Ziegen vor Telmanovje, 23.07.2007
Ich fuhr durch den Donbass, ich hatte die Nacht bei einem Afghanistan- kämpfer und Waffenhändler verbracht. Ich hatte Kopfschmerzen, auch zwei Aspirin-Tabletten halfen nicht. Es nieselte, ein paar Kilometer weiter zogen Gewitter über die Felder. Ich fand ein Magazin (Dorfgeschäft), in dem ich mit zwei Babuschkas schwatzte. Ich trank Kwas, fuhr weiter. Es nieselte stärker. Ich ärgerte mich, weil ich im Magazin nicht fotografiert hatte – wenn man höflich fragt, wird es meist auch gestattet. Aber es sind so viele Motive, die ich gern fotografieren würde!
Unbedingt die schönsten Ziegen! Ich sah Geschöpfe, die nur der Herrgott geschaffen haben kann, Ironiker und Defätisten, Häretiker! Eine Ziege, da bin ich mir sicher, war eine Wiedergeburt von Aristoteles. Auch die Platonsche Schule war stark vertreten, Nietzscheaner hingegen eher selten. Und überraschend viele Karl-Valentin- und Liesl-Karlstadt-Figuren. Zwar war keine Ziege auf einer ausländischen Bananenschale ausgerutscht, aber wenn die Aufgabe erfüllt werden sollte, die eigenen Ideen mit Starrsinn durchzusetzen, hatte manche bühnenreife Auftritte.
Die geistige Überlegenheit der Ziegen über Kühe oder Schafe scheint enorm. Unter den Kühen gibt es viele Hegelianer, die nur zwei Gedanken geradeaus zu fassen vermögen, diese aber werden ausführlich mit These und Anti-These gefüttert und wieder und wieder durchgekaut. Die Schafe sind im Allgemeinen ängstlich, Schattenwesen wie Franz Kafka. Zur Ehre der Tiere sei gesagt, dass ich auch nicht wüsste, wie ich mich als Kuh verhalten sollte, wenn ich einen bunten Radfahrer sähe, mit einem schwarzen Helm auf dem Kopf, einen singenden, redenden Radfahrer, der so laut spricht, als würde ein großes Auditorium ihm zuhören, der lacht und wieder singt, sogar in einer nie gehörten Sprache, MEIN HERZ BRENNT. (Das Gehirn ist der Trainingsplatz für die Spiele des Bösen!)
Es nieselte also weiter, und ich dachte: Wenn ich schon durch eine verlorene Gegend fahre, sollte ich auch eine verlorene Stadt besuchen. So kam ich nach Vugledar.
Ich schiebe mein Fahrrad auf den Markt. Ein Limonadenverkäufer preist seine Ware so freundlich an, als wäre sie ein Heilmittel gegen schlechte Laune. Ich trinke einige Becher von dem blassen Zitronen- und Himbeerwasser. Mischa, der Verkäufer, erzählt, dass er mehr als dreißig Jahre unter Tage arbeitet habe. Er meint, ich müsse unbedingt mit ihm frühstücken und ein Gläschen mit ihm trinken. Da es nun heftig regnet, bin ich nicht abgeneigt. Er holt mir einen Stuhl, wischt einen Tisch trocken und berichtet den Verkäufern von den Nachbarständen, wo ich herkomme. Der Kollege von nebenan spendiert frisch gebrühten Kaffee, andere überbringen Wurst, Tomaten, Gurken. Bezahlen darf ich nichts. Den Samogon, das ukrainische Nationalgetränk, hat Mischa unter den Limonadenbehältern versteckt. Es ist selbstgebrannter Wodka, er kann einen Alkoholanteil von 60-90 % haben. Mischas Hausgetränk hat wohl erträgliche 60.
Es wird eine längere Pause. Mischa erzählt, dass er bis vor kurzem Marktleiter war, doch man habe ihn abgesetzt, er sei Opfer einer Intrige, er habe ehrlich gearbeitet. Mit dem Verkauf seiner Limonade wolle er kein Geld verdienen. Wichtig sei ihm, dass die Leute gern zu ihm kämen. Sergej, mit dem er seit vierunddreißig Jahren befreundet ist, setzt sich zu uns, auch er ist Pensionär, arbeitet aber noch in der Wohnungsverwaltung.
Und dann schimpfen sie gemeinsam: Gorbatschov habe alles kaputt gemacht, unter Breschnev habe es keine Arbeitslosen und keine Drogensüchtigen gegeben. Hier auf dem Markt sehe man, dass sich alle Nationen verstehen könnten. Nebenbei kommen immer wieder Kinder, die sich Limonade einschenken, ohne dass Mischa unser Gespräch unterbricht.
Nur ungern lässt mich er mich fahren. So oft ich auch widerspreche, fünfzig Limonadenpäckchen muss ich mitnehmen, auch Wurst und Äpfel, auch ein Fläschchen Samogon, obwohl ich ihn sicher nicht trinken werde.
Themen: Tour de WolgaKommentare geschlossen.