Balzac auf der Flucht in die Ukraine

Heiß ist dieser 29. Mai in der zentralen Ukraine, der zwölfte Tag meiner Fahrradreise von Berlin an die Wolga. Ich fahre zwischen den Dörfern Buriaky und Brodjeskje im Winnitzka Oblast. Vor mir eine Staubwolke, ein Bagger, ein LKW – dort wird eine Bushaltestelle abgerissen!
Schluss! Pause! rufe ich schon von weitem. Ich lasse mein Fahrrad ins Gras fallen, rufe dem Baggerfahrer zu, er soll zurückfahren, und fotografiere. Die rechte Seitenwand und auch ein Teil der Rückwand stehen noch, beide mit Mosaiken verziert. Einer der Arbeiter warnt mich, die Wände könnten einstürzen. Aber für die Kunst muss man bekanntlich manchmal sein Leben einsetzen, also lache ich den Mann aus und sage: Dieses fantastische Bild ist viel wichtiger!
Er guckt, als wisse er noch nicht, ob ich eine engelhafte Erscheinung oder wirklich mit dem Fahrrad aus Deutschland zu ihm auf die Landstraße geradelt bin, um seine Arbeit zu kritisieren.
Zu seiner Beruhigung zeigte ich ihm Fotos von anderen schönen Bushaltestellen der Ukraine.
Ich bin wirklich ein Bushaltestellen-Archivar, glauben Sie mir! Hat Ihre Brigade einen Namen?
Nein, sagte er, wir arbeiten für wenig Lohn, wir wohnen in den umliegenden Dörfern. Wir sind froh, dass wir diese Arbeit haben. Für einen Namen können wir uns nichts kaufen, und einen Orden gibt es für diese Arbeit nicht mehr wie früher.
Ich fotografiere weiter, auch den lachenden Mann auf der Baggerschaufel, der einige Meter schräg über uns für das Foto lachend die Arme ausstreckt.
Der Mann, mit dem ich spreche, ist der Brigadier, er betrachtet ausgiebig mein Fahrrad mit dem Gepäck, er hört sich meine Erklärung an, wofür ich Schlafsack und Zelt verwende, und langsam versteht er wohl.
Verrückt, sagt er.
Ich bin froh, dass ich Sie treffe, antworte ich. Vor einem Jahr traf ich zwei Mosaikleger, die gerade eine neue Haltestelle mit Mosaiken neu gestalteten!
Hier wird auch eine neue Haltestelle mit Mosaiken aufgebaut.
Wirklich? Ich komme in sechs Wochen zurück und werde es sehen!
Das können Sie! Sie werden staunen! Wieder eine Haltestelle mit Mosaiken!
Aber Sie kennen noch nicht das Motiv?
Nein, natürlich nicht, die Künstler werden uns überraschen!

Die Ukraine ist im Grunde ein Freilichtmuseum, man kann das Land von Bushaltestelle zu Bushaltestelle bereisen und wird reich belohnt allein durch den Anblick der Wartehäuschen. Am Morgen hatte ich in Scherepki bereits eines der faszinierenden Kunstwerke entdeckt. Der oder die Mosaikleger müssen spaßige Leute gewesen sein. Sie hatten steinerne Vögel an die Wände geklebt. Die Vögel bequatschten eine Eule in ihrer Mitte, die sowohl als Figur der Weisheit als auch als ungebetener Eindringling angesehen werden konnte.

Ein paar Stunden später steht am Straßenrand ein Schild: Literarisches Geschichtsmuseum Balzac. Ich habe offenbar einen Sonnenstich. Ich fahre zurück, lese noch einmal: Literarisches Geschichtsmuseum Balzac. Neben dem Schild picken Hühner im Gras, eine Ziege betrachtet mich etwas er- staunt, auf der anderen Straßenseite rufen drei Frauen: Kommen Sie! Feiern wir!
Ganz nüchtern sind sie nicht mehr. Ich rolle zu ihnen rüber, die Älteste betastet erst meine Wade, dann glaubt sie, dass ich von weit her komme. Tatsächlich, sie bestätigen es, hier soll es ein Balzac-Museum geben, am Ende des Dorfes. (Auszug) 29.05.08

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Themen: Russland - Ukraine

Ein Kommentar to “Balzac auf der Flucht in die Ukraine”

  1. Boxpony schreibt:
    1st.September 2008 um 15:45

    …die neue Mosaik-Bushaltestelle wird wohl dein Traum bleiben, fahr nur nächtes Jahr wieder hin und schau dir den normierten Betonbau an…ich wette 100 Hrywnja!

    Gruß Michael

Kommentare

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