Saratov – gorod c dushoi

In jedem Interview die gleiche Frage: Warum gefaellt Ihnen Saratov? Und jedes Mal die gleiche Verlegenheit. Weshalb empfinde ich hier so oft Dankbarkeit, in Berlin aber fast nie? Saratov ist wie gemacht fuer mich, die Stadt kommt meinem Beduerfnis entgegen, beschaulich und intensiv zu leben. In Deutschland ist das Leben gleichfoermiger, weniger partisanisch, man muss nicht listig sein, um ueberleben zu koennen. Die Arbeitswelt diszipliniert die Menschen dort viel staerker als hier; die Bereitschaft, sich vergessen zu koennen, ist selten und gerade mal unter Schachspielern anzutreffen. Ausserdem ist man hier hoeflicher, man bohrt nicht in den Wunden des anderen, sondern beschenkt sich mit Komplimenten.

Natuerlich bin ich hier privilegiert, viele Tueren oeffnen sich, weil man mir gern hilft, mich seit langem kennt. „Das Volk“ ist witziger, weil ihm das denken nicht von den Medien abgenommen wird, weil es weniger entmuendigt ist, die Industrialisierung des Bewusstsein langsamer voran schreitet. Man weiss sich als Gast im eigenen Leben, nicht als Okkupator.

Ich habe zum Beispiel einen Menschen getroffen, der 6 Jahre im Lager gesessen hat (1957 – 63), weil er Lenins „Staat und Revolution“ an der Wirklichkeit gemessen hat. Er saeuft sich gnadenlos zu Tode, schenkt mir aber im Suff noch einen hochherzigen Gedanken: „Nach dem Katholizismus kam der Protestantismus, nach diesem der Atheismus (Kommunismus und Marktwirtschaft), und heute herrscht der Satanismus.“

Er hat den tragenden Gedanken aus dem Honigdachs-Roman verstanden. Der Teufel hat gesiegt; der Kreis, der sich 1792 oeffnete, wird heute geschlossen. Das haben in Deutschland 14 von 15 professionellen Lesern nicht verstanden.

Ein Soziologie-Professor hat mir bestaetigt, dass Saratov in der Bevoelkerungsstruktur repraesentativ fuer Russland ist. Der Anteil der Usbeken, Tataren, Armenier usw. entspricht dem russischen Durchschnitt. Eben deshalb gefaellt mir diese Stadt, sie protzt nicht, sie darbt nicht, sie hat aber einen enormen kulturellen Reichtum (Philarmoni, Oper, Konservatorium, Radistshev-Museum); viele Kuenstler leben hier. Ich habe zwei „Spektatel“ gesehen, war zu einer Ausstellungseroeffnung eines befreundeten Malers. Leider war wieder keine Zeit, nach Chvalinst zu fahren, der Kuenstlerstadt, die nach Honig riechen soll, und von der alle schwaermen. Ich habe bequem gewohnt, hatte eine Wohnung im Zentrum, die mir ein befreundeter Schriftsteller kostenlos ueberlassen hat.

Und sogar die Liebe kam angetanzt, um es steif zu formulieren; die Naechte waren nicht nur auf Grund der hohen Temperaturen heiss (der Gouverneur hat den Notstand ausgerufen).

Zu schnell vergeht die Zeit hier, in Trauer muss ich Abschied nehmen. Die grosse Hitze war etwas unangenehm, der Gouverneur hat den Notstand ausgerufen.

Doch immerhin gibt es noch eine gute Nachricht: Auch Deutschland will sich endlich, nach Italien und Spanien, fuer eine visafreien Verkehr zwischen Russland und der EU einsetzen.
http://www.russland-news.de/merkel_verspricht_hilfe_bei_fragen_der_visafreiheit_27374.html

Foto: Der Erfolg in deinen Haenden, Reklame einer Wahrsagerin

Themen: Tour de Wolga

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