Prosa, „Zeit der Pfiffe“ (Leseprobe, Kindheit im Sozialismus, 1976, DDR, Harz, deutsch-deutsches Grenzgebiet)
1. Kapitel Die Mitglieder meiner Familie mussten arbeiten oder sich in der Schule quälen lassen, aber ich konnte im Bett liegen und meine Grippe ausschwitzen. Niemand durfte mein Zimmer ohne meine Genehmigung betreten. Das Gerede der Mitglieder meiner Familie nervte mich meistens sowieso. Entweder sie redeten über Ordnung und Sauberkeit oder über den Mangel. Lange Zeit glaubte ich, der Mangel hätte etwas mit Wäsche mangeln zu tun. Meine komische Mutter fuhr unsere Wäsche alle zwei Wochen zum Mangeln. Und der Alte erzählte oft, „der Mangel wird immer schlimmer,“ „es mangelt an allem“ „die kriegen den Mangel nie in den Griff“. Die, das waren die da oben, die uns regierten. Die kriegten nichts in den Griff, aber vor allem den Mangel nicht. Aber warum sollte die Regierung, die wir nie gesehen hatten, unsere Wäsche mangeln? Warum mangelte es an fast allem, obwohl die Wäsche weiterhin gemangelt wurde?
Inzwischen verstand ich natürlich den Unterschied zwischen dem Mangeln der Wäsche und dem Mangel im Allgemeinen, der überall herrschte. Über diesen Mangel hatte ich in der Schule einen Aufsatz geschrieben, als wir ein Thema ausnahmsweise man selber wählen durften.
„Der Mangel besteht, wenn die Regierung glaubt, dass sie alles wissen und bestimmen kann. Die Regierung bildet sich ein, sie kenne sogar die Wünsche und Bedürfnisse der Menschen vom nächsten Jahr. Sie schreibt einen verbindlichen Plan, was getan werden muss, um diese Wünsche zu erfüllen. Und so muss dann im ganzen Land gearbeitet werden, alle auf Kommando, sowohl in der Stecknadel- als auch in der Schokoladenfabrik. Nächstes Jahr wollen zehntausend Paare heiraten, die kaufen voraussichtlich achttausend Hochzeitskleider. Manche nähen sich selbst welche oder tragen nur schmucke Kleider, die sie später auch für andere Feiern verwenden können. Wenn aber doppelt so viele Paare sich verlieben und schnell heiraten wollen, etwa, um eine Wohnung zugewiesen zu bekommen, dann herrscht wieder Mangel. Dann heißt es wieder, es mangelt an allem, sogar an Hochzeitskleidern, der Staat kriegt nichts in den Griff.
Aber nicht alle Menschen wollen ihre Wünsche der Regierung verraten. Viele kennen ihre Wünsche vom nächsten Jahr noch gar nicht. Jemand möchte beispielsweise ein neues Hobby ausüben, zum Beispiel das Angeln, weil er im Urlaub jemanden angeln gesehen hatte. Beim Angeln steht wenigstens seine zu Hause ständig kreischende Frau nicht hinter ihm. Er will eine Angelrute, Angelsehnen und Angelsehnenrollen kaufen, aber das konnte er nicht, weil die Regierung nicht geplant hatte, dass er angeln möchte. Kurz gesagt, sogar, wenn die Regierung die besten Absichten hatte, konnte sie nicht alles wissen, und schon gar nicht über die Zukunft.“
Danach musste ich in der Schule wieder mal beim Direktor antanzen. Ich bilde mir wohl ein schlauer zu sein als die Regierung, brüllte der Direktor. Dabei hätte ich wohl übersehen, dass nicht die Regierung das wichtigste Machtorgan im Lande ist, sondern die Partei, und die Partei hat immer recht, weil sie eine Million Mitglieder hat, die alle frei und offen ihre Bedürfnisse anmelden können. Außerdem vermutete der Direktor, ich wolle den Kapitalismus bei uns einführen, wo jeder das produzieren kann, was er will.
Ich antwortete dem Direktor nicht, mit keiner einzigen Silbe. Ich bildete mir einfach ein, ein Buddha zu sein oder eine Figur von der Osterinsel. Wenn man Schreihälse nur anlächelte, dann konnten die platzen vor Wut. Der Direktor bekam sogar ein gelbes Gesicht vom Schreien. Da kündigte sich vielleicht schon der Herzinfarkt an, der ihn bald darauf dahinraffen sollte. Geschieht ihm recht, warum war er so oft besoffen. Uns hielt er Moralpredigten, aber er hatte ständig eine Fahne vor sich her getragen, eine Fahne zum Anzünden, dann hätte er Feuer gespien, wie mein Kater Jack. Aber Jack war kein Alkoholiker und hielt auch keine dummen sozialistischen Predigten. „Du wirst mal in der Gosse landen!“, schrie der Direktor mich an. „Du bildest dir wohl ein, klüger zu sein als alle anderen?“
Man sah ihm an, dass er eine Zigarette rauchen wollte, so zitterten seine Hände. Er rauchte in jeder Pause ein paar Zigaretten, zusammen mit dem Staatsbürgerkundelehrer. Die Hundertprozentigen lebten am Ungesündesten.
An dem Worte Staatsbürgerkunde gefiel mir nur das Worte Kunde. Ich wäre gern ein Kunde gewesen, der sich hätte aussuchen können, was er lernen wollte. Stattdessen musste ich mir das Gesülze des Stabü-Lehrers anhören. „Bei uns gibt es keine Ausbeutung“, behauptete der. Aber das war ja lächerlich. Soldaten wurden ausgebeutet. Ich sah sie oft über unsere Wiesen robben und fluchen, dabei wollten sie am liebsten nach Hause, wie sie am Tag ihrer Entlassung grölten, wenn sie durch unser Dorf gefahren wurden. Ordentlich bezahlt wurden sie für die Zwangsarbeiten auch nicht, die sie an der Grenze leisten mussten, für das Verlegen von Betonplatten, das Aufstellen von Stacheldrahtzäunen mit Signaldraht. Und Schmerzensgeld bekamen sie auch nicht, dafür, dass man sie anbrüllen durfte und ihnen sinnlose Befehle erteilen durfte. Befehl ist Befehl, sonst ab ins Strafbataillon, zack, zack, nach Schwedt, Baumstämme schleppen, durch Matsch und Schlamm. Und die gesamte Zeit mussten sie nachdienen, die sie da verbrachten. Aber an die Grenze wurden sie dann nicht mehr versetzt. In Schwedt war es bestimmt mindestens so schlimm wie im französischen Bagno, wie von Victor Hugo beschrieben, wo die Sträflinge ausgepeitscht wurden.
Und nicht nur Soldaten, auch ich wurde ausgebeutet! Bei zehn Grad Frost im Freien Beton mischen zu müssen und in Eimern im Laufschritt tragen zu müssen, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, was war das denn sonst als Ausbeutung? Oder in der Sommerhitze Teer über den Feuer kochen, dann heiß auf eine Wand auftragen? Der Staat hatte mich nicht zu dieser Arbeit verurteilt, aber mein Erzeuger, und den kontrollierte niemand, jedenfalls nicht Zuhause. Aber der Staat hatte ihm den Titel Sozialistischer Pädagoge verliehen.
Und meine Tante Hannah musste sich selbst ausbeuten. Obwohl sie so sogar nachts und an Wochenenden arbeitete, reichte ihr Geld hinten und vorne nicht. Und Kränze flechten war harte Arbeit, bei der die Hände oft bluteten, weil die Drähte so scharf waren.
Nur meine komische Mutter fühlte sich nicht ausgebeutet. Sie arbeitete für die Gewerkschaft und hatte Privilegien. Manche Urlauber brachten ihr Geschenke mit, damit sie besonders schöne Zimmer bekamen. Ein Paar aus Berlin schenkte ihr jedes Jahr ein schönes Portemonnaie, die man in unserem Kaff nicht kaufen konnte. Dafür werden wir mit Gurken besser versorgt als die Menschen in Berlin, darüber staunten die Urlauber-Freunde meiner Mutter. Man konnte bei uns Gurken gegen Kohlen tauschen, glaube ich. Oder umgekehrt. Alle tauschen irgendetwas, weil der Mangel überall herrschte.
In seiner letzten Stunde, die der Direktor vor seinem Tod bei uns unterrichtete, provozierte ich ihn mal wieder. Er warnte uns davor, zu versuchen über die Grenze abzuhauen, nicht mal in Gedanken sollten wir das wagen. Denn man liebt dort drüben nur den Verrat, nicht aber den Verräter, sagte er.
Da fragte ich ihn, wer denn der Löwe sei. Er guckte mich blöd an. Der Löwe von Äsop, half ich ihm. Doch der Trottel kannte diese Fabel offenbar gar nicht und wusste gar nicht, wo der Satz herstammte. Ich klärte ihn auf. Nachhilfeunterricht für den Direktor. Ein Esel und ein Fuchs leben freundschaftlich zusammen. Aber als ein Löwe kommt, da hetzt der Fuchs den Löwen auf, er soll den Esel fressen. Der Löwe frisst aber den Fuchs zuerst, weil er Verrat nicht leiden kann. Man liebt nur den Verrat, nicht aber den Verräter, das ist die Lehre der Geschichte. Also, wer sollte der Löwe sein, wenn jemand über die Grenze abhaute, wer würde ihn „drüben“ fressen? Der Kapitalismus? Aber der müsste ja dann alle Leute dort drüben fressen, nicht nur die Verräter. Aber wenn unser Onkel von drüben uns mit seiner Familie besuchte, dann sahen und hörten wir ja, dass sie dort viel besser lebten als wir. Sie hatten einen VW-Kleinbus und im nächsten Jahr einen Mercedes, wir hatten überhaupt kein Auto. Sie fuhren nach Italien in Urlaub, wir zu meiner Oma nach Werder an der Havel. Und sowieso, wenn man hier mit niemandem befreundet war, war man dann auch ein Verräter, wenn man über die Grenze abhaute? Man konnte doch nur Freunde verraten, nicht irgendwelche unbekannten Leute, mit denen man zufällig im gleichen Dorf lebte oder in der gleichen Familie?
Der Direktor brüllte mich nicht sofort an. Es geht ums Prinzip, sagte er, nicht um Äsop und seine Zeit. Äsop hätte nur ein Beispiel beschrieben. Ich ließ ihn gar nicht weiterreden, sondern wies ihn in ruhigem Ton darauf hin, dass laut Äsop nicht nur der Verräter gefressen wird, sondern auch der verratene Esel. Der Löwe sorgte für Gerechtigkeit, indem er den Verräter und den Unschuldigen tötete. Und das sollte auch für die heutige Zeit gelten?
Der Direktor brüllte daraufhin, ich solle endlich still sein. „Solche wie dich müsste man im KZ Buchenwald über den Appellplatz führen, dann wirst du sehen, dass du Blut an den Schuhen hast.“
Ich verstand zwar den Sinn dieses Satzes nicht vollständig, aber vielleicht hatte der Direktor schon zu wenig Sauerstoff im Gehirn gehabt und redete halb im Koma. Friede seiner Asche.
Über meinem Bett hingen meine selbst gemalten Flaggen, der Union Jack neben der Piratenfahne. Wenn ein Lehrer aus meiner Schule das gesehen hätte, dann wäre ich bestimmt in eine Sonderschule versetzt worden oder gleich an schlimmere Orte, wo den Kindern die Köpfe kahl geschoren werden und wo sie an Heizungsrohre gekettet werden, damit man sie in Ruhe verprügeln kann.
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