NZZ: Christoph Brumme – Krieg als nihilistisches Gesamtkunstwerk // Putins Russland und der Westen werden sich ewig fremd bleiben.

Die Lernbereitschaft im Westen tendiert immer noch gegen Null, gemessen an den notwendigen Einsichten. William Shakespeare hat solch ein Verhalten schon mit der Figur des Hamlet beschrieben: das Zögern führt zu zahlreichen Todesfällen und zur Eskalation der Ereignisse.

… zu Russlands diplomatischen Traditionen gehört auch das Spiel mit den Erwartungen seiner Feinde. Nächste Woche kann auch bedeuten – „vielleicht in einigen Jahren oder nie“.
Am Ende eines unendlich langen Verhandlungsprozesses, nach Erfüllung inakzeptabler Forderungen, obwohl ein Tagesbefehl genügen würde.
Die meisten Menschen im Westen empfinden Krieg als etwas Sinnloses, als Krankheit. In Putin-Russlands Ideologie ist er eine Möglichkeit, stärker und reicher zu werden, man nennt ihn emotionslos „Militärische Spezialoperation“.
Die guten Menschen aus dem Westen glauben, Zeugen einer Tragödie zu sein oder gar in einer Tragödie mitzuwirken. Putin-Russlands Einpeitscher des Krieges kommentieren Blutorgien wie Lustspiele, sie lieben das mörderische Spektakel. Ihr Führer erklärt, er führe den Krieg auch aus Langeweile. „Bei uns ist es immer so: Wenn es ruhig ist, ist uns langweilig. Man will mehr Action. Wenn dann die Kugeln pfeifen, fürchten wir uns. Aber ich sage Ihnen: Russland macht Fortschritte.“
Westler definieren ihre Wohlfühlgesellschaften oft als postheroisch. Viele Westler verzichten lieber auf ihre Rechte, als sie unter Einsatz ihres Lebens zu verteidigen. In Russland ist man eher davon überzeugt, dass erst durch Kampf und Heldentum das Leben des Einzelnen eine Bedeutung gewinnt, auch wenn der Kampf von Anfang an aussichtslos ist. Zu Russlands erfolgreichsten Exportprodukten gehören neben Gas und Öl auch Furcht und Schrecken. Freiheit ist nur ein anderer Begriff für Chaos, für ein Mangel an Kontrolle.
Im Westen ist man davon überzeugt, dass Verteidigungsausgaben dem Wohlstand schaden. Der Herrscher Russlands predigt, „dass die Verteidigungsausgaben die Wirtschaft beschleunigen, sie machen sie energischer.“ Für ihn ist es „die ewige Frage: Was ist profitabler – Waffen oder Öl?“
Die Protagonisten im Westen hoffen, mit dem Ausgleich von Interessen den Frieden erhalten zu können, Kompromisse zum Nutzen aller erzielen zu können. Der kollektive Putin fühlt sich von Kompromissangeboten verhöhnt, weil er weniger Handlungsmöglichkeiten hat. Im Westen ist Vertragstreue ein hoher Wert, doch der Herrscher im Kreml behauptet, in Vertragsverhandlungen immer betrogen zu werden. Die westlichen Staaten wollen die Unverletzlichkeit der Staatsgrenzen garantieren, doch Putin erklärt, dass Russlands Grenzen nirgendwo enden, sondern Russland dort ist, wo Russisch gesprochen wird.
Die Westler zögern und zweifeln wie Hamlet, bevor sie handeln und sich selbst verteidigen. Sie lieben oder schätzen zumindest ihr friedliches Leben, ihre Urlaubsreisen, ihre Hobbys und Bildungsmöglichkeiten, sie wollen „das Sterben beenden“, Kriege vermeiden und verhindern. Putin-Russland gestaltet Kriege gern wie ein Gesamtkunstwerk und will das Recht beziehungsweise Unrecht des Stärkeren durchsetzen. Rechtsnihilismus ist ein dionysisches Lustprinzip, begleitet von Amoralität.
Im Westen möchte man Terroristen und Serienmörder gern therapieren und gesundbeten, mit ihnen verhandeln, sie von der eigenen Friedfertigkeit überzeugen. In Russlands staatlicher Leitkultur gilt es als schick, die Schwächeren und die Reicheren von hinten beglücken. Der Herrscher im Kreml schwelgt öffentlich in Vergewaltigungsfantasien, wobei das Opfer ein harmloses Nachbarland ist. Im Westen versucht man Kriegsverbrecher zu bestrafen, in Russland werden sie belohnt und ausgezeichnet, sie gelten als Helden.
Die Europäer wollen bald auf dem ersten klimaneutralen Kontinent leben und dafür auf fossile Brennstoffe verzichten; Putin-Russland will seine Existenzgrundlage nicht aufgeben, den Export fossiler Brennstoffe. Die einen sorgen sich um die Zukunft, die anderen kämpfen für eine Rückkehr in die Vergangenheit.

Unauflösbare Widersprüche prallen aufeinander, unvereinbare Ansprüche, Ängste, Kulturtechnologien und Interessen. Was den einen schadet, tut den anderen gut, und umgekehrt, jedenfalls unter den derzeit gegebenen Laborbedingungen.
Russische Gewaltkultur stößt auf westliche Gesprächskultur, Staatsterrorismus kämpft gegen kommunikative Vernunft, die Lust am Weltuntergang gegen politische Gesundbeterei, „heiliger“ Krieg gegen Pazifismus.
Im Westen spielt man gern mit Wahrheiten, bezeichnet sie als subjektiv, relativiert sie mit Perspektivwechseln. Für den Machterhalt der Kreml-Clique ist es lebensnotwendig, Wahrheiten zu leugnen und zu verdrehen. „Die Wahrheit ist der Feind“, wie von Golineh Atai in ihrem gleichnamigen Buch beschrieben. Die Herrschaft der Mächtigen ist nur gesichert, wenn Legalität und Kriminalität ununterscheidbar sind, die Symbiose von Geheimdienst- und Mafiakultur erhalten bleibt. Gift- und Massenmorde gehören zu den gewöhnlichen Machtinstrumenten (- siehe beispielsweise die Sprengstoffanschläge auf Wohnhäuser in Russland 1999, inszeniert höchstwahrscheinlich vom eigenen Geheimdienst, als Kriegsgrund für den 2. Tschetschenienkrieg, damit die Bevölkerung sich nach einem „starken Führer“ sehnt).
Putin-Russland ist ein Fake-Staat im Modus der Selbstzerstörung, seine wichtigsten Stärken sind vorgetäuscht, sowohl die militärische als auch die wirtschaftliche, die diplomatische; selbst die demographischen Statistiken sind geschönt und werden jetzt nicht mehr veröffentlicht. Russland fühlt sich nicht nur vom Westen erniedrigt, sondern es ist objektiv gesehen in einer selbstverschuldeten erniedrigenden Position – man vergleiche den Lebensstandard, die Gesundheitswesen, die Soft Power, die ökonomischen, technologischen und wissenschaftliche Potentiale, den Heiratstourismus.

Drohungen und Bedrohungen
Im Westen behaupten manche, man habe Russland durch die Nato-“Osterweiterung“ bedroht, seine Sicherheitsinteressen verletzt; andere bestreiten das. Beide haben Unrecht, weil sie nicht zwischen Drohungen und Bedrohungen unterscheiden. Dabei müssten insbesondere Deutsche diesen Unterschied genau kennen, man denke an die Zeit des Kalten Krieges zurück. So, wie Vertreter der alten BRD der DDR nicht gedroht haben, schon gar nicht militärisch, so war Westdeutschland doch eine existenzgefährdende Bedrohung für Ostdeutschland. Bedrohlich aufgrund seiner Freiheiten und bürgerlichen Rechte, seiner ökonomischen Erfolge und der Reisemöglichkeiten, wegen seiner schöneren Filme und schöneren Musik, die freie Menschen ohne Zensurbestimmungen schrieben.
Gleiches gilt heute für den gegenwärtigen Krieg Russland gegen die Ukraine. Natürlich hat weder die Ukraine noch der Westen Russland jemals militärisch gedroht, jedoch war und ist eine freiheitlich-demokratische Entwicklung der Ukraine eine existentielle Bedrohung für die Putin-Diktatur.

Die Menschen im Westen sollten sich sorgen, dass sie nicht wie die Maus enden, die Franz Kafka in der „Kleinen Fabel“ beschreibt. Sie wird von den Ereignissen getrieben und klagt: „Die Welt wird enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so breit, daß ich Angst hatte, ich lief weiter und war glücklich, daß ich endlich rechts und links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen Mauern eilen so schnell aufeinander zu, daß ich schon im letzten Zimmer bin, und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe.“ – „Du mußt nur die Laufrichtung ändern“, sagte die Katze und fraß sie.

Themen: Russland - Ukraine

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