Schuld und Unschuld des Josef K.

FOLIE: Franz Kafkas Weg zum Romancier – Franz Kafka war nicht nur ein Sprachmagier, er war auch ein literarischer Dieb. Er stahl dort, wo er liebte, bei Dostojewskij vor allem. In seinem Roman Der Process gibt es für neun der Figuren literarische Vorbilder. Das Werk enthält in seiner bekannten Form die Variation eines gänzlich anderen Romans, nämlich Verbrechen und Strafe oder Rodion Raskolnikoff, wie der Titel der von Kafka gelesenen Ausgabe lautet. Josef K. wird begleitet von einer literarischen Figur, die oft das Gleiche sagt wie K., die oft die gleichen Ängste und die gleichen Hoffnungen hat. Er durchlebt die Geschichte eines Mörders, ohne einen Mord begangen zu haben.

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Der Process beginnt im Zimmer von Josef K. „Die Köchin der Frau Grubach, seiner Zimmervermieterin, die ihm jeden Morgen gegen acht Uhr früh das Frühstück brachte, kam diesmal nicht.“ Über Raskolnikoff heißt es: „Die Hauswirtin hatte schon vor zwei Wochen aufgehört, ihm Essen bringen zu lassen, und es war ihm bisher noch nicht eingefallen, hinzugehen und mit ihr darüber zu sprechen, obgleich er ohne Essen dasaß.“ Raskolnikoff beauftragt die Köchin und Magd Nastasja, ihm Brötchen und Wurst zu kaufen. Auch K. verlangt: „Anna soll mir das Frühstück bringen“.

Keine konkrete Tat

Doch Josef K. wird gleich verhaftet, „ohne dass er etwas Böses getan hätte“. Raskolnikoff, von dem der Leser weiß, dass er ein Mörder ist, verhält sich verdächtig und es geschieht ihm nichts. Dostojewskij lässt den Leser teilhaben an der Aufdeckung eines Verbrechens, Kafka parodiert sowohl die Aufdeckung als auch das Verbrechen, indem dieses keine konkrete Tat sein muss.

Kafka nutzt in seinem Roman die Perspektive des Untersuchungsrichters Porphyri, der Raskolnikoffs Doppelmord untersucht. Aus der Sicht Porphyris ist Raskolnikoff unschuldig. Alle Verdachtsmomente – die Betroffenheit über den Mord, die Verteidigung des Mordes durch eine Theorie – ließen sich auch mit seiner Krankheit, seinem hohen Fieber erklären, der besonderen Empfänglichkeit für phantastische Eindrücke in einem solchen Zustand. Porphyri ist auf Spekulationen angewiesen.

Unter dieser Voraussetzung betrachtet, verblüfft die Vielzahl der Anspielungen, die im Process wiederkehren. Porphyri ist eine geradezu kafkaeske Figur. Er betreibt die Untersuchung des Mordes wie eine Liebhaberei, wie ein eigentlich zweckfreies Vergnügen. Er bittet um Verständnis für seine schlechte Gesundheit, möchte den möglichen Doppelmörder am liebsten als Krankenpfleger anstellen. Er wohnt, wie Kafkas Untersuchungspersonal, im Gerichtsgebäude. Er spielt sich als guter Freund auf, fast als Helfer in der Not. Man kennt sich auch privat – Rasumichin, Raskolnikoffs Freund, ist ein Verwandter Porphyris.

Auch im Process ist eine der unheimlichen Konstanten die Vermischung der privaten mit den Gerichtsorten. Der Advokat nutzt sein Schlafzimmer als Büro, in dessen Arbeitszimmer betrügt ihn K. mit Leni, das Gericht tagt auf dem Dachboden eines Mietshauses. Die meisten der Eigenschaften Porphyris hat der Advokat Huld übernommen. Auch Huld ist bettlägerig, bietet Hilfe an, prahlt mit seinen guten Beziehungen zum Gericht, mit seinen Möglichkeiten und Kenntnissen. K. denkt über den Advokaten, als er bemerkt, wie nachlässig dieser seine Verteidigung betreibt: „Vor allem hatte er ihn fast gar nicht ausgefragt. Und hier war doch so viel zu fragen. Fragen war die Hauptsache. K. hatte das Gefühl, als ob er selbst alle hier nötigen Fragen stellen könnte.“ Porphyri meint zu Raskolnikoff, als dieser ihn auffordert, ernsthaft über den Mord zu sprechen: „Worüber soll ich Sie denn fragen … alles sind doch bloß Kleinigkeiten. Ich bin im Gegenteil so froh, daß Sie gekommen sind!“

Alles Gute

Auch der Advokat ist mit Josef K. bekannt – dessen Onkel ist ein guter Freund. Verwandtschaft und Freundschaft verbinden in beiden Romanen die wichtigsten Gegenspieler. Der Advokat beteuert: „Sie sind mir im Laufe der Zeit lieb geworden.“ Porphyri versichert: „Ich habe Sie wirklich gern und wünsche Ihnen aufrichtig alles Gute.“ Der Advokat nennt den jüngeren Josef K. „einen soviel ältern und erfahrenen Mann“, Porphyri bezeichnet den ebenfalls jüngeren Raskolnikoff als „Väterchen“.

Schuld als Zustand

Kafka nutzte Dostojewskijs Roman als Folie, überschrieb manche Szene, malte Details aus, „kritzelte“ manchmal auch nur, indem er assoziative Verknüpfungen zuließ. Er durchleuchtete die Unschuld seines Helden mit den Instrumentarien für den Ernstfall, für eine wirklich verdammenswerte Tat. Porphyri meint, der Täter komme sowieso zu ihm, er könne mit seiner Schuld gar nicht leben.

Diese Konstellation erhöht den Druck des Gewissens auf Raskolnikoff. Mit allgemeinen prozessualen Gepflogenheiten wäre sie nicht zu erklären, denn auch ein russischer Untersuchungsrichter des 19. Jahrhunderts benötigte mehr als Vermutungen, um einen Mörder der Tat zu überführen. Je schwieriger der juristische Nachweis der Schuld, desto stärker bleibt der Täter allein mit ihr.

Raskolnikoff fordert von Porphyri: „… ich will endgültig wissen, ob sie mich frei von jedem Verdacht finden oder nicht?“. Woraufhin Porphyri antwortet: „Warum beunruhigen Sie sich in dieser Weise? Warum drängen Sie sich uns auf, aus welchen Gründen?“ Er könnte auch wie der Geistliche im Process sagen: „Das Gericht will nichts von dir. Es nimmt dich auf, wenn du kommst, und es entläßt dich, wenn du gehst.“

Vergeblich wünscht Raskolnikoff: „Wenn Sie mich fragen wollen, dann nicht anders als nach der gesetzlichen Form!“. Ebenso vergeblich, wie K. von dem Gericht eine gesetzliche, verlässliche Form erwartet. Vor dem Gesetz kann der Mann vom Lande ewig warten. Den Angeklagten hilft es gar nicht, dass ihnen in beiden Romanen eine hohe Kompetenz zugestanden wird, das eigene, so schwer zu überschauende Verfahren beurteilen zu können.

Porphyri sagt: „Ich habe Ihnen selbst alle Mittel zur Verteidigung genannt und ausgeliefert, habe selbst Ihnen die ganze Psychologie erklärt, habe Krankheit, Fieberwahn, Kränkungen, Melancholie und Polizeibeamte und dergleichen mehr erwähnt!“ Nichts anderes hat der Advokat getan, der K. erklärt: „… ich wollte aber noch hinzufügen, dass ich bei Ihnen mehr Urteilskraft erwartet hätte als bei den andern, besonders da ich Ihnen mehr Einblick in das Gerichtswesen und in meine Tätigkeit gegeben habe, als ich es sonst Parteien gegenüber tue.“

In beiden Romanen sind es die ihrem Status oder Verhalten nach käuflichen Damen, die im Geständnis einen Ausweg aus der Schuld sehen. Die hurenhafte Leni sagt zu Josef K.: „… man muss das Geständnis machen. Machen Sie doch bei nächster Gelegenheit das Geständnis.“ Es ist das einzige Mal im Process, dass K. diesen Ratschlag erhält. Raskolnikoff aber wird von Sonja aufgefordert, ein Geständnis abzulegen. Er klagt, „wollen sie nicht mal verbergen, daß sie wie eine Koppel Hunde mich verfolgen.“ Porphyri jedoch behauptet: “ … ich bin nicht dazu hergekommen, um Sie zu hetzen.“ Im Process sagt Leni, die Pflegerin des Advokaten, zu K.: „Sie hetzen Dich.“ „Ja“, antwortet K. „sie hetzen mich.“

Porphyri genießt die unklare Situation, in der Raskolnikoff sich befindet. Er, der seine Laster beklagt, sieht sich als das Licht, dessen Gnade der Verbrecher bedarf, sollte er sich auch „zu Tode zappeln“. Er ist Sachverwalter der Schuld Raskolnikoffs. Die Schuld ist kein Faktum, sondern ein Zustand, den Raskolnikoff unabhängig von seinem Aufenthaltsort zu ertragen hat.

Dem Gericht wird er, wie Josef K., überall begegnen, auch in den geheimsten, kaum faustgroßen Winkeln hinter der Tapete, wo er den blutigen Strumpf versteckte. „Wenn Sie fliehen werden, kehren Sie selbst zurück. Ohne uns können Sie nicht auskommen“, meint Porphyri gelassen. Im Process äußert der Advokat gegenüber Josef K.: “ … es ist oft besser in Ketten als frei zu sein.“

Eine Verhaftung, so Porphyris Befürchtung, würde Raskolnikoff moralisch stärken. Die Ankunft in der Schuld wirkt als Erleichterung. In beiden Romane sprechen ausgerechnet die leichten Damen von der Würde der Schuld, nur sie trösten die Helden. „Dann“, nach dem Geständnis, meint Sonja, „wird dir Gott wieder Leben senden“. Leni aus gleichem Anlass: „… dann ist die Möglichkeit zu entschlüpfen gegeben, erst dann“. Beide Helden sollen der Justiz mit einer Bereitschaft zur Selbstverurteilung helfen. „Der Gedanke, daß Porphyri ihn für unschuldig hielt, begann ihn zu peinigen“ heißt es über Raskolnikow – wie Josef K. „die wiederholte Erwähnung seiner Unschuld schon lästig“ wird. Raskolnikoffs zumindest angedeutete Läuterung im Epilog des Romans ist Josef K. nicht erreichbar – nicht weil er sich der Einsicht versperrt, sondern weil die Reue Schuld voraussetzt.

Wo K. das Innere des Gesetzes sucht, trifft er lediglich auf Leere und Infantilität. Richter lesen pornographische Schriften, das Gericht tagt hinter Wäscheleinen, und ein Gesetzesdeuter wie der Maler Titorelli lebt in einer zugigen Dachstube, durch die Bretterlücken pfeifen die Kinder. Dem Gesetz fehlt jede innere Begründung, es bestätigt sich in einer ewigen Steigerung immer nur selbst. „Der ›Prozeß-Roman‹, schrieben Gilles Deleuze und Felix Guatarri, „ist die Demontage jeder transzendentalen Rechtfertigung“. Logik, Vernunft, gar Gerechtigkeit, darf man nach dieser Demontage nicht erwarten. In der historischen Zeit begann sie 1917 – 1918, mit der Oktoberrevolution und der Abdankung des Kaisers in Deutschland, im Namen der Gleichheit und im Namen der Freiheit. Beide verweltlichen das Gesetz.

Franz Kafka notierte, als er seinen ersten Roman Amerika schrieb: „Meine Absicht war, wie ich jetzt sehe, einen Dickens-Roman zu schreiben, nur bereichert um die schärferen Lichter, die ich der Zeit entnommen hätte, und die matten, die ich aus mir selbst aufgesteckt hätte.“ Indem er den unschuldigen Josef K. den Ritualen der Verfolgung und der Observation aussetzte, die an dem Mörder Raskolnikoff bereits erprobt waren, nutzte er das gleiche Verfahren.

Erziehung zum Affen

Der von Kafka beschriebene Ausnahmezustand ist heute Normalität. Das Land führt Krieg, weiß aber nicht, gegen wen, und finanziert wird der „Feldzug gegen den Terror“ mit Hilfe der Tabaksteuer, weshalb das Rauchverbot als Sabotage an der Heimatfront bewertet werden müsste. Die Retter, die durch die Geschichte reiten, haben keinen Humor, meinte Franz Kafka, der wohl härteste Vorwurf, den man den westlichen Demokratien derzeit machen kann. Das Quotendenken und die Teamarbeit ermöglichen und erzwingen in der Arbeitswelt eine Prinzipien- und Verantwortungslosigkeit, die freiberufliche Einzelkämpfer am besten mit wedelnder Hand vor der Stirn kommentieren sollten, aber nicht mit Worten. Etwas Unbekanntes gibt es sowieso nicht mehr zu entdecken, behauptet der Medienkonsument, der im Mietshaus den Nachbarn hinter der Treppe nicht kennt, der aber genau weiß, dass der Schleusenwärter vom Dnjepr ein Bandit ist. Die Industrialisierung des Bewusstseins durch immer neue Medien gleicht der Erziehung zum Affen Rotpeter, der keiner Akademie mehr berichtet.

Christoph D. Brumme

Erschienen am 11.07.2008 im „Freitag“: http://www.freitag.de/2008/28/08281801.php

Siehe auch: http://www.kafkaesk.de/106.html

Themen: Literatur

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