Denken als Beruf (3)

Poltawa, 31.08.2025 (kein Luftalarm)
Gestern redete ich längere Zeit mit meiner Kwas-Verkäuferin. Sie hat 40 Jahre lang als Kinderärztin gearbeitet und erhält eine Rente von 2700 Griwna (56 Euro). Zum Weinen. Ihre Tochter lebt und arbeitet als Sprachlehrerin seit einigen Jahren in Schweden. Sie will ihre Mutter nach Schweden holen, doch diese zögert, weil sie kein Schwedisch kann und hier in Poltawa ihre Freundinnen leben.
Die Arbeit als Kwas-Verkäuferin ist hart – je heißer es ist, desto mehr muss sie arbeiten. Sie sitzt da ungeschützt vor ihren Fässern, in der prallen Sonne und bei scharfem Wind, führt immer wieder die gleichen Bewegungen aus. Eine Prämie bekommt sie nicht, wenn sie viel verkauft, auch keine Gewinnbeteiligung. Natürlich ist sie auch nicht krankenversichert.

Harter Schnitt:
Unerlässlich für die Analyse solch unendlich komplexer Materie wie einer menschlichen Gesellschaft ist das sogenannte interdisziplinäre Denken. Es wird oft gefordert, aber selten praktiziert. Wie fatal sich das auswirkt, das zeigt auch dieser Krieg.
Beispiel: Unter Hunderten Osteuropawissenschaftlern, Slawisten. Militäranalytikern findet man höchstens ein Dutzend mit volkswirtschaftlichen und makro-ökonomischen Kompetenzen UND praktischen Erfahrungen in Industrie und Landwirtschaft, ob als Berater oder Forscher. (Rühmliche Ausnahmen: Anna Veronika Wendland und Andreas Umland)

Jahrelang haben sich ausländische Reporter in der Ukraine-Berichterstattung am sogenannten „Sprachenkonflikt“ abgearbeitet, fast hätte ich geschrieben: aufgegeilt. Für Ukrainer stand dieser „Konflikt“ unter den 30 wichtigsten Lebensprobleme an 29. Stelle (an 30. der Feminismus).
Die Damen und Herren Ausländer surften und planschten gerne, aber mit solider Ausrüstung in die Tiefe zu tauchen, dafür waren sie zu faul oder zu ängstlich.
Die wichtigsten Lebensprobleme waren ökonomische und soziale, und zwar in allen Regionen. Die niedrigen Einkommen und Renten, die Gefahr krank zu werden und Medikamente nicht kaufen zu können, die Schwierigkeit normal bezahlte Arbeit zu finden, die kaputten Straßen (dadurch hohe Reparaturkosten für Autos und Verzögerung von Krankentransporten).

Aber Ökonomie ist nicht sexy, und Armut schambesetzt. Also macht man aus dem kulturellen Schatz der Zweisprachigkeit einen angeblich existenzgefährdenden Konflikt. Um diesen Claim auszubeuten genügt angelesenes Halbwissen.

Ökonomische Kompetenz, das bedeutet im Falle der Ukraine und des bösen Nachbarn aus dem Norden auch: die Schattenwirtschaften zu studieren, die Transformationen des kriminellen Kapitals, die Geldwäsche-Rituale, die doppelten Buchführungen und insbesondere auch die Voraussetzungen für „Korruption“ – ein Phänomen, das meines Wissens NOCH NIE substantiell dargestellt wurde, sondern entweder im (berechtigten) Gestus der Empörung, also moralisch, oder juristisch, unter Aspekten der Gewaltenteilung und der Kontrolle, aber eben nicht ökonomisch. Man sieht auf die Spitzen der Pyramiden, aber nicht auf die Fundamente.

Themen: Russland - Ukraine

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