationalen Friedenssicherung und Einhaltung der Menschenrechte bei. – „Seit vielen Jahren habe die Russische Föderation der Achtung aller Menschenrechte und Grundfreiheiten beispiellosen Schaden zugefügt – sowohl auf ihrem eigenen Territorium als auch auf den von ihr vorübergehend eroberten Gebieten der Ukraine, Georgiens und Moldaus, betonte das Ministerium.“ https://www.ukrinform.de/rubric-ato/3798175-schutz-von-menschenrechten-auenministerium-fordert-eine-ernsthafte-diskussion-uber-die-uberarbeitung-des-systems-auf.html

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