Ziegenbock 2010
Ein neues Jahr, 2010. Diese sympathische Zahl lässt Raum für Deutungen. Sie symbolisiert Klarheit, kristalline Erwartung, Skepsis und Öde. Das ermü- dend Dumme wird ermüdend dumm bleiben, die Trägen werden nicht ren- nen.
Ich bastle seit drei Wochen an den Fotos für die Ausstellung im Russischen Haus. 99 Fotos möchte ich zeigen, davon 53 Bushaltestellen bzw. Menschen in BH. Jeweils 3 Fotos sollen sich zu einem Motiv verbinden, evtl. ein Mal 6 Fotos zu einem Motiv („Bruderkampf“ mit Darsteller Alexander Sergejevitsch aus Saratov).
Beim Sichten der Fotos: Ich finde noch Schätze, die ich bisher nicht beachtet hatte. So diesen Ziegenbock, der sich mit Gras schmückt, ein weiser Narr und Bruder im Geiste. Man beachte, wie geschickt der Darsteller Licht und Schat- ten nutzt, um sich von seinen besten Seiten zu zeigen. Die Hörner müssen natürlich vor dem schwarzen Hintergrund glänzen, der eigene Schatten muss auf einer sonnigen Fläche liegen, die schwere Sträflings- kette soll auch jeder sehen, und der Schatten auf dem Bauch soll bitteschön in den schattigen Streifen auf dem Gras fließend übergehen. Die Augen liegen im Dunkeln, man zeigt nicht, was man sieht.
Ganze drei Minuten dauerte es, den Bock in diese Position zu bringen, zuvor stand er noch ungeschickt, wie das zweite Foto zeigt, das ich hier nur aus dokumentarischen Gründen zeige. Auch die Kuh zeigt hier ihre beste Seite – dies zum fotografischen Thema „der störende Punkt“.
In Saratov kann man das schöne Gemälde auf dem dritten Foto betrachten; auf der Mauer neben dem Radistschew-Museum, am Teatralnaja ploschad, wo es derzeit recht kalt ist, minus sechzehn Grad.
Wer übrigens das Fotograsfieren lernen möchte, sollte sich für 50 Euro „Das Foto“ von Harald Mante zulegen und studieren, die ersten 40 Seiten nur über den Punkt im Foto. Es lohnt sich sehr, und die Fotos sind brillant. Man lernt nebenbei noch universelle ästhetische Regeln, auch solche, die in der Literatur gern als „nicht vorhanden“ bezeichnet werden. (So braucht jedes Kunstwerk einen klaren Anfang. Oder: Ein Kunstwerk hat immer Grenzen, physische, optische, zeitliche oder akustische. – Ein Foto hat immer einen Horizont, auch wenn der nicht zu sehen ist – denn dann ist der Bildrand der Horizont. – Schade, dass heute an den Unis und in den Redaktionen zumeist spartenspezifisch gedacht wird. In den 1930 war es Standard, Kunstbetrachtungen in mehrfachen Perspektiven auszuüben, man denke an Oswald Spengler, Egon Friedell, Walter Benjamin, an Georg Lukasz, den Schöpfer der Formulierung „transzendentale Obdachlosigkeit“, die bis heute ein feines Skalpell ist.)
Themen: Tour de WolgaKommentare geschlossen.