Denken als Beruf (4)

Poltawa, 31.08.2025 (derzeit kein Luftalarm)
Zum Thema Prognosen
Meine Erfolgsquote in der „Wahrsagerei“, also in prognostischen Vorhersagen, dürfte bei ca. 80 Prozent liegen im Fach „geschichtliche Ereignisse“.
Beispielsweise hatte ich 1989 die Erstürmung der Mauer in Berlin schon mindestens ein halbes Jahr zuvor logisch hergeleitet. Wofür es noch Zeugen gibt. Eine Freundin beispielsweise wollte einen Ausreiseantrag stellen, ich riet ihr ab, da wir unseren Wein bald sowieso in Westberlin trinken werden.
Diese Vorhersage war nicht schwer: Die Sowjetunion taumelte Richtung Abgrund, Gorbatschow hatte die Breshnev-Doktrin über die begrenzte Souveränität der osteuropäischen Staaten aufgeben müssen, der Sozialismus war glücklicherweise endgültig gescheitert, die „kommunistischen“ Parteien würden in allen Ländern von der Macht verjagt werden. Aber ob nun kapitalistisch oder sozialistisch, die Staaten würden ihre Staatlichkeit behalten, Polen würde Polen bleiben, Ungarn Ungarn. Aber die DDR konnte nicht als eigenständiger Staat existieren, es gab keine eigenständige Identität als DDR-Bürger, es waren Deutsche. Also passierte, was passieren musste, auch wenn die beteiligten Akteure das erst nach und nach begriffen.
Mein erstes Buch-Manuskript habe ich darüber geschrieben, im Sommer 1989, „Die Anatomie des Scheins oder Warum der Sozialismus nicht reformierbar ist“. Das bot ich dann im November dem Rowohlt Verlag in Hamburg an. Am 3. Januar 1990 bekam ich von dort die Antwort:
„Derzeit finden ja viele Versuche statt, den Sozialismus zu reformieren. Deshalb wollen wir ein Manuskript, das alle diese Versuche zum Scheitern verurteilt, zum gegenwärtigen Zeitpunkt (!) nicht drucken“.
Ach, was habe ich gelacht.
„Zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht“ – aber wenn das Scheitern erwiesen sein wird, dann leistet man gerne TRAUER-ARBEIT.

In diesem Krieg habe ich die Invasion korrekt vorausgesagt (es zahlte sich aus, dass ich mir jahrelange die Schrei-Sendungen im ruzzländischen Propaganda-Fernsehen angesehen hatte), außerdem den erfolgreichen Widerstand der Ukrainer, und nach der gewonnenen Schlacht bei Kyiv, dass „die ruzzen jahrelang massenhaft im Donbas verbluten werden“ (siehe mein veröffentlichtes Tagebuch und Interviews u.a. mit Radio Bremen und dem WDR).
Völlig falsch eingeschätzt habe ich die Stärke der Luftwaffe ruzzlands. Da habe ich mich blenden lassen von angeberischen Reden in Moskau, wo man den Eindruck erweckte, man könnte Dutzende ukrainische Städte innerhalb weniger Tage in Steinwüsten wie in Aleppo verwandeln.
Ebenso war mir nicht bekannt, in welch starkem Maße die ruzzen auf die Eisenbahnwege angewiesen sind. Ich hatte befürchtet, auf unser Poltawa beispielsweise könnten ganze Panzerarmeen vorstoßen, und zwar „querfeldein“.
Ebenso habe ich das Verhalten des Westens falsch eingeschätzt. Aber ich prognostiziere, dass man die „pazifistische Selbstverblendung“ noch bitter bereuen wird und dass man schlussendlich lernen wird sich gegen das faschistoide ruzzland sich mit Waffengewalt zu behaupten – schlichtweg, weil man überleben will, nicht wegen „westlicher Werte“, die ja eigentlich universelle sind.

Eine Prognose, von der ich nicht weiß, ob ich sie als Erfolg verbuchen kann oder nicht, stammt ebenfalls aus dem Jahr 1989, von meiner Geburtstagsfeier am 11. November, als 1,5 Tage nach dem Einsturz der Mauer: dass wir, wenn wir Rentner sind, wieder in Kellern sitzen und bei Bombenangriffen in ihnen Schutz suchen werden. Aber ich werde erst in vier Jahren Rentner, und ich suche jetzt schon in Kellern Schutz vor Bomben. Aber ich mache des quasi freiwillig. Zählt das oder zählt das nicht?

Themen: Russland - Ukraine

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