Das Ego im Feuer (2)

Sieben Uhr sitze ich wieder auf dem Sattel. Der Tag koennte heiter werden, denn ich muss durch die Steppe querfeldein fahren, hier gibts keine asphaltierten Strassen, und ich will Kilometer schrubben, um morgen abend am Don zu sein, bei der freundlichen Familie, die mich auf der Hinfahrt beherbergt hat.
Das erste Dorf ist noch leicht zu finden, ich erkenne den Brunnen und die Kirche, die ich vor drei Wochen fotografiert habe; die Fotos wurden inzwischen in einer Saratover Zeitung veroeffentlicht. Doch hinter dem Dorf biege ich schon falsch ab, Feld ist nicht gleich Feld und Waeldchen nicht gleich Waeldchen; ohnehin verdampfen die Gedanken bei diesen Temperaturen.
Ich gelange auf das Gelaende eines Kolchos, Arbeiter stehen im Getreidenebel, der Boden ist hart und verkrustet, eingedrueckte Glasscherben spiegeln die Sonne, und ich fuerchte um meine Reifen. Ein kurzes Gespraech, mir wird die Richtung gezeigt – zunaechst den Traktorspuren entlang, dann dem Pfeifen der Maeuse folgen. Ich schliesse die Augen und vertraue der Nase und den Ohren und glaube an meinen guten Stern.
Und tatsaechlich, der siebente Sinn hilft. Hinter zwei Seen – beide zu schmutzig, um ihnen zu baden – liegt das naechste Dorf, ich will mich als treuer Kunde erweisen und wieder mit der Verkaeuferin schwatzen, mit der ich auf der Hinfahrt geredet habe, doch ihr Geschaeft ist geschlossen. Das zweite Geschaeft ist moderner, auch kuehler; ich trinke nur Wasser und esse einen Apfel und drei Waffeln; bei dieser Hitze belastet feste Nahrung den Magen nur.
Nach weiteren 40 oder 60 oder 80 km esse ich dann einen Fisch, ein Stueck Brot dazu, zwei Tomaten … noch ein Eis irgendwann.

Die Zeit in Saratov war so intensiv, ich koennte noch Wochen davon zehren, ohne etwas zu vermissen, koennte in tote Landschaften sehen, mit den Stimmen der Freunde im Kopf. Geradezu fantastisch erscheint es mir, wie tief ich inzwischen in diese russische Gesellschaft eingedrungen bin. Ich kenne ja alle Milieus, kenne Spekulanten und Schlaeger, Drogendealer und Drogenfahnder, Philosophen und Schriftsteller, Maler und Ueberlebenskuenstler, Nazis und brave Studentinnen; kenne die Kultur der doppelten Buchfuehrung – unvergessen das Gelaechter eines Staatsanwalts nach meiner Frage, ob denn im Kampf gegen Korruption inzwischen Erfolge zu verzeichnen seien. Dabei ist das, was unter dem Wort Korruption subsumiert wird, oft nur die List der Vernunft, die sich gegen unerfuellbare Gesetze wehrt, wie selbst der Praesident kuerzlich eingestand.
Man muss sich nur vorstellen, dass Russland etwa 50mal groesser als Deutschland ist, aber nicht einmal doppelt so viele Einwohner hat, dann bekommt man eine Ahnung davon, wie schwer das Land zu regieren ist. Von der westlichen Borniertheit gegenueber den apokalyptischen Verhaeltnissen mag man gar nicht reden, es genuegt ja das simple Argument, das alles, was Russland angekreidet wird, in der Ukraine in mindestens dem gleichen Masse anzutreffen ist, nur dass dort auch in den Regierungsaemtern die Diebe einander abloesen.
Putin und Medwedew leisten Sysiphosarbeit. Putin hat, wie Gerhard Schroeder richtig bemerkte, die Staatlichkeit wieder hergestellt. Ihm vorzuwerfen, er habe eine „Politik der Machtvertikale“ betrieben, verkennt, welche Alternativen droh(t)en und welche Grossfuersten sich in den Provinzen tummeln.
Unvergessen auch das Gespraech, dass ich waehrend einer Schiffsreise auf der Wolga mit einer Bibliothekarin aus Perm fuehrte, die ehrlich empoert war ueber die ewigen Russlandklischees in der deutschen Presse, die tendenzioese Berichterstattung. Sie habe, erzaehlte sie, mit einem deutschen Reporter gesprochen, der zugegeben habe, sich der Politik seiner Redaktion unterordnen zu muessen und nicht das schreiben koenne, was er fuer die Wahrheit halte. „Bei uns wuerde man in diesem Fall fuer eine andere Zeitung arbeiten!“. Wie schoen, von einer Russin ueber Pressefreiheit belehrt zu werden.
Aber Journalisten sind ja arme Schweine, die Ausgebeutetsten unter den Ausgebeuteten, weil in dieser angeblich so freien Marktwirtschaft dem Gesetzgeber die Interessen der freien Berufe gaenzlich unbekannt sind. Dies wird immer wieder gern mit der fehlenden statistischen Relevanz der Kreativen begruendet; die Autoindustrie ist aus der Sicht der Herrschaft wichtiger. Dabei betraegt der Anteil der Autoindustrie am BIP 3,1 %, der Anteil der kreativen Industrien 2,6 %, der Anteil der chemischen Industrie 2,1 %.
Nun gut, die Sonne wird weiter scheinen, die Nebengeraeusche der Ideologien werden verklingen …

Themen: Tour de Wolga

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