Ordnung und Chaos im Krieg

Poltawa, 11.10.2025
Ein häufiger Fehler bei der Analyse der Fehler und Schwächen des Militärs ist oft die unterschwellige Vorstellung, die Kriegshandlungen KÖNNTEN mit vollkommener, „einhundertprozentiger“ Effizienz organisiert werden. Man misst die Wirklichkeit am Ideal – und schimpft. Sowohl unter passiven Beobachtern des Krieges als auch unter Militärs ist dieses Verhalten häufig zu beobachten.
Dabei ist Chaos vorprogrammiert, denn im Krieg geschieht ständig etwas Unerwartetes, worauf man natürlich nicht immer in idealer Weise reagieren kann. Sinnlose oder sinnlos erscheinende Befehle, unfähige Kommandeure, Mängel der Technik, fehlende Ersatzteile, Medikamente, Munition und Nachtsichtgeräte, Ausbildungsmängel, schlechte Koordination im Gefecht der verbundenen Waffen – alles das ist normal und notwendig. Ein Drittel Chaos, Blödsinn und Unsinn, zwei Drittel ordnungsgemäße Abläufe, das dürfte, über den Daumen gepeilt, das Maximum des Erreichbaren sein. Außer im Moment des Sieges kann es nie von allem genug geben, nie genug Kämpfer, Waffen, Fahrzeuge.

Man lese beispielsweise Erinnerungen von Soldaten aus dem II. Weltkrieg.
1. Daniil Granin, Mein Leutnant

„Wir haben mal einen Fritz verhört. Bei denen treten sie nicht vor dem Kampf in deren Partei ein, und wenn sie angreifen, rufen sie nicht: Für die Heimat!, Für Hitler! Wie kommen die bloß ohne das aus? Alles ist bei ihnen unkorrekt, den Soldaten und Offizieren steht sogar Urlaub zu. Urlaub im Krieg! Ich konnte mit diesem Gefangenen keine gemeinsame Sprache finden. Er sagte mir, dass man ohne Kaffee und Funkverbindung nicht kämpfen kann.“

„Neben mir saß ein junger Ladekanonier. Er sang mit und schaffte es, mir gleichzeitig zu erklären, dass man den Panzer nur verlassen durfte, wenn man die Regimentsführung um den entsprechenden Befehl gebeten hatte, egal, ob der Panzer außer Gefecht war oder brannte. Wenn du aber ohne Befehl aus der Luke raussteigst, bist du geliefert. Sobald du zum Regiment zurückkommst – ab zur Erschießung.“

„Der Fleischwolf wurde nicht angehalten. Die Verluste störten niemanden, zumindest nicht unsere wackeren Vorgesetzten, die jeden Befehl befolgten und nie widersprachen. Kein Preis war ihnen zu hoch. Man kämpfte sich bis zu den Stacheldrahtverhauen der Deutschen durch. Dort stellte sich raus, dass man nichts hatte, womit man den Stacheldraht hätte durchschneiden können. Keine Drahtscheren. Der Befehl verlangte es – um jeden Preis. Der Angriff sollte um fünf Uhr morgens beginnen, aber es zeigte sich – niemand hatte eine Uhr. »Stell dir vor, weder die Kommandeure noch die Politoffiziere beider Kompanien hatten eine« – Merson spuckte aus –, »die Zielpunkte waren nicht ausgekundschaftet. Von wo die Deutschen schossen, war unklar.“

„Überall hat man einen uns fremden Krieg mit glänzenden Operationen, mit mutigen Kämpfern beschrieben. Aber unser Krieg war anders – blutig, stümperhaft, Menschenleben wurden sinnlos geopfert, doch das zeigte man nicht, darüber schrieb man nicht. Mein Leutnant hasste die Deutschen und konnte das eigene Stabsgesindel nicht leiden. Im Kino zeigte man Generäle, die weder Schurken noch Säufer oder Dummköpfe waren. Er konnte es nicht begreifen, wie sie es geschafft hatten, trotz all der Fehler, all des Bluts, trotz Feigheit, Unwissenheit und Furunkeln in Ostpreußen einzumarschieren.“

2. „Zwischen Nichts und Niemandsland: Tagebuch eines deutsches Soldaten im zweiten Weltkrieg“ von Hans Jürgen Hartmann – eine der besten Schilderungen der Kämpfe der Deutschen Wehrmacht in der Ukraine aus der Perspektive eines einfachen Soldaten.

„Eni stellte den Motor ab. Da hörten wir auf einmal, was wir schon während der Fahrt undeutlich vernommen hatten: wüstes Schießen und Krachen irgendwo weit vor uns. Reimann stieg aus und rannte suchend umher, aber das nützte gar nichts. Wir sagten ihm schwer die Meinung. Wir wollten zurück zu denen vom Nachbarregiment und dort pennen. Da wussten wir wenigstens, wo und woran wir waren. Aber nein, er wollte weiter zum Zug, der müsse ja irgendwo zu finden sein. Ja, sagten wir, vielleicht da vorn, wo es schoss und krachte. Es wäre doch Idiotie, um Mitternacht in dieser Gespensterstadt umherzutappen und sich womöglich noch von den eigenen Leuten abknallen zu lassen. Und außerdem rechnete beim Zug bestimmt kein Mensch mehr mit uns. Da hinten bei den anderen könnten wir sicher wenigstens ein paar Stunden koksen und am Morgen sähe dann schon alles anders aus. Aber nein, Reimann wusste es besser. Er hatte Angst vor der eigenen Courage. Halblinks vor uns ballerte es zünftig. Der Ort war ganz offensichtlich noch gar nicht vollständig besetzt. Und wir standen da auf dem Platz wie bestellt und nicht abgeholt und warteten. Otto war kurz vorm Platzen. Reimann wetzte unruhig hin und her. War denn so viel Irrsinn denkbar? Waren wir verrückt oder er? Was sollten wir in diesem unheimlichen Nest? Hatten wir in diesen Tagen nicht schon genug Unheimliches erlebt? Hatten wir nicht vor allem ein paar Stunden Schlaf ehrlich verdient und nötig? In die Schnauze hätten wir ihm hauen können …“

„Aber dann schrie jemand urplötzlich in die Nacht: „Vorsicht, Russenpanzer!!!“, und nun spielte in diesem Hexenkessel alles verrückt. Sieben oder acht deutsche Landser waren im Dustern auf den Kolossen mitgefahren, bis sie die roten Sterne erkannten – und hatten keine Handgranaten, um den Iwans wenigstens noch die Optik zu vermiesen, ehe sie schleunigst absprangen. Und danach ein stundenlanges Herumliegen hinter dem Gleis der Feldbahn, ohne Befehle, ohne Orientierung, zwischen fremden Landsern in der Nacht, 50 m vor einem weiteren Russenpanzer… Später ein großes Feuer irgendwo genau hinter uns, und wir alle als lebende Schattenrisse ganz flach an den Boden gedrückt hinter den Schienen, eine unheildrohende Stille im Wald und wachsende Angst vor dem Morgengrauen. Wenn sie uns dann kassieren? Nicht auszudenken. Doch irgendwann ein Befehl, geflüstert von Mann zu Mann: Alles nach rechts sammeln! Wir kamen auch ungestört weg von dem elenden Gleis, weiter hinten sammelte sich tatsächlich ein Haufen von Landsern, keiner wusste, wo wir uns befanden, herumirrende Versprengte im Finstern waren wir, voller Angst, wegen Feigheit vor dem Feinde aufgegriffen zu werden, nachdem wir erfahren hatten, dass ein Feldwebel uns auf sein eigenes Risiko zusammengeholt hatte und „Richtung Heimat“ lotsen wollte.“


Themen: Russland - Ukraine

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