Das Gesetz
Ankunft in Saratov. Zunaechst goenne ich mir einen Herrentag mit meinem Rentnerfreund Alexander Sergejevitsch. Dieser kleine Mephisto lacht so gern wie ich, wir ziehen kichernd durch die Strassen, trinken in der Gorkogo ul. ein erstes Bier. Die Bierverkaeuferin kennt er mindestens schon seit Jahrhunderten, noch aus alten Schmugglerzeiten, da man ueber den Staat noch Witze reissen konnte, weil er gefaehrlich war. Aber heute – ach, es ist nur eine Handbewegung wert.
“Es soll ein neues Anti-Alkohol-Gesetz in Russland geben?” frage ich ihn. “Durfte man in der Sovjetunion auf der Strasse Bier trinken?”
“Es gab drei Moeglichkeiten”, erzaehlt er. “Wenn ein Milizionaer kam, sagte man: Oh ja, sie haben recht, ich darf kein Bier auf der Strasse trinken – und man warf die Flasche in den Papierkorb. Oder man sagte: Ich bin ein guter Arbeiter, ich erhole mich, weshalb soll ich kein Bier trinken? Dann antwortete der Milizionaer: Was, Sie verstossen gegen das Gesetz, sie verletzen die sozialistische Moral, kommen Sie mit! Und die dritte Moeglichkeit: Man sagte zu dem Milizionaer: Kennen Sie – zum Beispiel – Vladimir Grigorjevitsch, ein Kollege von Ihnen, ein hoher Offizier? – Ah, Sie meinen? – Ja, diesen Vladimir Grigorjevitsch. – Erholen Sie sich, Genosse Buerger, schmeckt Ihnen das Bier?”
Am naechsten Tag habe ich Gelegenheit, meine Kenntnisse anzuwenden. Mit einer Flasche Bier in der Hand sitze ich Zeitung lesend vor dem Radistschev-Museum. Zwei Milizionaere schlendern den Weg entlang, geradewegs auf mich zu. Sie werden doch wohl nicht, wie zu seligen Sovjetzeiten? Doch, sie pflanzen sich breitbeinig vor mir auf, zwei fiese Schlaegertypen, feige Bleichgesichter, die nur darauf warten, mir nach einem falschen Wort in die Eier zu treten.
“Sie wissen, dass Sie hier im Park kein Bier trinken duerfen? Das kostet Strafe.”
“Strafe?”, frage ich. “Wie viel?”
“500 Rubel. (13 Euro). Haben Sie Dokumente?”
“Ich bin ein Tourist.”
“Woher?”
“Aus Berlin. Bei uns gibt es solch ein Gesetz nicht.”
Ich schmeisse die Bierflasche in den Papierkorb.
Sie verzichten auf weitere Fragen, so dass ich Variante drei nicht ausprobieren kann, den ich kenne doch einen ihrer Ausbilder ganz gut.
Drei Baenke weiter erwischen sie eine Gruppe Schueler. Die sind ebenso brav wie ich, sie lassen sich belehren und spazieren mit roten Koepfen an mir vorbei.
Was ist nun bloeder und sinnloser, ueberlege ich, das deutsche Sozialrecht, das die Krankenkasse ermaechtigt, mir mit Stasi-Methoden hinterher zu schnueffeln und von mir Erklaerungen zu verlangen, weshalb in Russland zwar arbeite, aber kein Geld verdiene, oder dieses Alk-Gesetz, das nur im Stadtzentrum durchgesetzt warden kann, schon gar nicht mehr in den angrenzenden Bezirken, die man nach einer 10-minuetigen Fahrt mit der Marschrutka erreicht?
Die Antwort lautet: Je grosser die Widersprueche, die ein Staat auszuhalten hat, desto stupider die Buerokratie, die eben diese Widersprueche zu ueberdecken und zu verkleben versucht. Bier wird hier auch auf der Strasse verkauft, aber 100 m weiter ist Park, da darf man es nicht trinken.
Im Café findet man eine elegante Loesung, das Gesetz zu umgehen. Ich bestelle Espresso und Ararat, armenischen Kognak, die Kellnerin nimmt die Bestellung an, doch wenig spaeter entschuldigt sie sich. Sie duerfe den Ararat nicht auf der Strasse servieren, nur Bier und Wein duerfe hier getrunken werden, doch hinter der Glasscheibe, im Innern des Cafés, koenne ich trinken was ich wolle. Ich bin doch kein Zootier und sage, sie solle bloss Espresso bringen. Sie spricht aber mit “der Administration” und schlaegt folgende salomonische Loesung vor: Sie koenne den Ararat in einer Tasse servieren, so dass niemand sieht, was trinke. Wir lachen beide ueber diesen komischen Unsinn.
Aber ich will meinen Spass und stimme zu. Ich will in heiterer Laune Russisch lernen, moechte einen Artikel aus der “Komsomoskaja Pravda”, der ehemaligen kommunistischen Jugendzeitung, lesen: “Potshemu Evrope nje nuschen Bog?”- “Warum braucht Europa Gott nicht? Triumphiert die Liberalitaet oder der Anti-Christ?” wird bereits auf der Titelseite gefragt.
Kommentare geschlossen.