Das Pendel schwingt (2)

Auf der Trasse, noch 60 km bis Zaporoshje. 14.30 Uhr, Pause in einem Restaurant. Es gibt Okroschka, die herrliche Sommersuppe. Ich esse noch einen Salat Kapusta, trinke ein Bier, lese wieder Heiner Mueller.
„Aber das Wesentliche ist, dass diese Demokratie genannte Struktur alles, jeden Widerstand, verarbeiten und eigentlich alles essen kann. Sie … staerkt sich durch jede Opposition. – Wenn eine Sache einfach sein soll, dann muss sie minutioes gearbeitet sein. Das Einfache erfordert mehr Arbeit als das Komplexe, Komplizierte. – Wenn man weiss, was man macht, sind die Impulse schwaecher.“
Die Kellnerinnen wollen reden, ich nicht. Knappe Antworten, ja, aus Berlin usw.
Wasser auffuellen, weiter. Endlich, quasi als Lohn, finde ich auch einige spannende Mosaike. Jetzt soll ich also meine neu erlernten fotografischen Kenntnisse anweden. Puh – die Haende zittern, die Sonne blendet.
Wie lange werde ich heute fahren? Gegen 18 Uhr werde ich in Zaporoshje sein, bei Kilometer 160 etwa. Bis Novosilka, wo Vasja wohnt und wo ich morgen sein moechte, sollten es etwa noch 130 km sein. Sollte ich die Nacht durchfahren, einen neuen Rekord versuchen? Ich wollte doch vernuenftig sein, altersgerecht zurueckhaltend strampeln. Aber jedes Mal, nachdem ich mich verfahren habe, setzt der Trotz ein. Muede bin ich nicht, nur das Gesaess schmerzt, die neue Hose passt nicht gut, die alte war zerschlissen. Auch habe ich die falsche Wundsalbe mitgenommen, leider nicht die wirksame Calendula-Creme.
Zaporoshje hat einen wunderschoenen, kilometerlangen Boulevard. Ich trinke erst einen Liter Kirschsaft, dann ein Bier im Park. Die Verkaeuferin kennt den Ausgang nach Donezk nicht, ihre beiden Kolleginnen ebenfalls nicht, nicht einmal die Richtung koennen sie zeigen. Ein Taxifahrer kann es erklaeren.
Die Anstiege loesen jetzt Fieberschuebe in den Beinen aus. Ich trinke noch einen Liter Kirschsaft und einen Yogurt. Lerne Vokabeln: Ja stoju v tjeni, Ich stehe im Schatten – sten ja ne snal, tolko sonze. (Kafka ueber Kierkegaard, er in der Sonne, ich im Schatten, wie lautete dieses Zitat?). Geduld: Terpenije.
Es wird Nacht, ich bin auf der Donezker Trasse, ein Mosaik kann ich nur im Dunkeln fotografieren. Was ist das, ein Hammel mit feurigem Stern auf der Stirn? (Foto) Ich rufe Vasja an, er arbeitet auf dem Bau, fuer Bier und Zigaretten, das Essen kommt aus dem Garten.
Es wird kuehl, ich ziehe mir die Jacke ueber. Vielleicht haette ich mehr Wasser mitnehmen sollen. Brot und Knoblauch habe ich als Notration. Die Strasse bin ich schon einmal gefahren, hier gibt es nicht viele Moeglichkeiten zur Einkehr. Bevor ich laenger darueber nachdenke, steht doch eine Bude am Strassenrand. Ich esse eine Schuessel Borschtsch, Kartoffelbrei mit Gulasch, trinke ein Bier, fuelle das Waschwasser auf.
Die Kneipengaenger befragen mich, einer hat in Saalfeld bei der Armee gedient. Sie halten mich fuer einen Russen aus dem Baltikum, was ich mittlerweile schon gewoehnt bin. Dass sich ein Deutscher hierhei wagt, zumal nachts und auf dem Rad, wollen sie anfangs nicht glauben.
Nebenbei wieder Heiner Mueller. Sehr schoen die Beobachtung (oder Behauptung?), dass im Mittelalter die Kinder nicht geschlagen wurden, man hatte ja oeffentliche Hinrichtungen und konnte die Irrenhaeuser besuchen. Das Ekelthema laesst mich nicht los. Es galt als Kriegsgrund, dass in Bosnien 20.000 Frauen vergewaltigt wurden, da bombadierte die NATO Belgrad, um den Bruch des Voelkerrechts zu erproben. Da in Deutschland Jahr fuer Jahr bis zu eine Million Kinder schwer misshandelt werden, wuerde es demnach auch dem Irak erlauben, zum Schutz der deutschen Kinder ein paar Langstreckenraketen abzufeuern.
Aber immerhin ist das „Thema“ nach Jahrzehnten in die Oeffentlichkeit gelangt; die Gesellschaft nimmt ganz zart ihre Barbarei zur Kenntnis, ein pruegelnder Alkoholiker-Bischof ist gegangen worden. Als mein Roman „No“ 1994 erschien, schrieb B.S. in der „FAZ“, solch sadistische, schweinische Vaeter wie der von mir geschilderte koenne es nur in einer Gesellschaft ohne Oeffentlichkeit geben. Der Arme kannte die Wirklichkeit der BRD nicht.
Offene Gesellschaft, das ich nicht lache, welch dummes Klischee. Ueberhaupt, diese Oeffentlichkeit. Selbst der unglaublich kluge, unglaublich belesene A.W. stellte nach Ausbruch der Finanzkrise erstaunt fest, man lebe wohl doch in einer Gesellschaft mit einem falschen Bewusstsein, all die Einbilderei von wegen Selbstkritik sei fuer die Katz. Welch wahnhafte Idee, eine Gesellschaft koenne, ausser in euphorischen Momenten, ein „richtiges“ Bewusstsein von sich selbst entwickeln, aushalten. Krank, wahnhaft, hybrid.
Ach, ich will nicht schimpfen, will mir das Schimpfen abgewoehnen, aber wie denn, wenn eine schwachsinnige Behoerde mich als „Arbeitslosen“ kriminalisiert, wenn gleichzeitig grosse Zeitungen den Diebstahl automatisert haben und das Urheberrecht schon gar nicht mehr als Witz bezeichnet werden kann, die zustaendige Ministerin davon noch weniger versteht oder verstehen will als ich. Wenn, wenn, wenn …
Das Licht am Fahrrad jedenfalls funktioniert, gut einhundert Meter weit kann ich den Strahl auf den Baeumen sehen; Loecher im Asphalt allerdings sind nicht klar oder spaet zu erkennen.

Themen: Tour de Wolga

3 Kommentare to “Das Pendel schwingt (2)”

  1. Nadja schreibt:
    27th.Juni 2010 um 17:06

    Das gefällt mir gut: knapp und grimmig (weil unterwegs in ein kleines Gerät getippt), und mir gefällt der Satz, dass die Iraker sich berechtigt sehen könnten,“zum Schutz der deutschen Kinder ein paar Langstreckenraketen abzufeuern“ – wer sagt es aber, H. Müller oder Ch. Brumme?

  2. Nadja schreibt:
    27th.Juni 2010 um 17:12

    Mein Gott, auch mein Urheberrecht wurde jetzt verletzt – wo bleibt mein Kommentar? Im Kommentar habe ich die grimmige Knappheit des Stils gelobt und nach dem Autor des Satzes über das eventuelle Recht der Iraker gefragt, die sich logischerweise befugt fühlen könnten „zum Schutz der deutschen Kinder ein paar Langstreckenraketen abzufeuern“.

  3. Honigdachs schreibt:
    4th.Juli 2010 um 12:33

    Nadja, die Formulierung / der Gedanke stammt von mir. Aber ich habe unterwegs nicht in ein kleines Geraet getippt.

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